"Kann eine Springmaus in einem Schildkrötengehege glücklich werden?", fragt Wolf Lotter in seinem Buch "Innovation". Springmäuse sind die Querdenker in einer Redaktion, doch dienen sie nur dem Systemerhalt, meint er und listet all die Typen auf, die oft fälschlich als Innovatoren gelten: Neben den Querdenkern sind es die Rebellen, die nur zerstören wollen und nicht in eine offene Wissensgesellschaft passen; ebenso untauglich sind Idealisten, die keine Zweifel kennen, sowie Visionäre und Utopisten: "Weltverbesserer mit Methode sind ausgesprochen gefährliche Leute, deren Planung von Paradiesen regelmäßig in die Hölle auf Erden führt." Jeder kennt diese Typen: "Wir haben es also mit gemeingefährlichen Irren oder nützlichen Idioten zu tun."
Ich sprach mit Wolf Lotter, der in seinem Buch nicht auf Disruption, auf Zerstörung setzt, sondern auf Störung, die auf Defizite und Defekte hinweist, auf Regeln, die nicht mehr passen.
"Deutschland lebt von der Vergangenheit. Wir frühstücken sie ab", schreiben Sie. Das trifft auch auf den Journalismus und die Journalisten zu: Was muss verschwinden?
Wolf Lotter: Verschwinden muss der Korporatismus. Politikjournalisten glauben, die besseren Politiker zu sein - und als Prüfkriterium gilt, was auf dem Flur und in der Kantine gesagt wird. Bei Wirtschaftsjournalisten läuft es oft nicht anders. Korporatismus ist schlecht, weil er bloß nach innen denkt. Offenheit ist dagegen gut. Offene Gesellschaften brauchen offene Redaktionen, und das heißt: Unterschiedliche Positionen. Das gilt auch für politische Einstellungen. Wenn alle Redaktionen einer Meinung sind und man auch noch Konsens herstellen will, dann: Gute Nacht! Dann sollte man tatsächlich eher für eine Partei oder eine NGO Pressearbeit machen. Journalismus ist Überraschung und Unberechenbarkeit.
Viele Journalisten und Medienmenschen fürchten, so schreiben Sie, mit der nächsten Innovationswelle überflüssig zu werden. Ist das ein unabwendbares Schicksal? Müssen sie wie Kaninchen vor der Schlange stehen, die Digitalisierung heißt, und darauf warten, verspeist zu werden?
Nein, Journalisten können viel gegen diese Effekte tun. Am Wichtigsten wäre: rausgehen! Und noch einmal: Durch die zuweilen selbstreferenzielle Sicht der Welt und ihrer Entwicklungen wird die Distanz zwischen Journalisten und ihrem Publikum immer größer. Wenn es im engeren sozialen Milieu auch mal Widerworte gibt, halten das viele - nicht nur junge - Journalisten nicht so gut aus. Beruf verfehlt! - kann man da nur sagen. Es braucht mehr Reportergeist - mehr Kisch als Kuscheln.
"Zentralisierung und neue Vereinheitlichung ist die falsche Antwort", ist zu lesen. Machen also Verlage alles falsch, die Redaktionen zusammenlegen, um zu retten, was noch zu retten ist?
Ja, Zentralisierung ist keine wirkliche strategische Änderung, sondern verharrt noch in der gleichen Denke und Kultur. Die ist das eigentliche Problem. Kulturelle Innovation ist mehr als Sparen, Controlling und Zentralisieren - zuweilen sogar das genaue Gegenteil davon. Aber das haben eben viele gelernt.
Viele Redaktionen gehen, wenn Veränderung angesagt ist, im Schneckentempo. Brauchen wir nicht einen schnellen, grundlegenden Wechsel?
Ich bin kein Freund von Revolutionen, weil sie bloß Scheinveränderungen sind. Man haut drauf ohne Ziel und Sinn - und dann ist nach der Revolution vor der Revolution. Was zu lernen wäre, ist strategisches, also wirklich langfristiges Denken. Wer sind wir? Was liefern wir? Selbstbestätigung in Form von vorgefassten Meinungen? Das ist leicht kopierbar. Nachrichten, Shortcuts? Das kann fast jeder. Die Frage ist also: Wem nütze ich mit meiner Arbeit? Das ist eine Entwicklungsfrage, also eher ein langsames Geschäft.
Selbst wer langsam erneuern will, hat es oft schwer in Redaktionen. Wie stellen es die Erneuerer am besten an?
Das geht nur, wenn es zwischen Innovatoren und Ermöglichern - etwa einer Chefredakteurin und ihren Autoren - eine solide Beziehung gibt, wenn man weiß, was man voneinander will und das auch umsetzt. Das zweite Standbein ist der Markt, das Publikum. Es ist immer besser, sich bei dem unersetzlich zu machen als bei irgendjemanden sonst in unserem Geschäft.
Sie arbeiten bei "Brand Eins", deren Gründung für viele in der Branche ein Vorbild ist, für Innovation. Ist Brand Eins wirklich innovativ? Immer noch so innovativ?
Kann ich nicht sagen, man sieht sich selber nicht. Generell: Es gibt diesen Satz, man erfindet sich selbst immer wieder neu. Wenn damit Entwicklung gemeint ist: Prima! Wenn damit Aktionismus gemeint ist: Nein! Ich glaube auch nicht, dass die Gründungsphase immer die kreativste ist. Sie ist die bunteste im Sinne der vielfältigsten, und daraus kann schneller Innovation entstehen als bei stabilen Projekten, wo die Gefahr des Mitmachens und Eingenordet-Werden groß ist.
Wie erhält man den Schwung? Wie erneuert man sich selber immer wieder?
Indem man sich treu bleibt. Zukunft braucht Herkunft. Oder anders: Wenn man selbstmotiviert und selbstbestimmt denkt, hat man das Erneuerungsproblem schon mal vom Hals, weil jedes Thema, jede Geschichte ein Neuanfang ist, um Leute für den Text und seine Idee zu gewinnen.
Wer Mut schöpfen will: In welchen Redaktionen und Projekten soll er sich umsehen? Welche Strategien verfolgen?
Ich halte es grundsätzlich für richtig, sich nicht zu früh bestehenden Redaktionen und Kulturen anzuschließen, sondern erst mal versuchen, was man selbst auf die Beine stellen kann. Selbständigkeit - der Freie - hat einen schlechten Ruf in Deutschland, aber andererseits sehe ich hier die größten Potenziale. Die richtige Strategie ist Selbermachen; wenn man dann Gleichgesinnte findet, ist das prima. Aber es ist für Journalisten wichtig, nicht zu viel Nähe zu sozialen Systemen zu haben, die ihre eigene Referenz herstellen, und nicht zu viel Distanz zu denen, die einen Nutzen - Erkenntnis, Orientierung, Information - aus der journalistischen Arbeit ziehen wollen. Macht euch nützlich!
Sollten Redaktionen also wie Freie arbeiten, um sich in der Digital-Ära optimal zu organisieren? Wie soll das gehen?
Ganz einfach: So viel Freiräume wie möglich, so viel Selbständigkeit wie möglich - als durchgängiges Arbeitsprinzip.
Was bleibt vom Journalismus, wenn er sich erneuert hat?
Das alte Interesse daran, dass einem jemand dabei hilft, die Welt zu verstehen - und zwar durch eigenes Denken. Journalismus überlebt, wenn er sich auf seine Kerntugenden zurückzieht, die Unterstützung eines "interessierten Publikums" bei der selbständigen Meinungsbildung. Also nicht: Den Leser oder sonstwen irgendwo abholen, auch nicht glauben, man habe ihn zu erziehen, sondern überraschende, nicht gleich sichtbare Zusammenhänge zeigen. Eine komplexe Welt steckt voller Überraschungen. Was wir nicht brauchen ist kollektives Denken und kollektives Antworten, sondern Pluralismus in Wort und Tat. Einfaltsjournalismus, auch dort, wo er sich als Qualitätsjournalismus missversteht, wird letztlich nicht gebraucht, Vielfaltsjournalismus immer.
Chefredakteure und Manager, die verändern wollen, verpflichten gerne Berater...
... von denen einige Propheten des Schreckens sind. Sie bieten zugleich ihre teuren Lösungen an; wenn sie dann scheitern, sind die Seminare und Bücher längst bezahlt und sie zur nächsten Angstmacherei weitergezogen.
Ihr Prophezeiung, ohne Schrecken: Wie erleben wir Journalismus in fünf oder zehn Jahren?
Vielfältiger, streitlustiger, weitaus differenzierter als heute - und selbstbewusster als je zuvor. Das kritische, selbständige Denken kriegt niemand klein.
Den Soundtrack zur Innovation liefert Lotter in seinem Buch gleich mit, zumindest in Textform: Bob Dylans "The Times They Are a-Changing".
Leseprobe
Innovationen sind nicht rein technischer Natur. Es ist eben nicht alles nur eine "Frage der Technik", wie es das Marketing und die Werbung gern suggerieren. Technische, soziale und kulturelle Innovationen gehören zusammen. Eines bedingt das andere. Wo Menschen beispielsweise durch Wohlstand mehr Freiräume und Individualität einfordern, entstehen durch die damit verbundenen sozialen und kulturellen Erneuerungen auch neue technische Lösungen. Der Personal Computer, die Smartphones und Tablets von heute sind nur ein Beispiel dafür.
Das Ziel aller Methoden und Werkzeuge, die Menschen im Laufe der Kulturgeschichte erfanden, war die Erleichterung von Arbeit, letztlich die Befreiung davon. Deshalb sind uns Routinen auch so wichtig und nehmen eine zentrale Rolle in unserem Denken ein. Wir brauchen sie. Aber müssen wir uns deshalb von ihnen einspannen lassen? Nein. Das Ziel lautet von jeher: Die Arbeit, die sich wiederholende, stupide, schwere, nervtötende Arbeit, sie soll sich von selbst machen.
Das deutsche Wort Arbeit leitet sich vom germanischen arbaipisab, das bedeutet so viel wie Leiden, Mühsal und stand auch als Begriff für Sklaverei. Automatisierung ist deshalb eine zentrale Kulturtechnik, die Innovation der Innovationen, vielleicht die wichtigste überhaupt, die durch Automaten, Maschinen, Software, Algorithmen, Methoden und immer neue Systeme vorangetrieben wird. Das Schlagwort der Digitalisierung ist nur Teil dieser gewaltigen Innovation.
Das eigentliche Projekt allen Fortschritts heißt: mehr Freiraum. Mehr Zeit für sich selbst. Wenn es einen Sinn der Innovation gibt, dann diesen. Der schwedische Autor Johann Norberg hat in seinem Buch "Progress" (Fortschritt) die Entwicklung des Neuen in den vergangenen Jahrhunderten als "Triumphzug der Humanität" bezeichnet.
Innovation hat die Welt de facto besser gemacht. Wissen wir das noch? "Wenn wir vergessen, dass es Fortschritte gibt, und übersehen, wie weit wir es gebracht haben, dann bringen wir alles in Gefahr", schreibt Norberg. Diese Gefahr ist weltweit groß, und sie ist in Deutschland vor allem unter den Eliten präsent, die fürchten, mit der nächsten Innovationswelle überflüssig zu werden - dazu gehören ganz besonders auch Journalisten und Medienmenschen (zu denen auch der Autor zählt), die ohnehin zur "Zuspitzung" neigen, also zur Übertreibung.
Eine Innovationskultur, die etwas taugt, weist nach vorne und weiß, was vorher war. Wir brauchen - im Sinne Karl Poppers "Offener Gesellschaft" - keinen Historizismus, sondern den Realismus des Gestaltenwollens. Nichts ist vorherbestimmt oder Schicksal. Dazu braucht man aber, das Allerwichtigste, nicht nur Innovatoren in Technik und Kultur, Sozialem und Politischem, sondern Alltagsinnovatoren, Bürger, die selbstbewusst und selbstbestimmt handeln. Immer wieder herausfinden, was richtig ist, das ist Innovation. Es ist ein endloses Spiel mit besseren Möglichkeiten und Chancen. Eine Verhandlungssache mit offenem Ausgang.
Der Stoff, aus dem das Neue ist, wird gewebt in Tätigkeit, Versuch und Experiment. Seine Festigkeit, seine Kontur geben wir dem Neuen selbst. Der Leitsatz dieser neuen Innovationskultur ist eine Erfolgsformel, über 200 Jahre alt. Der Physiker Georg Christoph Lichtenberg hat sie aufgeschrieben: Das Neue kann man nur sehen, wenn man das Neue macht. (aus dem Vorwort)
Der Autor
Paul-Josef Raue gründete zusammen mit Gabriele Fischer "Econy", den Vorläufer von "Brand Eins". Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Erfurt, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main, Marburg und Eisenach, wo er die erste deutsch-deutsche Zeitung gegründet hatte. Mit Wolf Schneider gibt er bei Rowohlt das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus. Vor kurzem erschien "Luthers Sprach-Lehre", und gerade kommt bei Klartext die Biografie des Genossenschafts-Gründers heraus: "F. W. Raiffeisen: Ein Leben für eine gerechte Gesellschaft". Wenn er nicht schreibt, berät Raue Verlage und Redaktionen, speziell Lokalredaktionen, und lehrt an Hochschulen in Trier, Berlin und Salzgitter.
Exklusive Storys und aktuelle Personalien aus der Medien- und Kommunikationsbranche gibt es von Montag bis Freitag in unserem Newsletter "kressexpress". Kostenlos abonnieren.
Kommentar hinzufügen ×
Hinweis zu Ihrem Kommentar
Die Beiträge nicht eingeloggter Nutzer werden von der Redaktion geprüft und innerhalb der nächsten 24 Stunden freigeschaltet.
Wir bitten um Ihr Verständnis.