Vergangene Woche erschien auf kress.de ein Bericht über die Chefredakteurin des Lifestyle-Magazins "Grazia" aus dem Hause Gruner und Jahr. Claudia ten Hoevel hatte nach Rückkehr aus ihrer Elternzeit angekündigt, ihre Position weiter zu behalten und auch ihr Kind noch sehen zu wollen. Wie kress.de heute Mittag meldet, ist ihr Arbeitgeber für solch ein Ansinnen abernoch nicht weit genug: Für die zwölf Monate, in denen ten Hoevel nicht in Vollzeit arbeiten will, darf sie nun als "Herausgeberin und Brand Ambassador" für "Grazia" "vermarktungsorientierte Termine" wahrnehmen. Das klingt nach Abstellgleis. Die Leitung der Redaktion übernimmt der Gründungs-Chefredakteur von Grazia, Klaus Dahm - alleine.
Im Jahr 2016 scheint es also immer noch unvorstellbar, dass man eine Redaktion mit reduzierter Stundenzahl leiten kann. Auch Bülend Ürük, Chefredakteur von kress.de, hatte das hier angezweifelt: "Kann eine Kaufzeitschrift in Teilzeit geführt werden? Oder braucht eine Redaktion doch eine Führungskraft, die mit ganzer Kraft an Bord ist?"
Es gab zu Recht einige harsche Reaktionen darauf, in den Sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook oder auch unter anderem von Lisa Seelig bei Edition_F. Dass niemand auf die Idee käme, die Führungsfähigkeit eines männlichen Chefredakteurs und jungen Vaters in Frage zu stellen, ist nur der eine Punkt. Dabei lassen doch auch die Väter vermehrt hören, sich mehr Zeit für die Familie nehmen zu wollen. Noch ärgerlicher ist die Unterstellung, eine Teilzeitführungskraft mit Kind sei nicht "mit ganzer Kraft" an Bord. Sie offenbart überholte Rollenvorstellungen und wenig Vorstellungsvermögen in Bezug auf innovative Führungskonzepte. Es hat sich vielleicht noch nicht herumgesprochen, aber es gibt durchaus Familien, in denen der Mann der Frau "den Rücken frei hält".
Aber Claudia ten Hoevel wollte ja offenbar mehr - sie möchte, so heißt es bei Bülend Ürük, "ihr Amt behalten, aber mehr Zeit mit ihrem Kind verbringen". Und so abseitig die Mutmaßungen von Ürük auch herüberkommen - er bringt leider genau die Zweifel zum Ausdruck, die sicher viele Verantwortliche teilen und hinter vorgehaltener Hand auch äußern. Die aktuelle Entscheidung von Gruner und Jahr spricht Bände. Was die "Grazia"-Chefredakteurin da angekündigt hatte, wäre ja gemessen an der Realität in deutschen Medienhäusern tatsächlich eine kleine Revolution gewesen: Führung in Teilzeit. Und beobachtet man den Alltag in den Redaktionen, ist die Frage fast schon wieder berechtigt, ob das eigentlich gut gehen könnte.
Aus eigener Erfahrung: Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass Führung in Teilzeit funktioniert und im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit von Verlagen wie Gruner und Jahr auch ein gefragtes Modell sein wird. Wichtig ist, dass die Rahmenbedingungen stimmen.
Dazu gebe ich gerne ein paar Tipps, die auch in anderen fortschrittlichen Unternehmen schon viel möglich gemacht haben:
1. Vereinbarkeit wollen ist nur der Anfang - sie muss im gesamten Unternehmen gelebt werden, und zwar von Männern und Frauen.
2. Job und Familie stellen unterschiedliche, oftmals widersprüchliche Anforderungen an Mütter und Väter, die sich zudem noch verändern. Diese immer wieder auszubalancieren ist machbar, wenn man darüber reden kann.
3. Führungskräfte sind Vorbilder - gerade sie sollten sich für neue Arbeitsmodelle öffnen. Top-Sharing, also die Besetzung einer leitenden Position mit zwei fitten Köpfen, ist eine Alternative zum herkömmlichen Modell.
4. Wer vorausschauend plant, muss nicht immer vor Ort sein, damit der Laden läuft. Wichtig ist, in entscheidenden Situationen für sein Team da zu sein und klare Vorgaben zu machen.
5. Als Führungskraft in Teilzeit muss man delegieren können und dürfen - sonst wird das Modell zum Etikettenschwindel. Schon bevor die Elternzeit beginnt, sollte geprüft werden, welche Aufgaben von Kolleginnen oder Kollegen übernommen werden können - mit genug Zeit für die Übergabe.
6. Lasst das gesamte Team von familienfreundlichen Arbeitszeiten profitieren, auch die Männer - viele Widerstände lösen sich dann in Luft auf. Meetings bis in den späten Abend nerven auch die, die keine Kinder haben.
7. Nutzt die Flexibilität digitaler Kommunikationsmedien - wenn die Mitarbeiter darauf eingespielt sind, lässt sich vieles regeln, ohne dass man face-to-face miteinander spricht.
Nicht zu vergessen ist, dass jede Führungskraft mit Kind noch ein weiteres Team hat, das sich auf die Herausforderungen einlassen muss, nämlich die Familie zuhause, allen voran der Partner oder die Partnerin. Zu diesem Thema empfehle ich das Buch von Stefanie Lohaus (zusammen mit Tobias Scholz), der Chefredakteurin von Missy Magazine: "Papa kann auch stillen".
Nicola Wessinghage
Unsere Gastautorin: Nicola Wessinghage leitet zusammen mit Marcus Flatten die PR-Agentur Mann beißt Hund in Hamburg. Beide haben jeweils zwei Kinder und teilen sich die Geschäftsführung. In ihrem Blog "InKladde" schreibt Nicolas Wessinghage unter anderem zum Thema Vereinbarkeit.
Und jetzt Sie! Ist ein Top-Job in Teilzeit machbar? Oder bleibt er in Redaktionen ein Traum? Kommentieren Sie direkt unter diesem Bericht oder senden Sie uns Ihre Erfahrungen per Email zu: post@kress.de!
Kommentar hinzufügen ×
Hinweis zu Ihrem Kommentar
Die Beiträge nicht eingeloggter Nutzer werden von der Redaktion geprüft und innerhalb der nächsten 24 Stunden freigeschaltet.
Wir bitten um Ihr Verständnis.