§ 103 reloaded – wenn scheintote Paragrafen zum Leben erweckt werden

Nun haucht die Bundesregierung einer scheintoten Vorschrift neues Leben ein und lässt das Strafverfahren gegen Jan Böhmermann zu. Graue aber nicht immer schlaue Eminenzen haben entschieden. Nach der Wiederbelebung soll Paragraf 103 zu Grabe getragen werden. Eine Einordnung des Berliner Juristen und Journalisten Michael Schmuck.

Michael Schmuck | 17. April 2016 um 19:49

Bundeskanzlerin Angela Merkel (Foto: CDU / Dominik Butzmann)

Der Ruf des Bosporus ZDF-Mitarbeiter protestieren, Künstler solidarisieren sich, der Verlegerverband bezieht Stellung; die Community bloggt, twittert, whatsappt und liket für die Freiheit des Denkens und der Rede. Merkel mutiert nach und nach, trotz wenigem eigenen Zutun (oder gerade darum), zur Symbolfigur der Unterdrückung künstlerischen Freidenkertums. Merkel als Philipp II in Schillers "Don Carlos". Und eine anarchistische Community von Millionen rufender Marquis Posas: "Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!" Erstaunlich, was und wen der Fall Böhmermann nun alles bewegt. Was auch immer in Deutschland und der Welt so alles geschieht, seit Tagen gehören via Böhmermann die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, Satire sowie Paragrafen, Institutionen und Personen, die solches womöglich einschränken könnten, zu den Top-Themen; bei einigen Medien ist es sogar das Top-Thema. Merkel stolpert eher über Böhmermann als über die Flüchtligskrise Böhmermann verdrängt Nordkoreas Drohung mit Atomschlägen, die Flüchtlingsfrage und sogar die Panama-Papers oder ist zumindest damit gleichauf. Es ist sogar "Spiegel"-Titel. Die Kanzlerin könnte aktuell eher über Böhmermann zu Fall gebracht werden als über die Flüchtlingsfrage oder eine Briefkastenfirma. Das Prinzip ist alt, dass emotionale Themen, bei denen sich jeder irgendwie betroffen fühlt und mitreden kann, unübersichtliche Themen aus den Medien verdrängen. Manchmal ist das ja auch so gewollt. Paragraf 103 stammt aus der Zeit des Fehdehandschuhs Wie so oft bei Streitigkeiten ums Recht und damit um Paragrafen wird mal wieder ein Pseudo-Joker, eine Wunderwaffe, aus der Kiste geholt: Das von der anarchistischen Community fokussierte mutmaßliche Maulkorb-Gesetz, der Paragraf 103 Strafgesetzbuch, stamme aus dem vorletzten Jahrhundert. Bumm! Und damit kann er, muss er ja völlig überholt sein. Ja, vermutlich ist das auch so. Paragraf 103 kann wohl weg in einer aufgeklärten Zeit, in der keine Fehdehandschuhe mehr geworfen werden, Männer in Rüschenhemden mit Degen aufeinander losgehen und keine Tausende von Mannen unbedarften Fußvolkes mit aufgepflanztem Bajonett bereitstehen, um die Ehre ihres Fürsten möglichst blutig zu verteidigen, sobald ein fremdländischer Bursche ihn Grützkopf oder Dummbart scheltet. (obwohl viele im Fußvolk vielleicht genau dasselbe dachten). Aber allein das hohe Alter einer Vorschrift ins Feld zu führen, um sie für blödsinnig zu erklären, reicht nicht immer aus. Die meisten Paragrafen im Strafgesetzbuch stammen ursprünglich aus dem vorletzten Jahrhundert. Das StGB wurde 1871 ins Leben gerufen, das BGB 29 Jahre später. Viele Paragrafen sind antiquarisch und wurden schlicht vergessen, weil sie mangels Gebrauch verstaubt und scheintot sind. Viele andere, die allermeisten Vorschriften sind aber auch immer wieder überarbeitet und aktualisiert worden - weil sie dauernd angewendet wurden. Satiriker erwecken scheintote Paragrafen wieder zum Leben Die scheintoten Paragrafen, wie eben der 103 StGB, werden leider alle paar Jahre wieder zum Leben erweckt, etwa von Satirikern. Und da die entscheidenden Juristen an den Schaltstellen der Gesetzgebungs- oder -nehmungsmacht eine eher konservative, traditionsversonnene Community sind, also graue und nicht immer schlaue Eminenzen, tragen sie die wiedererweckten Normen nicht endlich endgültig zu Grabe, sondern freuen sich, wenn sie mal wieder ans Licht ihrer Schreibtischlampe kommen. Gerade um den 103 StGB herum verstecken sich noch immer einige von diesen scheintoten Paragrafen, von diesen Paragrufties. Sollen die alle abgeschafft werden? Ja, das wäre wohl bei vielen sinnvoll. Allerdings ist es so ähnlich wie beim Aufräumen des Kellers: Kurz nach dem man endlich den alten Kram zum Müll gebracht haben, braucht man ihn plötzlich wieder. Pöbeleien sollten den Herrschern am Allerwertesten vorbeigehen Schauen wir uns zum Beispiel mal die Idee an, die hinter 103 steckt. Da soll die Regierung entscheiden (verstaubt: "ermächtigen"), ob die Staatsanwaltschaft jemanden wegen einer Beleidigung verfolgen soll, wenn er die Ehre eines fremden Herrschers oder einer Herrscherin beschmutzt, sei es nun eine nette Königin oder ein hässlicher Tyrann. Voraussetzung ist aber zunächst, dass die Nette oder das Biest das verlangen - was ja üblicherweise eher selten vorkommt, weil ihnen Krakeele aus dem Volk, also Pöbeleien, in aller Regel am herrschaftlichen Allerwertesten vorbeiging oder vorbeigehen sollte. Das ist alles hohe Politik auf einem Parkett, auf dem 99 Prozent des Volkes eben nicht mittanzt und darum auch die Musik nicht kennt, die dort gespielt wird. Die Grundidee des 103 ist so gesehen vielleicht eigentlich gar nicht so verwerflich. Und man kann die Sache ja, wenn man das will, auch so sehen, dass der pöbelnde Rotzlöffel ob seines Frevels vor dem direkten juristischen Zugriff der beleidigten Herrscherwurst verschont werden sollte, wenn die Regierung den Affront auf diplomatischen Wege lösen will - wenn sie das will. Keiner der Väter oder keine der Mütter des Paragrafen 103 ist wohl Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Idee gekommen, dass ein großer Herrscher sich sozusagen plebiszitär verhält und sich herablässt, wie das gewöhnliche Volk vor einer gewöhnlichen Staatsanwaltschaft einen gewöhnlichen Strafantrag zu stellen. Es macht ja einen Unterschied, ob jemand seinen Nachbarn am Gartenzaun Idioten nennt oder einen Herrscher über den Grenzzaun hinweg. So gesehen müsste man den 103 juristisch dogmatisch als Spezialvorschrift einstufen und dem Fürsten es verwehren, den einfachen Weg des gemeinen Volkes zum niederen Staatsanwalt zu beschreiten. Aber auch dem Plebejer ist ja zunächst der Strafantrag als kleine Hürde auf den Weg gelegt, damit er erst einmal in Ruhe darüber nachdenkt, ob er wegen einer unflätigen Beschimpfung des Nachbarn gleich die Gerichte bemüht. Beleidungen sind juristisch nicht immer Schall und Rauch Aber diese komplizierten historisierenden und rechtsphilosophischen Gedanken um eine eher formale Vorschrift haben ja mit einer einfachen inhaltlichen, ganz entscheidenden Frage wenig zu tun: Waren "Ziegenficker" & Co strafbare Beleidigungen und verbotene Schmähkritik oder erlaubte Kunst und geschützte Satire? Die Beleidigung, den Paragrafen 185 StGB oder die Persönlichkeitsrechtsverletzung nach Paragraf 823 BGB will doch, wenn ich das richtig sehe, keiner abschaffen. Also muss es doch erlaubt sein, diese Gretchen-Frage zu stellen. Und selbstverständlich kann man sie im Faustischen Sinne beantworten, in dem man darauf einfach nicht eingeht und sagt: "Beleidigungen sind Schall und Rauch - Satire darf alles." Nur wird ein Jurist das so einfach nicht beantworten können. Da gibt es eben Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, nach denen das etwas anders zu sehen sein könnte. Nicht jeder will gern, auch nicht von einem Künstler oder Satiriker, persönlich mit dumpfen Schimpfwörtern tituliert werden (wohl auch nicht jeder in der anarchistischen Community möchte "Ziegenficker" genannt werden). Und er muss es auch nicht dulden - obwohl die Rechtsprechung da erfreulicherweise sehr liberal ist und - fast - alles erlaubt in Deutschland. Wir haben, anders als bei Don Carlos oder Erdogan, eben doch große Gedankenfreiheit. Der arme kleine Amtsrichter in Mainz Und nun stellen Sie sich doch mal den armen Amtsrichter in Mainz am Rhein vor, der letztlich über einen staatswohlgefährdenden Antrag vom Bosporus entscheiden soll. Womöglich ist er gerade mal ein paar Monate im Amt und kennt sich zudem nur wenig aus mit solchen nicht alltäglichen Rechtsfragen. Um es zugespitzt zu sagen: Ein "kleiner" Amtsrichter entscheidet über das Verhältnis der Bundesrepublik zur Türkei. Ich würde Blitzurlaub machen - aber nicht am Bosporus. Diese blöde "Ziegenfickerei" kann doch wirklich nur ganz vorsichtig, mit Bedacht und Diplomatie vom dünnen Eis gehoben werden - ohne juristische Prüfungen oder gar Entscheidungen, ohne kampfbereite Advokaten (die nun statt des Fußvolkes das Bajonett aufpflanzen), abseits des Weges zum Gericht, sei es der nun geöffnete Weg über den 103 oder der des gemeinen Volkes.

kress pro 2023#07

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