Paul-Josef Raue zum "Journalismus der Zukunft"

Lohnt der erbitterte Streit um Gedrucktes oder Online überhaupt? Geht es nicht um das Gemeinsame? Um den Journalismus? Eröffnen wir doch eine Debatte! Auftakt der großen kress.de-Serie zum "Journalismus der Zukunft" von Paul-Josef Raue.

9. Februar 2016 um 12:00

Paul-Josef Raue

Kaum eine Branche streitet so verbiestert bis rufschädigend über ihre Zukunft wie die Medien: Druckmaschine oder Internet? Papier, neudeutsch: Print, oder Online? 
"Mein Kind bekommt keine Zeitung mehr! Die kommt mir nicht ins Haus", verkündet eine Journalistin, als warne sie vor einer Epidemie. Sie ist als Hohepriesterin des Internets eingeladen zu einem großen Kongress über die Lese-Förderung in Schulen.
Lust am Zeitungslesen? Wer sie bei jungen Leuten fördern will, muss damit rechnen, belächelt zu werden. Wer selber noch mit Lust Zeitung liest, wird kaum noch ernst genommen. Die Hohepriester des Internets stellen die "Süddeutsche", das "Flensburger Tageblatt" und den "Spiegel" schon auf die Rote Liste untergehender Kulturgüter, teils bedauernd, teils hämisch. Für sie sind Journalisten, die für Zeitungen und Magazine schreiben, Untote, die aus dem Jenseits in unsere Gegenwart taumeln zum letzten Gastspiel.
Wie ein Mantra tönt es: "Die Verlage haben die Zukunft verschlafen." Die Gurus, die das Mantra beten, werden von Verlegern dennoch zu teuren Kongressen eingeladen und gut honoriert. Verleger und Manager hören brav zu und applaudieren, als wollten sie durchs Zuhören Buße leisten für die Sünde, doch noch Zeitungen und Magazine zu drucken - damit Geld zu verdienen und damit Online, das Paradies der Zukunft, zu finanzieren. Dabei fällt ihnen vor lauter Bußfertigkeit nicht auf, dass die Kritiker wenig Brauchbares empfehlen können außer "Guckt doch mal in die USA" oder "Mehr Internet".
Selbst die "New York Times", die 400 Millionen Dollar mit Online einnimmt, lebt von der gedruckten Zeitung. Ihr Chefredakteur Dean Baquet räumt ein: "Wenn wir Print morgen zusperren würden, könnte uns das Digitalgeschäft nicht am Leben erhalten." Die Papier-Online-Debatte lähmt viele Redaktionen - geht es nicht um das Gemeinsame?
Über den Journalismus der Zukunft debattieren wir nur am Rande – und dann meist in einer Weltuntergangs-Stimmung wie bei Cordt Schnibben, wenn er sich um den Qualitäts-Journalismus sorgt: "Ich bin tief beunruhigt. Wir stecken in einer schweren Strukturkrise. Mich sorgt, dass die meisten meiner Kollegen noch zu satt und zu zufrieden sind."  
Cordt Schnibben, Top-Autor beim "Spiegel", plant gerade eine Abendzeitung im Netz, um den Spiegel aus der Krise zu führen; er hatte vor einigen Jahren mit  "2020" eine weitgehend folgenlose Zeitungs-Debatte begonnen, die er nicht weiterführte, weil das Interesse in der Branche gering war und nach den Zeitungen der Spiegel selber in die Krise gestürzt ist. 
Die Papier-Online-Debatte lähmt viele Redaktionen, die langsam vergreisen, weil in ihnen nach den Spar-Runden immer weniger junge Leute arbeiten. Die Mehrheit in den Redaktionen  stellen die digitalen Immigranten, zwischen 45 und 60 alt; viele von ihnen schauen verstört auf die digitalen Ureinwohner, weichen den meisten Veränderungen routiniert aus, flüchten in die innere Emigration und hoffen, noch einigermaßen unbeschadet die Rente zu erreichen. Sie trauern der Vergangenheit nach, verzweifeln an der Gegenwart und fürchten sich vor der Zukunft.
Aber lohnt überhaupt der erbitterte Streit um Gedrucktes oder Online? Geht es nicht um das Gemeinsame? Um den Journalismus?
Der Journalismus als Spiegel der Gesellschaft hat sich immer verändert  – erst recht in revolutionären Zeiten, die dem Internet folgen. Eröffnen wir also eine Debatte um den Journalismus der Zukunft, abseits vom Streit um Druckmaschinen und analoger wie digitaler Technik. 
Verändert sich der Journalismus in der Internet-Ära? Ändert er sich sogar radikal? Lohnt eine Besinnung auf Grundsätze, die seit der Aufklärung gelten und für eine demokratische Gesellschaft geschaffen wurden? Oder sollen wir unsere Grundsätze auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu werfen - aber noch ein wenig warten, ehe wir ihn anzünden?
Fünf Kapitel hat "Der Journalismus der Zukunft":
- Ist der Lokaljournalismus wirklich der Hoffnungsträger im Internet?
- Welche Journalisten braucht der Journalismus der Zukunft?
- Wie bilden wir Journalisten für die Zukunft aus?
- Was kommt nach der Lügenpresse?
Den Abschluss bilden die Antworten auf die Frage "Was bleibt?". Es sind die acht Pfeiler des Journalismus:
1. Achte Deinen Leser!
2. Informiere umfassend und wahrhaftig!
3. Erkläre dem Leser seine Welt!
4. Schätze Debatten und gib ihnen Raum!
5. Recherchiere immer, recherchiere tief und kontrolliere die Mächtigen!
6. Sei fair!
7. Langweile Deinen Leser nicht!
8. Schreib verständlich! Ehre die deutsche Sprache!

Für "Leser" kann, wer unbedingt will, auch das Wort "Nutzer" einsetzen. Ich mag "Nutzer" nicht: "Leser" mag altmodisch sein, aber klingt schön und stimmt, denn auch im Internet lesen wir und nutzen dabei unseren Kaffeebecher. Paul-Josef Raue
Vormerken: Der zweite Teil erscheint am Dienstag, 16. Februar, auf kress.de. Hintergrund: Paul-Josef Raue war bis vergangenen Oktober Chefredakteur bei der "Thüringer Allgemeine" (Funke Mediengruppe). Der studierte Philosoph stand nicht nur an der Spitze vieler regionaler Titel ("Oberhessische Presse", Marburg; "Frankfurter Neue Presse", Frankfurt/Main; "Magdeburger Volksstimme", Magdeburg; "Braunschweiger Zeitung", Braunschweig; "Thüringer Allgemeine", Erfurt), sondern trat auch als Zeitungsgründer ("Eisenacher Presse") in Erscheinung. Gemeinsam mit Wolf Schneider hat Raue das "Neue Handbuch des Journalismus" veröffentlicht, das zu den Standardwerken der Branche zählt.

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