Wege aus der selbstverschuldeten Bedeutungslosigkeit

Sonntag in einer Woche werden die Oscars vergeben. Nominiert für sechs Auszeichnungen, unter anderem in der Kategorie "Bester Film", ist das Journalisten-Drama "Spotlight". Für kress.de-Kolumnist Richard Gutjahr ist "Spotlight" das verfilmte schlechte Gewissen einer Institution, die sich selbst noch immer gerne als Welterklärer und Wahrheitsdeuter sieht. Gutjahr sieht darin einen "Lehrfilm für Chefredakteure, Redaktionsleiter und Publizisten".

Richard Gutjahr | 18. Februar 2016 um 12:32

kress.de-Kolumnist: Richard Gutjahr (Foto: Foto: Mathias Vietmeier)

Der Film, der die Hintergründe zur Enthüllung des Misshandlungsskandals der Katholischen Kirche in den USA nachzeichnet, kommt genau zur richtigen Zeit. Obwohl er vor 15 Jahren spielt, ist er aktueller denn je. Eine Zeit, in der das Internet noch in den Kinderschuhen steckt, in der Webseiten wie Craigslist Vorboten sind für das, was da noch kommen soll. Eine Zeit ohne iPhone, ohne Facebook und Twitter, ohne YouTube oder Google News. Eine Zeit der publizistischen Unschuld. Ein Film, der mich daran erinnert, weshalb ich einst Journalist werden wollte. Ein Film, der wachrüttelt, indem er uns eindringlich aber unaufgeregt vor Augen führt, was aus diesem Selbstverständnis geworden ist. Er zeigt Journalisten, die neugierig und hungrig sind. Journalisten, die nicht an ihrem Schreibtisch kleben, sondern die raus gehen und sprichwörtlich an Türen klopfen. Reporter, die nicht hyperventilieren und jeder Sau hinterherlaufen, die gerade durchs mediale Dorf getrieben wird. Redakteure, die selbst im Angesicht von Katastrophen wie 9/11 einen kühlen Kopf bewahren, den Fokus nicht verlieren und auf die Kraft ihrer eigenen Recherche vertrauen. Ein Lehrfilm für Chefredakteure, Redaktionsleiter und Publizisten In anderen Worten: Spotlight ist das verfilmte schlechte Gewissen einer Institution, die sich selbst noch immer gerne als Welterklärer und Wahrheitsdeuter sieht. Gemeint ist nicht die katholische Kirche, sondern wir Journalisten. Ein Lehrfilm nicht nur für Volontäre und Journalistenschüler (die Idee für den Film entstand aus einem Studienprojekt der Columbia Journalism School), sondern vor allem für Chefredakteure, Redaktionsleiter und Publizisten im mittleren und gehobenen Management, die meinen, sinkenden Auflagen und Quoten mit belanglosem Zeitgeist-Journalismus begegnen zu können. Gerade was den so inflationär bemühten Kampfbegriff des "Qualitätsjournalimus" betrifft, mache ich eine gewaltige Kluft aus zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Würden wir in unseren Redaktionen nur halb so viel qualitativ hochwertigen Journalismus bieten, wie wir ihn uns immer wieder gegenseitig auf Verbandstagen und Medien-Kongressen attestieren, hätten wir vielleicht immer noch ein Finanzierungsproblem. Das Problem des wachsenden Vertrauensverlusts in der Gesellschaft jedoch haben wir allein uns selbst zuzuschreiben. Keine noch so gute SEO- und Multichannel-Strategie kann aus Stroh Gold machen Der fatale Teufelskreis, den ich ausmache: Je mehr die großen Tech-Unternehmen expandieren und uns nach und nach immer weiter das Wasser abgraben, desto hilfloser reagieren wir, in dem wir schlecht kopieren, was wir nicht können und ausgerechnet das vernachlässigen, was uns einst groß gemacht hat (ob immer gerechtfertigt oder aus Mangel an Alternativen lasse ich mal dahin gestellt). In anderen Worten: Keine noch so gute SEO- und Multichannel-Strategie kann auf Dauer aus Stroh Gold machen. Die Digitalisierung bietet uns die einzigartige Chance, relevanten, bedeutungsvollen Journalismus zu betreiben, auf Arten, wie das noch nie zuvor möglich war. Das setzt voraus, dass wir den Wandel nicht nur simulieren, indem wir schicke, multimediale Newsrooms bauen, sondern indem wir das Digitalzeitalter leben und mit großartigen Inhalten füllen. Gerade hier sehe ich unser größtes Defizit. Auf alte Tugenden wie Neugier, Recherche und Hartnäckigkeit bauen Dass wir lernen, die neuen Kommunikationskanäle mitsamt ihrer Selbsterregungsmechanismen zu verstehen und nicht allein als Ort für Hass-Parolen verteufeln. Dass wir alte Tugenden wie Neugier, Recherche und Hartnäckigkeit nicht aus Zeitdruck - oder schlimmer - aus Bequemlichkeit über Bord werfen und mit dem zu einer Abart des Journalismus mutierten Kopieren von Agentur- und PR-Material verwechseln. Es mag immer noch viele von uns überraschen, aber Googlen können unsere Leser auch! In "Spotlight" (deutscher Kinostart 25. Februar) kommt ein Priester in seiner Predigt auf die wachsende Konkurrenz durch das Internet zu sprechen. "Wissen" sei das eine, sagt er, der "Glaube" das andere. Gelingt es uns nicht, eine Trendwende einzuleiten, uns auf das zu besinnen, wofür wir stehen und was die Menschen einst in uns gesehen haben, teilt der Journalismus letztendlich das gleiche Schicksal wie die Kirche. Wir schaufeln Tag für Tag weiter unser eigenes Grab. Ein Wettlauf in die selbstverschuldete Bedeutungslosigkeit.

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