So wirkt "Journalistenmethadon"

Das Reporterforum ruft zum Workshop 2016, über 300 Journalistinnen und Journalisten strömen ins "Spiegel"-Gebäude in Hamburg. Das Motto "Handwerk, Haltung, Hoffnung" sendet eine kämpferische Botschaft an eine von Selbstzweifeln und Zukunftsängsten gebeutelte Branche: Wir wissen, wie wir es tun, warum wir es tun, und wohin wir damit wollen. Und deswegen macht das auch alles Sinn. 

Malte Göbel | 6. Juni 2016 um 11:09

Cordt Schnibben und Isabelle Buckow, Organisatoren des Reporterforums beim "Spiegel".

Aber es gibt auch ein zweites Motto, formuliert via Twitter von der freien Journalistin Anika Kreller: "Input, Input, Input"  – in 35 Workshops wird diskutiert, gelernt, gedacht, geübt, gewerkelt, angeleitet von 55 ReferentInnen (darunter 43 Männer, 12 Frauen). "Es sind etwas weniger Workshops als im Jahr zuvor, dafür haben wir sie länger gemacht", erklärt Isabelle Buckow vom vierköpfigen Organisationsteam.  Eines der Höhepunkte: die Veranstaltungen von Frederik Obermaier ("Süddeutsche Zeitung") und Jan Strozyk (NDR) über die Panama Papers. Sie erklären in zwei Workshops, wie sie an die Daten kamen und wie sie diese dann analysierten, um sie dem Publikum verständlich zu machen. Best Practice, Nachmachen erwünscht! Solche Praxisnähe prägt das Programm des Wochenendes:Handwerkliches in Workshops unter anderem zu großen Recherchen, Sachbüchern, Ich-Reportagen, Interviewführung, transmedialem Erzählen: seiner selbst gestellten Aufgabe als Fortbildungsort kommt das Reporterforum hier ganz konkret nach. Dabei kommt es auch zu Offenbarungen: "Ich habe 1500 Interviews geführt und würde heute jedes einzelne anders machen", gesteht der stellvertretende ORF-Chefredakteur Armin Wolf im Workshop "Wie interviewt man Populisten?" (Zitat via Twitter von Martin Niewendick). Cordt Schnibben bezeichnet in seiner Veranstaltung "Wie kann eine Reportage Meinung transportieren, ohne zu missionieren?" die Reportage als "Massenvernichtungswaffe - in dem Sinne, dass sie Massen von Lesern vertreiben kann." (via Jacob Vicari, Twitter). Und, klar: einen Snapchat-Workshop gibt es auch.  - Haltung, ganz wichtig: Wie umgehen mit Pegida, AfD, Donald Trump und anderen Rechtspopulisten? Das fragen mehrere Workshops. Über die Bezeichnung "Nanny-Journalismus" streiten sich Bettina Gaus, politische Korrespondentin der "taz", und "Spiegel-Online"-Kolumnist Jan Fleischhauer, der den Begriff in seiner Kolumne erst aufgebracht hatte. Im Workshop über Ich-Reportagen plaudert eine Anwesende freimütig, sie habe ihre Titelgeschichte einer Frauenzeitschrift frei erfunden – in das schweigende Entsetzen der Teilnehmer schnarrt Ariel Hauptmeier vom Orga-Team: "Das ist kein Journalismus, das diskutieren wir nicht."

  • Und die Hoffnung? "Die ist überall dabei!", erklärt Mitorganisator Cordt Schnibben ("Der Spiegel"), und er hat recht: Die kommt ganz automatisch, wenn so viele Medienschaffende zusammenkommen, sich gegenseitig ihre Vorgehensweisen erklären, Fähigkeiten teilen, sich helfen lassen – und über neue Projekte diskutieren, die sind auch Thema: etwa "Spiegel Daily" oder die Zusammenarbeit mit Programmierern, die Schnibben explizit heraushebt: "Das ist eine Zukunftshoffnung." Konstruktiv versucht das Reporterforum auch mit Kritik umzugehen, Buckow und Schnibben lassen sich in einem Workshop coachen, wie das Team den Frauenanteil unter den Referierenden erhöhen könnte. Aktuell liegt der bei 22 Prozent. Es gibt Hoffnung: Im Vorfeld beschloss der Trägerverein, dass es im nächsten Jahr mindestens 30 Prozent, in drei Jahren mindestens 50 Prozent sein sollen.  "Total Lust auf Interviews" Das Fazit der Teilnehmer ist positiv. Paula Scheidt, Reporterpreisträgerin von 2014 und heute Redakteurin bei "Das Magazin", ist extra aus Zürich angereist, es ist ihre fünfte Teilnahme. "Ich wollte etwas lernen, das ich gleich nächste Woche umsetzen kann", schildert sie ihre Erwartung. Und die wird erfüllt: "Am besten war der Interview-Workshop von Michael Ebert. Ich hab jetzt total Lust auf meine nächsten Interviews!"  Die freie Journalistin Serena Bilanceri ist das erste Mal beim Reporterforum. "Ich will vor allem lernen", sagt sie. Auch andere Themen findet sie interessant, besonders informativ war für sie der Workshop mit dem "Spiegel"-Korrespondenten Hasnain Kazim, dem in der Türkei eine Akkreditierung als Journalist verweigert wurde. "Aber ich bin natürlich auch gekommen, um Kontakte zu knüpfen."  Dafür gibt es reichlich Gelegenheit, auch dank einer weiteren wichtigen Neuerung des Reporterforums 2016: Die Pausen zwischen den Veranstaltungen wurden verlängert, um mehr Raum für informelle Gespräche zu schaffen. Auch die Party am Freitagabend in der urigen Oberhafenkantine eignet sich hervorragend, um alte Bekannte wiederzusehen oder neue zu machen, gemeinsam über Löhne zu schimpfen, Texte zu loben, Pläne zu schmieden.  "Viel freigesetzte Endorphine für guten Journalismus" So vermittelt das Reporterforum auch ein Gefühl von Community. "Katastrophenwarnung&Seelenmassage, Klassentreffen & sensationell kluge Leute", fasst es Uta Keseling von der "Berliner Morgenpost" bei Twitter zusammen. Christian Unger von der Funke Mediengruppe twittert über "viel freigesetzte Endorphine für guten #Journalismus!". Ähnlich formulierte es in einem Workshop der Chefredakteur des Kundenmagazins eines großen deutschen Versicherungskonzerns: "Für mich ist diese Veranstaltung Journalistenmethadon."   Es sind so auch die großen Zusammenhänge, die den Wert des Reporterforums ausmachen. "Es ist immer toll, abseits vom Tagesgeschäft mit Gleichgesinnten grundsätzlich auf die Dinge zu gucken", sagt Florian Gathmann, Politik-Redakteur bei "Spiegel Online". Und es geht oft über Journalismus hinaus. Wenn der frühere "Economist"-Afrika-Korrespondent Jonathan Ledgard erzählt, warum er seinen Job aufgegeben hat, um in Ruanda einen Drohnen-Flughafen zu bauen. Oder Samstagmittag, als die meisten schon wieder abgefahren sind, bei Peter Wagner ("Süddeutsche Zeitung"). Er spricht über den "Reporter als Sinnsucher und Seelsorger", und das nicht halb so pastoral, wie der Titel vermuten ließe. Wagner interviewte für sein Buch "Wofür es gut ist. Was Menschen aus ihrem Leben lernen" Dutzende Menschen über ihr Lebenswerk. Sein Antrieb dafür: "Ich hatte unglaubliche Angst vor dem Sterben. Das ist meine Todesvorbereitung: Menschen ausfragen." 

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