"Journalisten betreiben Selbstzensur"

Lobende Worte aber auch ätzende Kritik über den aktuellen Journalismus äußert die ARD-Legende Ulrich Wickert im neuen Essay-Band "Medien: Macht & Verantwortung". Im Interview mit kress.de erklärt der heute 73-Jährige, warum es um den Journalismus derzeit schlechter steht als vor 30 bis 40 Jahren und welche politische Einflussnahme er für einen "Skandal" hält. 

Frank Hauke-Steller | 7. Juni 2016 um 10:09

ARD-Legende Ulrich Wickert in Paris. Foto: Bruno Delessard

Ulrich Wickert arbeitete als Fernseh-Korrespondent in New York sowie Paris und trat 1991 die Nachfolge von Hanns Joachim Friedrichs als Moderator der "Tagesthemen" an. Mehr als 15 Jahre führte er durch die Nachrichtensendung. kress.deHerr Wickert, warum greifen Sie die aktuelle Journalistengeneration so scharf an? Ulrich Wickert: Wie kommen Sie darauf? Ich habe nicht den Eindruck, dass ich das mache. In erster Linie lobe ich doch die deutschen Journalisten. Naja, in Ihrem neuen Buch nennen Sie Hauptstadt-Korrespondenten "völlig uninformierte Journalisten", schreiben von "widerlicher Sensationsheischerei", "Selbstzensur", von Tabus, die Sie "hassen" und davon, dass Medien zur Orientierungslosigkeit der Gesellschaft beitragen würden. Aus kritischem Journalismus sei Betroffenheitsjournalismus geworden. Selbst angesehenste Zeitungen würden manchmal nicht mehr recherchieren, was sie meldeten. Wenn das kein Angriff ist. . .  Ulrich Wickert: Sie übertreiben aus Sensationslust. Das ist kein Angriff, weil Sie das in dem Zusammenhang sehen müssen, ob journalistische Regeln eingehalten werden. Damit setze ich mich auseinander. Ich spreche nicht von den Journalisten, sondern gehe auf einzelne, präzise Fälle ein. Und Sie werden mir sicher Recht geben, dass es einfach peinlich ist, wenn eine Journalistin den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden mit "Herr Pfarrer" anspricht. Das habe ich miterlebt. "Der ganze Müll im Internet" Sie thematisieren aber schon diese Schwächen. . .  Ulrich Wickert: Ich gehe nicht von den Schwächen des Journalismus in Deutschland aus, sondern von den Stärken. Journalismus sollte im Sinne von Immanuel Kant Aufklärung sein. Und grundsätzlich sollte dabei auch die Würde des Menschen beachtet werden. In dieser Beziehung hat der deutsche Journalismus viele positive Seiten, die von einigen Beispielen durchbrochen werden, die ich kritisiere. Und dabei widme ich mich auch der Diskussion um die Veröffentlichung von Bildern. Soll man zum Beispiel das Foto des an den Strand gespülten toten Flüchtlingsjungen zeigen oder Bilder von Abschiebungen? Die Frage ist immer: Wo greifen wir die Würde des Menschen an, und wo transportieren wir damit Information? Anders gefragt: Läuft heute mehr schief im Journalismus als vor zehn oder 20 Jahren? Ulrich Wickert: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum heute mehr falsch läuft als, sagen wir mal, vor 30 bis 40 Jahren. Wir haben viel mehr Medien, die zudem viel schneller geworden sind. Auch der Konkurrenzkampf hat deutlich zugenommen. Und dann schauen Sie sich den ganzen Müll im Internet an. Da sagen sich eben einige: "Das nehme ich besser mal mit, bevor andere das haben und wir nicht." Insofern hat sich die Lage verschlechtert. Ich bedauere sehr, dass Redaktionen erheblich ausgedünnt werden. Als ich Korrespondent in Paris war, hatte ich für einen "Tagesthemen"-Beitrag schon mal drei Tage Zeit. Heute müssen die Kollegen in fünf Stunden liefern und vorher noch Berichte für andere Sendungen machen. Darunter leidet dann die Qualität. Sie zitieren oft Kant und fordern, Journalisten sollten Aufklärer sein. Haben Reporter heute noch genug Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen? Ulrich Wickert: Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel. Nehmen Sie die Panama Papers oder Wikileaks. Da zeigt sich doch, wie viele Journalisten Mut haben. Und um das alles auszuwerten, müssen sie sich sehr intensiv ihres Verstandes bedienen. "Wir dürfen nicht in Selbstzweifel verfallen" In Ihrem Buch beklagen Sie aber auch den Verlust von journalistischem Mut. Was meinen Sie damit? Ulrich Wickert: Die zahlreichen Hass-Attacken auf Journalisten führen zu Verunsicherung. Daher werden gewisse Worte nicht mehr benutzt und ganze Themen nicht mehr behandelt. Ich spreche hier von Selbstzensur und fordere die Kollegen auf, Mut zu haben, solche Geschichten trotzdem zu bringen. Die ganze "Lügenpresse"-Diskussion wird viel zu ernst genommen. Das Wort haben in der Geschichte immer schon linke und rechte Extremisten, Kommunisten und Faschisten, benutzt, um unabhängigen Journalismus anzugreifen. Wir dürfen deswegen nicht in Selbstzweifel verfallen. Oft höre ich Journalisten sagen, es sei bedauerlich, dass wir an Glaubwürdigkeit verloren haben. Wie bitte? Laut der letzten Allensbach-Umfrage halten 80 Prozent der Deutschen unsere Medien für glaubwürdig. Daher ist diese selbstbezogene Klage unangebracht. Sie attestieren der deutschen Presse ja auch, dass kaum ein anderes Land der Welt über solch "eine Bandbreite an hervorragenden Medien" verfüge. Wie passt das aber mit Ihrer teilweise doch deutlichen Kritik zusammen? Ulrich Wickert: Das ist kein Widerspruch. Wir haben eine sehr vielfältige Presse. Aber es passieren Fehler, die ich kritisiere. Und ich möchte dazu beitragen, dass wir uns immer wieder fragen, was wir besser machen können. Wissen Sie, ich habe in den USA und in Frankreich gelebt, und ich kenne die italienische, spanische und englische Situation. Nirgendwo gibt es in der Breite solch hervorragenden Journalismus wie in Deutschland. Und kein anderes Land der Welt hat solch eine Qualität im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie wir. Auch nicht die BBC, die zum Teil überschätzt wird. Schauen Sie sich das umfassende Informationsangebot nicht nur im Ersten und Zweiten sowie den Dritten Programmen an, sondern auch bei Phönix und Arte. "Parteien nehmen Einfluss auf Berichterstattung" Im öffentlich-rechtlichen System, schreiben Sie, habe der Journalist sich nur seinem journalistischen Auftrag verpflichtet zu fühlen. Er dürfe sich von niemandem vereinnahmen lassen, schon gar nicht von einer politischen Partei. Wie realitätsnah ist das, wo doch journalistische Positionen bei ARD und ZDF bekanntermaßen auch nach Parteibuch vergeben werden? Oder ist das mehr eine Forderung? Ulrich Wickert: Genau, das ist eine Forderung. Es ist leider so, dass Parteien Einfluss auf die Berichterstattung nehmen. Der Fall des nicht verlängerten Vertrages von Nikolaus Brender als ZDF-Chefredakteur ist wohl das prominenteste Beispiel dafür. Aber das hat dazu geführt, dass das Bundesverfassungsgericht entschied, das ZDF müsse die Gremienzusammensetzung ändern. Damit ist aber noch nicht alles in Ordnung. Was mich zum Beispiel wirklich ärgert, ist, dass bei einem Regierungswechsel in den Ländern die Rundfunkgesetze geändert werden, damit man besseren Zugriff hat. Das ist ein Skandal! Es fällt auf, dass Sie in Ihrem Buch das Privatfernsehen und die Zeitungen nicht schonen. Diese würden ja auch "aus wirtschaftlichen und nicht aus demokratischem Interesse betrieben". Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk findet man aber so gut wie nicht. Warum nicht? Ist das der einzige Bereich, wo Journalismus aus "demokratischem Interesse" betrieben wird? Ulrich Wickert: Habe ich das wirklich so geschrieben? Ja, haben Sie… Ulrich Wickert: Dann will ich Ihnen das mal glauben, ich heiße ja nicht Alexander Gauland (lacht). Also, ich kritisiere durchaus auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Aber natürlich, und da meine ich dann die bunten Blätter, ist es das Interesse der privaten Presse, dass sich ihre Produkte gut verkaufen. Dadurch wird dort auch stärker skandalisiert und in ganz anderer Währung gezahlt, denn die Öffentlich-Rechtlichen haben die Verpflichtung, und damit sind wir bei der von Ihnen angesprochenen Formulierung, das demokratische Gefüge zu erklären und zu stützen. Leider wird das heute auch zu wenig verfolgt. "Mir reichte es dann endgültig" Sie kritisieren den "Sensationsjournalismus" und zeigen anhand der Berichterstattung über Vogelgrippe und Schweinepest auf, wie Medien Hysterie schürten. Aber das findet doch auch bei ARD und ZDF statt. Ulrich Wickert: Selbstverständlich, und das habe ich in der Redaktionskonferenz auch heftig kritisiert. Erst kam BSE, dann die Maul- und Klauenseuche, die Vogelgrippe usw. Die Regierung beschaffte aufgrund dieser Panikmache sogar 160 Millionen Impfeinheiten. Mit der eigentlichen Bedrohung hatte das alles nichts mehr zu tun. Mir reichte es dann endgültig. So etwas kommt also ebenfalls im öffentlich-rechtlichen System vor. Da neigen auch Kollegen zum Sensationsjournalismus. Sie sehen zwar die Pressefreiheit durch staatliche Eingriffe und den aufgeweichten Informantenschutz bedroht. Aber andererseits sagen Sie im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Voyeurismus, das Privileg der Freiheit beginne fragwürdig zu werden. Von welcher Seite ist die Pressefreiheit mehr bedroht? Intern oder extern? Ulrich Wickert: Die interne Bedrohung sehe ich kaum, außer durch die Selbstzensur. Was die externe Bedrohung der Freiheit angeht, stellt sich die Frage, ob wir in Deutschland einem Wandel unterworfen sind. Gerade durch die zahlreichen Leaks kommt doch heute soviel heraus, an das früher überhaupt nicht zu denken war. Die Durchsuchungen von Redaktionsräumen, Ermittlungen und auch das Abhören nehmen zu. Das ist schon eine Gefahr aber noch keine sehr große. Sie sagen, die Medienmacher sollten darüber nachdenken, "positiver Berichterstattung einen größeren Raum zu widmen"? Was waren denn die positiven Nachrichten der vergangenen Woche? Ulrich Wickert (lacht): Das schöne Wetter in Hamburg! Und natürlich die Eröffnung des Gotthard-Tunnels. Dass dieses große Projekt im Zeit- und Kostenrahmen blieb, ist wirklich eine gute Nachricht. Und darüber haben ja auch alle sehr ausführlich berichtet. In meinem Buch schildere ich ein anderes Beispiel. Nach den vielen Problemen mit der Technologie und den damit verbundenen Verschiebungen der Lkw-Maut und unserer Kritik an Toll Collect, fand ich es damals angemessen, auch die positive Meldung zu bringen, dass nun alles klappt. Das war umstritten, weil einige Kollegen das für eine Selbstverständlichkeit hielten. Am Ende haben wir es vermeldet, weil wir damit unsere sehr kritische Berichterstattung abgerundet haben. Dann wäre in dieser Logik auch die Eröffnung des Hauptstadtflughafens, falls es die denn jemals geben sollte, eine gute Nachricht? Ulrich Wickert (lacht): Absolut, ja! Zum Schluss noch einmal zu Hajo Friedrichs‘ häufig zitierten Satz, dass sich ein guter Journalist mit keiner, auch nicht mit einer guten Sache gemein machen dürfe. Sie schreiben, dieses Zitat werde "falsch interpretiert". Und, dass Sie sich immer wieder mit guten Sachen gemein gemacht hätten. Wo ist da die Grenze zum Betroffenheitsjournalismus? Und warum wird Friedrichs falsch interpretiert? Ulrich Wickert: Treffender als in meinem Buch kann ich es nicht sagen: "Ich persönlich verstehe 'nicht gemeinmachen' so: Ein guter Journalist verfolgt eine Sache ohne Rücksicht auf eigene Interessen." Und ich möchte gern Claus Richter zitieren, der heute Vorsitzender des Vereins für die Vergabe des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises ist. Während des Kommunismus und des Kriegsrechts war er unser Korrespondent in Polen. Er sagt sinngemäß, in einem Unrechtsstaat mache sich jeder freie Journalist automatisch mit der Sache der Unterdrückten gemein. Und nun noch zu Ihrer Frage, wie sich das vom Betroffenheitsjournalismus abgrenze. Ganz einfach: Betroffenheitsjournalismus drückt auf die Tränendrüse, ohne sich notwendigerweise mit der Sache gemein zu machen. kress.de-Tipp: Ulrich Wickert, Medien: Macht & Verantwortung, 160 Seiten, gebunden. 16,00 €.

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