Werner Lauff blickt auf "das Medienjahr 2013"

Traditionell wagt Werner Lauff zwischen den Jahren für kress.de eine Prognose auf das, was die Medien zukünftig bewegen und beeinflussen wird. Das Herausfordernde an der Digitalisierung sei, dass die (Medien-) Konsumenten ihre Maßstäbe an Relevanz, Nutzen und Interaktion nach und nach ausdehnen würden, schreibt der Unternehmensberater und Publizist. Wer dem nicht Rechnung trage, habe keine Chance.

Marc Bartl | 27. Dezember 2012 um 11:35

Werner Lauff sagt, auf was es im "Medienjahr 2013" ankommt

Es gab eine Zeit, in der sagten Berater voraus, die Medienlandschaft werde sich komplett ändern. Viele digitale Spartenkanäle würden entstehen. Die Fernsehnutzung werde atomisiert. Die Bedeutung linearer Programme nehme ab. Pay-TV habe in on-Demand-Zeiten keine Chance mehr. Im Wohnzimmer regierten künftig Videoserver. Mobile Bildschirme würden Printmedien ersetzen. Spielkonsolen seien Kandidaten des Abstiegs. TV-Gerätehersteller würden arbeitslos. Und das IP-Protokoll sei der Tsunami der Medienwelt.

Prognosen wie diese waren wenig hilfreich, weil der komplette Wechsel von Nutzerverhalten und "gelernten" Geschäftsmodellen nach menschlichem Ermessen selbst durch die Mega-Innovation der Digitalisierung nicht zu erwarten war. Außerdem schufen die Voraussagen trügerische Sicherheit. Zum einen bei denen, die um ihren Anteil an der Wertschöpfung fürchteten, dann aber zufrieden resümierten, es sei und werde alles nicht so schlimm. Zum anderen bei Change-Optimisten, die kräftig in neue Projekte investierten, um dann enttäuscht zurückzurudern.

Richtig ist: Der Medienbereich verändert sich. Verursacher sind die zunehmende Erschließung der Republik mit Breitband-Internet, Geschwindigkeitssprünge bei der mobilen Datennutzung, die Vervielfachung der Leistungsfähigkeit von Prozessoren, Displays und Akkus, der Trend zu fairen Preis-Leistungs-Verhältnissen bei Hardware und Datennutzung, der Dauerboom bei Smartphones und Tablet-PCs, die zunehmende Verbreitung von Betriebssystemen mit dem Schwerpunkt auf "user experience" und der allmählich auch in Deutschland einsetzende Siegeszug der E-Reader.

Die Ausstrahlungswirkung der Digitalisierung

Aber: Die wirklich bedeutenden Wirkungen dieser Entwicklungen sind bislang lediglich intramediärer Art. Viele Menschen werfen ihren PC nicht mehr an, um E-Mails zu checken oder etwas im Web zu suchen - dafür nutzen sie immer öfter Smartphones oder Tablet PCs. Die Folge: Umsatzrückgänge der PC-Industrie. Selbst eingefleischte Fans der Tastensteuerung von Mobiltelefonen und der Push-Dienste des Blackberry wandern zu den "smarteren" Oberflächen von iOS und Android ab. Die Konsequenz: Nokia und RIM sind in Not. Die zunehmende Leistungsfähigkeit der Backbones macht die letzte Meile ein Stück unwichtiger und ermöglicht es, "over the top" entgeltpflichtige Dienste zu verbreiten. Das Resultat: Netzbetreiber kehren, nach hoffnungsfrohen Ausflügen in die Welt der Inhalte-Aggregation, notgedrungen wieder in die Rolle von Transportunternehmen zurück. Dabei penetrieren einige die These, mehr als "best effort" koste künftig Geld - da bahnt sich dann gleich ein neues Geschäftsmodell an.

Wer wissen will, wie die Sache intermediär aussieht, muss viel genauer hinschauen. Die Insolvenz der Frankfurter Rundschau hat kaum etwas mit dem Internet zu tun und ist auch nicht Vorbote eines allgemeinen Zeitungssterbens - Schuld waren die unklare Verortung der Zeitung zwischen lokal und national, die Übernahme durch M. DuMont Schauberg ohne durchschlagend neues Konzept und die Nervosität der SPD-Medienholding. Die Einstellung der Financial Times Deutschland sagt uns logischerweise ebenfalls nichts über die Medienzukunft. Schon das Grundinvestment von Gruner & Jahr war strategisch bedingt, weil mit Übernahmen im TV-Bereich verknüpft; später wunderten sich Abonnenten jeden Tag darüber, dass es die stets defizitäre Zeitung noch gab. Auch dass Helmut Thomas Rahmenprogramm für lokale Fernsehsender bislang ausbleibt, kann nicht als Indiz für niedergehende Märkte herhalten - lokales Fernsehen ist ein ewiges Problem und seine Bündelung sicher keine Erlösgarantie. Auch in der Internetwelt muss Hausgemachtes von Digitalmüdigkeit unterschieden werden. Dienste wie StudiVZWunderkit und Napster wurden nicht deswegen notleidend, weil ihre Nutzer plötzlich wieder persönlich kommunizieren, Papier und Bleistift benutzen oder die Schallplattenläden bevölkern; auch insofern gibt es keine unmittelbare intermediäre Wirkung.

Beide Bereiche haben aber eine entscheidende Gemeinsamkeit. Das Herausfordernde an der Digitalisierung ist intra- wie intermediär, dass die (Medien-) Konsumenten ihre Maßstäbe an Relevanz, Nutzen und Interaktion nach und nach ausdehnen. Innerhalb der traditionellen IP-Welt aus PCs und mobilen Geräten kann man das besonders gut beobachten. Amazon hat mit seinem hohen Liefertempo und seinen kulanten Rückgabebedingungen einen Standard geschaffen, den kein anderer E-Commerce-Anbieter mehr unterschreiten kann. Apple und Google haben für Apps so einfache accountorientierte Installationsmechanismen und Bezahlsysteme eingerichtet, dass der Markt für kleinere App-Plattformen zusammengebrochen ist. Google hat Kerngeschäfte und Zusatzangebote so geschickt verzahnt, dass Nutzer aus einer Hand mit Diensten versorgt werden. Wer jetzt noch Newsaggregation, Kalenderfunktionalität, Videoabruf oder Kartensoftware anbieten will, steht vor unüberwindlichen Hürden. Das führt, nebenbei gesagt, zur bitteren Erkenntnis: The winner takes it all - es ist nur eine Frage der Zeit.

Relevanz, Nutzen, Interaktion - wer in der IP-Welt den gewandelten Maßstäben nicht Rechnung trägt, hat keine Chance. Das gilt auch, wenn sich klassische Medien in ihr bewegen; alles andere als Höchstleistung ist keine Option. Die ZDF-Mediathek-App auf Android-Geräten hat über 3.000 nahezu vernichtende Kritiken erhalten, von "immer noch peinlich schlecht" bis "komplett unbrauchbar". Das Ergebnis ist nicht etwa, dass Nutzer in den sauren Apfel beißen und die App trotzdem benutzen - sie verzichten einfach darauf. Ähnliches gilt bei entgeltpflichtigen Diensten. Das "Prinzip Kostenlos" ist im Nutzerkopf längst als Errungenschaft vermerkt. Apps, Filme und Musik profitieren zwar noch vom Umstand, dass es PC-Software, die DVD und die Audio-CD nie entgeltlos gab. Aber TV-Sendungen, Radiokanäle und Webauftritte, von wem auch immer, sind inzwischen praktisch untarifierbar, ähnlich wie Übersetzung, Routing, Internet-Telefonie und Speicherplatz in der Cloud.

Das Spannende ist: Die Maßstäbe, die das Internet setzt, sind so dominant, dass sie zunehmend auch auf die klassischen Medien übertragen werden. Das ist die Ausstrahlungswirkung der Digitalisierung: Relevanz, Nutzen und Interaktion werden zu Prüfsteinen der gesamten Medienwelt.

Den ganzen Tag für die Nutzer da

Besonders betroffen sind davon lokale und regionale Zeitungsverlage. Sie verlieren weiter Abonnementerlöse und Werbekunden. Ihre Apps sind noch immer auf die Abbildung der Print-Produkte fokussiert. Im Web verschenken sie Inhalte der gedruckten Zeitung. Und wie auch immer der Streit ums Leistungsschutzrecht ausgeht: Massive Erlöse sind bei der jetzt geplanten reduzierten Gesetzesfassung nicht zu erwarten.

Die für 2013 geplante Image-Kampagne mit Grey und die kürzlich vereinbarte bundesweite Anzeigenkombi großer Zeitungen mögen zur Milderung des Problems beitragen. Aber viele Beobachter vermissen bei vielen Verlagen überzeugende Zukunftsstrategien.

Stichwort "Relevanz": Immer mehr Menschen gehören zur Gruppe derer, die sich "on demand" und "sozial" informieren. Für sie ist eine lokale Tageszeitung erst dann relevant, wenn sie etwas enthält, was niemand versäumen darf, wenn sie fundierte Anstöße gibt, nach guter Recherche Diskussionsstoff produziert, durchdachte Meinungen transportiert. Bislang löst kaum ein gedrucktes Medium aus, was E-Mail, SMS und Social Media bewirkt haben: die nahezu körperliche Sucht nach dem Wissen um das Mitgeteilte. Das wäre der Traum jedes Verlegers, dass sich Leser so auf die Zeitung stürzen wie Besitzer eines Smartphones auf ihren Posteingang. Andererseits: Wer sagt eigentlich, dass das nicht möglich ist? Natürlich geht das nicht, wenn man benötigtes Personal streicht, Volontäre ohne Berufserfahrung an die sensibelsten Themen lässt und Kulturberichterstattung mit Programmheftnähe macht. Es erfordert journalistische Qualität.

Ähnlich neu zu definieren ist der Begriff des Nutzens. Die Mitteilung an alle, dass die Stadtbücherei am Mittwoch wegen einer Betriebsversammlung früher schließt, mag ja nützlich sein, aber es ist eine Nachricht mit hohem Streuverlust. Wie wäre es denn, wenn ein Verlag seinen Lesern zugeschnittene Dienste anböte, eine E-Mail zum Beispiel an alle Büchereinutzer, einen Tweet mit der stadtteilbezogene Information über die Straßensperrung wegen Wasserrohrbruchs und eine SMS zur Verspätung des morgendlichen Pendler-Zugs? Wie wäre es, wenn der Verlag eine Plattform bereitstellte, in der Bürger sich gegenseitig helfen können - von Katze hüten bis Rasen mähen? Wie wäre es, wenn der Verlag den ganzen Tag für die Nutzer da wäre? Wäre das nicht ein toller Verlag?

Stichwort "Interaktion": Es gibt Lokalredaktionen, in denen nach 17 Uhr der Anrufbeantworter läuft, und Redaktionschefs, die ihre Leser noch nie zum Dialog eingeladen haben. In vielen Redaktionen beschränkt sich die inhaltliche Kommunikation zwischen Autoren und Lesern auf den im Jahr 1786 eingeführten Leserbrief. Wäre es nicht eine gute Idee, einen permanenten Informationsstrom in die Zeitung hinein zu ermöglichen? Facebook-Auftritte oder Kommentarfunktionen im Web können den Dialog im Kerngeschäft "Journalismus" nicht ersetzen, weil sie niemandem sorgfältiges Durchdenken und verantwortungsvolles Formulieren abverlangen (selbst den Redakteuren nicht); sie haben für beide Seiten nur einen Placebo-Effekt.

All diese journalistischen Bausteine (das Wort "redaktionell" passt schon gar nicht mehr) wären sinnvolle Innovationselemente in den Verlagen. Dazu gehört auch, mit Kooperationen untereinander Synergien zu erzielen, mit neuen Techniken wie Digitaldruck neue Produkte zu schaffen und Web, Tablets, Smartphones und eReader für ganz neue Angebote sowie für Zweitverwertungen und den "long tail" zu entdecken. Weitgehend ungenutzt ist auch das Diversifikationspotential: Ein Zeitungsverlag mit seiner lokalen Verankerung und seinen bekannten Marken kann noch viele Geschäftsideen verwirklichen. 2013 kommt es auch für lokale und regionale Verlage darauf an, das Thema "digitale non-publishing Angebote" zu entdecken, dem sich der Axel Springer Verlag und sogar Fernsehsender wie ProSiebenSat.1 (etwa bei Zalando und beim Gaming) längst gewidmet haben.

Grundversorgung und Entgeltmodell

"Relevanz" und "Nutzen" sind wahrscheinlich auch die beiden Schlüsselworte, die erklären, warum Sky auf ein aussichtsreiches Jahr 2013 schauen kann. Die Bundesliga-Rechte sind über den erwarteten Umfang hinaus erworben. Die konsequente Positionierung bei HDTV, die Einigung mit Unitymedia und Kabel Deutschland, die vorbehaltlose Unterstützung von Sky im Web und Sky als App, die Investition in Sky Sport News HD und Sky Atlantic HD, die wachsende Vielfalt der Empfangswege und -geräte, das alles gibt den Kunden von Sky Sicherheit und ein wirkliches Premium-Gefühl. Dazu kommt, dass die Abonnenten und Interessenten durch guten, wenn auch fürs Unternehmen teuren, Customer Care kompetent und schnell Antworten erhalten. Welch ein Unterschied zu Premiere! Der Start eines Abonnements war dort meist holprig, das Ende stets unschön. Premiere war Vielen im Ergebnis nur einen zeitlich befristeten Versuch wert. Sky hingegen ist für die meisten Nutzer ein eindeutiges "Must Have".

All das ist nahezu alternativlos. Ebenso wenig wie Spotify oder Simfy heute noch für jeden Musiktitel einzeln und pro Endgerät die Hand aufhalten könnten, ist es möglich, im eng begrenzten deutschen Pay-TV-Markt anders vorzugehen als Sky es macht. Diese konsequente Umsetzung von Innovation und Diversifikation macht Sky auch unangreifbar durch Apple und Google. Ja, beide können mit ihren TV-Produkten via Set Top Boxen die deutschen Fernseher erobern, aber das ist gegenüber Sky ein fernes, statisches, künstlich wirkendes Angebot.

ARD und ZDF, einst Vorreiter bei der Digitalisierung, haben sich 2012 hingegen wieder auf Grabenkämpfe eingelassen. Die Infragestellung der Einspeiseentgelte in Kabelnetze war ebenso unnötig wie das Beharren auf hohe Textanteile in der Tagesschau-App. In beiden Fällen sieht es nicht gut für die Öffentlich-Rechtlichen aus. Bei der Einspeisung könnte der Schuss sogar nach hinten losgehen: Viele kleine Kabelnetzbetreiber erhalten bislang keine Entgelte, obwohl sie ("must carry") zur Einspeisung der öffentlich-rechtlichen Programme verpflichtet sind. Sie haben jahrelang geschwiegen, aber nun, nachdem das Fass geöffnet ist, melden sie Ansprüche an. In der Sache "Umfang der Textberichterstattung der Tagesschau" ist tiefe Ungeschicklichkeit der ARD-Intendanten zu spüren. Manche ARD-Mitarbeiter geben hinter vorgehaltener Hand zu, dass die Konzentration auf Bewegtbilder und Audio den Produkten sogar gut getan hätte. Eigentlich ist das unvorstellbar: Da sitzen zig Redakteure an Rechnern und erzählen zu Hause, dass sie beim Fernsehen arbeiten, obwohl sie nur Texte schreiben, die nie über den Äther gehen.

Immerhin scheint sich bei DVB-T etwas zu bewegen. ARD und ZDF erkennen offenbar an, dass die privaten Sender bald eine wirtschaftliche Perspektive beim digitalen terrestrischen Fernsehen benötigen. Das könnte darauf hinaus laufen, dass neben frei empfangbaren Programmen über DVB-T auch grundverschlüsselte Programmpakete verbreitet werden, bei denen ähnlich wie bei HD+ ein Entgelt fällig wird. Für ARD und ZDF wäre dies die Sicherung der Nutzung aller Verbreitungswege und damit die Verwirklichung einer extensiven "Grundversorgung", für die Privaten ein weiterer Schritt auf dem Weg hin zu einem eigenen Entgeltmodell. Eine Win-Win-Situation über Systemgrenzen hinweg; das erlebt man auch nicht so oft.

Profitieren werden auch Endgerätehersteller, denn DVB-T der Zukunft erfordert neue Receiver. Ohnehin haben die Hersteller im Jahr 2012 eine bemerkenswerte Entwicklung erlebt. Nach HDTV geht der Trend in Richtung Bildschirmgröße und extrem flaches Design. Außerdem sorgte HD+ für eine weitere Belebung. Und: Smart TV, technisch HbbTV, sorgte für einen weiteren Schub nach vorn.

Ein neues TV-Erlebnis

Womit wir bei den Privatsendern wären. Sie müssen 2013 überzeugende Angebote für Smart TV und den "Second Screen" unterbreiten. Und das hat einen guten Grund: Die ungewöhnliche Rolle der Gerätehersteller, nun auch App-Hoster zu sein, führt zwar nicht dazu, dass Smart TV ins Leere läuft, aber es fehlt am nötigen Konnex zu den Sendern und den laufenden Programmen. Bloßes "Internet auf dem Fernseher" nutzt schlicht nichts, das wissen wir seit Jahren. Erst recht jetzt nicht mehr, wo es handliche Geräte gibt, die neben dem "Fernsehsessel" liegen und bei vielen immer im Gebrauch sind.

Die wirklich spannenden Apps sind die, die auf dem Fernseher neue Arten des Fernsehens ermöglichen und die auf PCs weniger gut aufgehoben sind. Für solche Apps besteht großer Bedarf. Zwar hat die Nutzung von Videos im Web deutlich zugenommen; aber 70 Prozent der Bundesbürger sehen nach wie vor ausschließlich über ihre TV-Empfänger fern. Darunter leiden die Mediatheken von ARD und ZDF sowie Dienste wie Maxdome und RTL NOWYouTube und VimeoSave.TV und Zattoo. Auch der US-Video-on-Demand-Dienst Netflix wurde erst erfolgreich, als er Partnerschaften mit Herstellern der Unterhaltungselektronik abschloss, um den Dienst ins Wohnzimmer zu bringen; mittlerweile gibt es Netflix auf über 250 Endgeräten.

Relevanz, Nutzen und Interaktion sind auch hier die maßgeblichen Stichworte. Für die Zuschauer relevant sind Apps, die Bewegtbilder enthalten, und Apps, die Bewegtbilder begleiten. Zur ersten Kategorie gehören kostenlos Catch-up-Apps, die den Abruf verpasster Sendungen der letzten 48 Stunden ermöglichen, kostenpflichtige „long tail“-Apps, mit denen man auf länger zurückliegende Sendungen zugreifen kann, und "TV plus"-Apps, die nach dem Vorbild von Zattoo und FilmOn Sender aus anderen Regionen zugänglich machen, die im jeweiligen Fernsehnetz nicht verfügbar sind. Denkbar sind auch Apps für sonstige Videosignale; das Repertoire reicht von Webcams aus aller Welt über die Live-Abdeckung von Events und lokale Fernsehsendungen bis hin zu Übertragungen von Vorlesungen, Seminaren und Kongressen.

Apps, die Bewegtbilder begleiten, bieten passend zum jeweiligen Inhalt vertiefende Videos an, zum Beispiel ungekürzte Korrespondentenberichte. Apps können auch wie virtuelle Videorekorder wirken; nach dem Vorbild der US-Box Tivo kennt eine solche App die genauen Inhalte und Genres der Filme und Sendungen. Sie bietet an, „die gleiche Sendung“ immer wieder automatisch aufzunehmen („Season Pass“); die Aufzeichnungen speichert die App in der Cloud. Machbar sind natürlich auch Tipp- und Wett-Apps, die parallel zu Sportereignissen sinnvoll sind.

Nur wer Apps baut, die Live-Fernsehen und Abrufinhalte miteinander verzahnen, wer die Nutzer in der linearen Welt abholt und immer wieder von Neuem in die nichtlineare Welt hineinführt, wird Smart TV und Anwendungen für den "second screen" erfolgreich etablieren. Apps, die auf diese Weise ein neues TV-Erlebnis schaffen, sind der Start in eine neue Epoche des Fernsehens.

Der Gottseibeiuns namens Internet

Nimmt man die etablierten Medienbranchen zusammen, stellt man fest, dass sie im Moment immer noch unsicher auf diesen "Gottseibeiuns namens Internet" reagieren. Ob Fernsehen, Hörfunk, Netzbetreiber, Print: Der Drang nach und die Furcht vor der Apokalypse ist oft stärker ausgeprägt als der Versuch des Erkenntnisgewinns. Und zuweilen mischt sich beides mit dem Gedanken, das nächste Jahr werde man schon noch überstehen, die nächste Bonuszahlung fließe wohl noch. Aber das Internet ist vor allem erst einmal Bewusstseins- und nicht Verhaltensänderer. Natürlich gibt es Nutzer, die nur noch am PC fernsehen - aber ganz wenige. Da sind Zeitungsleser, die wechseln von Print zu Elektronik, aber eine Riesenzahl ist das nicht. Es gibt Radiohörer, die verzichten auf Bayern 3 per UKW und hören jetzt nur noch Candle Light Radio via Spotify und Sonos, aber das sind wenige Freaks. Viel bedeutsamer ist das, was das Internet in den Köpfen bewirkt, was es an Ansprüchen der Nutzer verändert: Das, was Nutzer am Internet fasziniert, wird zum Maßstab für die etablierte Medienwelt. Und deswegen müssen Medien den Impuls nutzen, der vom Internet ausgeht. Sie müssen das Netz als Gewinn für alle begreifen. Sie müssen erkennen, was es wirklich ist: ein Katalysator der Innovation.


Werner Lauff, 55, ist Unternehmensberater und Publizist mit den Themenschwerpunkten Medien und Internet. Er war unter anderem Wissenschaftlicher Assistent für Medienpolitik im Deutschen Bundestag, Geschäftsführer des Zeitungsverlegerverbandes Nordrhein-Westfalen und Geschäftsführer der Bertelsmann Broadband Group. Lauff gilt als Experte für interaktives Fernsehen und das Thema "Konvergenz". Reden und Interviews unter www.lauff.org. 

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