Langweile nicht!

Wer nicht langweilen will, der muss erzählen. Reicht das? Nein. Ohne Geschichten funktioniert nichts, aber nur mit Geschichten auch nicht. Was müssen also Redaktionen tun, um ihre Leser nicht zu langweilen? Wir wissen es recht genau dank einer Fülle von Leserforschungen, die im vergangenen Jahrzehnt eine Blüte erlebten. 

Paul-Josef Raue | 7. Juni 2016 um 10:50

Auch wenn in Europa und Nordamerika die Auflagen sinken: Weltweit lesen immer mehr Menschen Zeitungen, vor allem in Asien. Dieser Händler in Nepals Hauptstadt Kathmandu ist einer von fast drei Milliarden Lesern, er findet offenbar die Themen, die ihn nicht langweilen. Foto: Paul-Josef Raue

Wir haben sie ausgewertet und die zwanzig wichtigen Ergebnisse zusammengetragen, die offenbar überall gelten, in Lokal- und Regionalzeitungen, Magazinen und Online. Erzähl Geschichten! Als die Menschen zu Menschen wurden, saßen sie am Höhlenfeuer - und einer begann zu erzählen; als das Christentum zur Weltreligion aufbrach, erzählten die Jünger von dem Wunder; als nur wenige lesen konnten, kam zuerst die Prinzessin aus tausendundeiner Nacht und später der Moritatensänger, und sie erzählten; wenn im Kindergarten das Chaos ausbricht, setzt sich die Erzieherin in eine Ecke und liest eine Geschichte vor; wenn Edeka vor Weihnachten mehr verkaufen will, kommt der einsame Opa und erfindet eine Geschichte. Die Geschichte der Menschheit sind ihre Geschichten. In vielen Redaktionen wird allerdings die Nachricht mehr geschätzt, sie sei die Pflicht, das eigentlich Journalistische, das Wahre. Die Reportage wird als Kür gesehen, als das Subjektive, als Literatur. Wenn auf der dritten Seite die große Reportage über den Parteitag steht, dann destilliert der Deskchef daraus den "nachrichtlichen" Aufmacher für die Titelseite, nüchtern, steif, aseptisch. Bericht ist die unbeliebteste journalistische Form Leser-Forschung belegt allerdings, dass der Bericht die unbeliebteste der journalistischen Formen ist: Die Leser mögen alles, was erzählt. Nur - warum soll man eine Nachricht nicht erzählen können? Das Nachrichten-Magazin "Spiegel" macht es nur; die "FAZ" oft und die "SZ" immer öfter; die großen Zeitungen der angelsächsischen Welt kennen selten anderes als einen erzählenden Aufmacher auf der Titelseite oder einen analytischen. "Die Redakteure in Amerika können noch erzählen, und sie trauen sich auch, es zu tun", steht im "Neuen Handbuch des Journalismus" im Kapitel "Die neue Seite 1" mit Beispielen aus der "Herald Tribune" und dem "Wallstreet Journal". Noch ist die Reportage, die Analyse oder der Essay selten auf der Titelseite einer deutschen Regionalzeitung. Es ändert sich langsam: Als Terroristen in Paris über 150 Menschen ermordet hatten, brach die "WAZ" mit ihrer Tradition des nachrichtlichen Aufmachers und durchbrach das übliche Titelseiten-Layout: Chefredakteur Andreas Tyrock erzählte blattbreit einen analytischen Leitartikel "Für die Freiheit"; eingeklinkt war ein emotionales großes Foto, das eine junge Frau vor Kerzen und Blumen an einem der Tatorte zeigte. Journalisten sind meist Verstandes-Menschen, die Gefühle wenig schätzen. Doch der Leser, ob Friseurin oder Professor, langweilt sich beim Lesen der Zeitung, wenn nicht auch sein Gefühlssystem angeregt wird: Scannt er eine Zeitungsseite, dann bleibt er beim emotionalen Bild hängen und einer emotionalen Überschrift. Erst dann zählt die Information. Porträt als Königsdisziplin Die Krönung der Reportage, die eigentliche Reportage ist das Porträt. Gemeint sind nicht die dreißig Zeilen im Lokalteil zum 90. Geburtstag, der lieblos dahingeworfene Lebenslauf. Das Porträt als Reportage macht den Menschen lebendig, macht den Leser süchtig, immer mehr von einem Wildfremden zu erfahren oder Neues von einem, den man zu kennen glaubt. Den Menschen interessiert der Mensch. So ist ein guter Journalist immer einer, der die Menschen mag, so wie sie sind. Wer einen Menschen begleitet, um ihn zu porträtieren, ähnelt beim Schreiben dem Schöpfer in den ersten Tagen der Welt. Es gibt keine anspruchsvollere Form im Journalismus. Ein Neuro-Biologe wie der Braunschweiger Martin Korte gerät ins Schwärmen, wenn er schildert, was eine Reportage anrichtet: Der Leser wandert geradezu durch viele Landschaften seines Gehirns. Da sind zuerst die üblichen Landschaften, die wir kennen, wenn wir uns mit Sprache beschäftigen: Grammatik und Sprachproduktion auf der einen, die Bedeutung der Wörter auf der anderen Seite. Zudem kommt das Arbeitsgedächtnis in Bewegung: Wenn ich eine Reportage lese, muss ich mir immer merken, was passiert ist, ich muss viel zwischenspeichern. Beim Lesen brauche ich - anders als beim Fernsehen - eine räumliche und bildliche Vorstellung und muss eine Brücke schlagen können zu meinen eigenen Erlebnissen. Spätestens hier sind wir in der Landschaft der Großhirnrinde, die für die Gefühle wichtig ist, um die Personen in der Reportage bewerten zu können. Schreiben Sie in Geschichten-Form! Für den Neurobiologen ist das Lesen einer Reportage ein exzellentes Training fürs Gehirn. Er rät Journalisten: Wann immer sie die Chance haben, das, was sie berichten wollen, in Form von Geschichten zu erzählen - tun Sie es! Die Reportage ist beliebt bei den Lesern, je länger, desto besser, und sie ist anspruchsvoll - aber Vorsicht: Den Leser sollte der Anspruch nicht abschrecken. "Es ist eine journalistische Todsünde, wenn der Journalist den Leser unter seiner Klugheit leiden lässt", sagt Dieter Golombek, der vor Jahrzehnten den Lokaljournalismus neu erfand. Die neue Ära der Leserforschung: Interviews, Morphologisch, Eyetracking, Readerscan, Lesewert - Einschaltquoten für die Zeitung Doch können Redakteure die Zeitung nicht komplett mit Reportagen und Feature füllen. Die Leser mögen eine Mischung aus Kurz und Lang, aus Nachricht und Erzählung, Reportage und Kommentar, Glosse und Interview, Bild und Text. Zeitung ist der Mix aus allem. Wie finde ich ihn? Generationen von Journalisten beschworen ihr Bauchgefühl, eine Mischung aus Erfahrung, Routine, Menschenkenntnis und Intuition. Heute kennen wir eine Reihe von Methoden, um das Interesse von Lesern herauszufinden. Die älteste, immer noch beliebte Methode: Frage den Leser! Allerdings antworten nur wenige Leser ehrlich: Die meisten wollen sich als ernste und seriöse Leser zeigen und präsentieren ihr öffentliches und nicht ihr eigentliches Gesicht, sie tarnen sich. Ein Professor, der gerne die Klatsch-Seite liest, empört sich im Interview, wie solch eine Seite überhaupt gedruckt werden kann. Selbst wer sich nicht bewusst verstellt, denkt nicht nach, was und wie er liest, er hat kaum Vergleiche mit anderen Zeitungen, er macht sich keine Gedanken - wie über alles, was zur Gewohnheit geworden ist. Das beweist eine Befragung der "Neuen Zürcher Zeitung", die 2006 wissen wollte, wie die Leser über ihr Monats-Magazin "Folio" denken: Jeder vierte Leser rühmte die Rubrik "Guter Rat", die es nie gegeben hat; fast neun Prozent rühmte die Titelseite zum Thema "Katastrophen", die nie erschienen ist. Reto U. Schneider, stellvertretender "Folio"-Redaktionsleiter, schrieb dazu: "Wer sich nie mit den Feinheiten des Fragebogen-Designs auseinandergesetzt hat, weiß nicht, mit welchem Monster er es zu tun hat. Die Probleme beginnen bei der naiven Annahme, dass die Leute die Wahrheit sagen. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen lügen Menschen einige Dutzend Mal pro Tag. Warum sollten sie es ausgerechnet dann nicht tun, wenn sie eine wildfremde Person nach ihren Sexgewohnheiten und dem Monatslohn fragt? Viele Leute merken dabei noch nicht einmal, dass nicht stimmt, was sie sagen." Ein Vorteil hat die direkte Befragung: Die Redaktion kann die Wünsche und Bedürfnisse der Leser erkunden statt nur den Status Quo abzufragen. Allerdings dürften sich die meisten Leser keine Gedanken machen, was ihnen die Zeitung bieten sollte; sie können kompetent sagen, was ihnen gefällt und was ihnen missfällt - und dann ziehen sie einen Strich. Mehr über den Leser erfahren Den Leser auf die Fährte einer anderen, einer besseren Zeitung lockt die morphologische Wirkungsforschung, die beispielsweise das Kölner Rheingold-Institut anwendet. Sie untersucht bei allen Produkten und Dienstleistungen, die als Marke wahrgenommen werden: Wie gehen Verbraucher unbewusst damit um? Warum entscheiden sie sich für genau diese Marke, oft teurer als andere Produkte? Jede Zeitung ist eine starke Marke. In zweistündigen Gruppendiskussionen wollen die Psychologen erfahren, warum die Testpersonen die Zeitung lesen oder noch lesen oder nicht mehr lesen: Die Leser sitzen quasi auf der Couch und zeichnen ihr Image der Zeitung; die Psychologen entdecken die Potentiale und Gefahren. Der Vorteil für die Redaktion ist: Die Psychologen fragten geschickt, hören zu und übersetzen, was die Leser eigentlich meinen. Die Redaktion lernt die unbewusste Seite ihrer Leser kennen, also nicht nur das, was sie langweilt, sondern vor allem was sie ärgert, gar erbost und in die Abo-Kündigung treiben könnte. Der Nachteil: Es gibt keine konkreten Empfehlungen, keine To-Do-Liste; vielmehr müssen die Redakteure selbst die Lösungen finden, wie sie die Unzufriedenheit beseitigen wollen. Die Unzufriedenheit der Leser entdecken Psychologen aus den Antworten auf Fragen wie: · Hat meine Zeitung Leidenschaft? Brennen die Redakteure? Und wenn nicht: wer küsst sie wach? · Kümmern sich die Journalisten um mich, den Leser? Oder machen die Journalisten eine Zeitung für Journalisten und Honoratioren? · Leben die Redakteure gerne in der Stadt und der Region? Vermitteln sie ein Wir-Gefühl? · Wie viele Debatten brauchen Leser? · Wie einfach soll die Zeitung sein? Oder wie anspruchsvoll? · Wie seriös darf sie sein? Wie schwer? Wie viel Boulevard vertragen die Leser? · Wie weit möchten Leser schauen? Wie viel Welt - auch auf der Titelseite? Oder der tiefe Blick in die nähere Umgebung? · Hat die Zeitung eine Ordnung? Stimmt sie? · Wie viel Veränderung wünschen Leser? Wie viel würden sie ertragen - wenn man ihnen Anderes zeigt, beispielsweise den Dummy einer renovierten Zeitung? Wer wissen will, welche Artikel die Leser nicht langweilen, wer wissen will, wie intensiv sie lange oder kurze Texte lesen, der investiert in Quoten-Forschung, die nach dem Muster der TV-Einschaltquoten funktioniert: "Readerscan" und "Lesewert" beispielsweise. Oder er schaut dem Leser in die Augen - mit Hilfe von Blickverlaufsverfahren, dem Eye-Tracking (mehr dazu im 12. Teil dieser Serie: "Wie lesen Leser?"). Der Nachteil dieser Quoten-Forschungen ist: Gemessen wird nur, was erschienen ist; was Leser gerne lesen würden, bleibt außen vor. Die gut hundert Teilnehmer bei Readerscan oder Lesewert bekommen einen Scanner in Form eines Textmarkers; damit markieren sie in jedem Artikel, den sie lesen, die Zeile, mit der sie die Lektüre beendet haben - das kann die zehnte Zeile sein oder die letzte. Die Daten werden auf ein Handy übertragen, das sie zu einem Server überträgt. So bekommt die Redaktion schon am Morgen des Erscheinungstages die ersten Ergebnisse: Was ist am meisten gelesen worden? Wo bietet sich eine Nachfolge-Recherche an? Die endgültigen Ergebnisse gibt es später, denn überraschend viele lesen erst am Abend  lange Texte, für die sie beim Frühstück und vor der Arbeit keine Zeit hatten. Fünf-W-Regel wird erschüttert Manche Faustregel kommt bei der Quotenmessung ins Schwanken, wie etwa die Fünf-W-Regel für Nachrichten. Der Schweizer Carlo Imboden, der "Readerscan" erfunden hat, berichtet: "Die Leute wollen eine Geschichte lesen, sich dabei überraschen und unterhalten lassen und Hintergründiges erfahren. Bereits im Lead sämtliche W-Fragen zu beantworten, kann man getrost über Bord werfen. Nicht zu viel verraten, das lockt zur Lektüre". Readerscan stellt die herkömmliche Leserforschung vom Kopf auf die Beine. Hans-Peter Buschheuer, langjähriger Chefredakteur des "Berliner Kurier", erzählte auf einer Fachtagung des Verlegerverbands: Bei der Befragung der Leser nach Interessen und Vorlieben stand die Kultur relativ weit vorn und das Vermischte auf dem letzten Platz. Bei Readerscan fiel die Kultur durch und landete auf dem letzten Platz, während das Vermischte auf den zweiten Platz stürmte. Da es für Dauermessungen zu teuer war, entwickelte die "Sächsische Zeitung" "Lesewert", das ähnlich wie Readerscan funktioniert; es kam mittlerweile in allen "SZ"-Lokalredaktionen zum Einsatz, in Regionalzeitungen Thüringens und Sachsen-Anhalts, sogar beim "Spiegel" und demnächst beim "Luxemburger Wort". Einfacher und weniger aufwändig können Redaktionen mit Google Analytics, Webtrekk, Chartbeat Publishing oder anderen Werkzeugen herausfinden, was im Netz gelesen wird. Aber kann der Redakteur sicher sein, dass sein Text auf dem Schirm wirklich gelesen wird? Die Hälfte der Leser bleibt nicht einmal 15 Sekunden auf einer Seite, stellte Chartbeat-Chef Tony Haile fest. Er rät in einem Time-Artikel "What You Think You Know About the Web Is Wrong": Aufmerksamkeit, also wirkliches Lesen, ist wichtiger als der Klick. Dem Durchlesewert in "Lesewert" entspricht die Verweildauer auf einer Nachrichtenseite im Netz. Es gibt Artikel mit enorm hohen Klickzahlen, aber mit geringer Verweildauer; und es gibt Artikel, oft gut recherchiert und erzählt, mit relativ geringer Klickzahl, aber hoher Verweildauer. Auch in einigen Newsrooms von Zeitungen hängen mittlerweile Bildschirme, die zeigen, was online gerade gelesen wird - und die Redakteure planen um, wenn plötzlich ein Thema oft geklickt wird. Die 19 wichtigen Ergebnissen aus den Quotenmessungen: Reportage, Kolumne und das Lokale vorn, Kultur und Lokalsport wenig beachtet Dies sind Erkenntnisse aus zigtausend Artikeln in Regionalzeitungen, die Readerscan und Lesewert ausgewertet haben:

  1. Reportagen, Porträts und Features sind die Lieblinge der Leser, je länger, desto besser. Carlo Imboden, der Schöpfer von Readerscan, berichtet: "Lange Texte saugen die Leser auf! Nur bei solchen Texten merken die Leute: Ich brauche diese Zeitung!"
  2. Die Glosse, Lokalspitze oder Kolumne ist noch beliebter als die Reportage. Amerikanische Zeitungen wissen das schon lange: Kolumnisten sind die am besten bezahlten Redakteure und oft so populär wie Fernseh-Stars. Kolumnen bis hin zur Lokalspitze ("Guten Morgen") werden immer gelesen, sofern sie regelmäßig kommen und am besten den Autor im Bild zeigen. Gute Schreiber machen gute Zeitungen aus.
  3. Der Leitartikel hat überraschend hohe Quoten, aber nur wenn er eine klare, bissige Überschrift hat. Titel wie aus dem Textspeicher verscheuchen die Leser: "Zwischen den Stühlen" oder "Um Europa verdient gemacht" sind Quotenkiller. Noch intensiver werden Kommentare gelesen, wenn sie direkt neben oder in dem Bericht stehen. Bezieht sich der Leitartikel auf den Aufmacher der Titelseite und ist sein Thema ein regionales, dann bekommt er Spitzenwerte.
  4. Das Vermischte steht an der Spitze der beliebtesten Seiten. Überall ist die Klatsch-Spalte, also die kleine "Bild"-Zeitung, der Quotenrenner. Menschen und ihre Geschichten locken die Leser an. Auch wenn Mord, Totschlag und Brand stets gut gelesen werden, bleibt die Frage: Wie viel Boulevard verträgt der Leser einer Regionalzeitung? Nicht viel. Er liest alles, aber er zweifelt an der Seriosität, wenn zu viel Blaulicht in der Zeitung steht. Ein Beispiel: Ein Mörder gerät bei der Flucht vor der Polizei unter die Straßenbahn. Darf man das Foto auf der Titelseite bringen? Ja, aber nur mit einem extrem trockenen Text: "Die Polizei dokumentierte mit diesem Foto, das um 13.52 Uhr entstanden ist..."
  5. Gerichtsreportagen sind absolute Quoten-Garanten, gleich wo sie im Blatt stehen. Auch Fortsetzungen werden gelesen.
  6. Die Politik hat überdurchschnittlich viele Leser, wenn sie vom Nutzen oder Schaden für den Bürger handelt.
  7. Tagesschau-Themen dürfen nicht fehlen, wenn die Zeitung in die Tiefe geht mit Hintergrund und Analysen. In einem Interview mit der Drehscheibe erzählte Carlo Imboden, wie sich das Leseverhalten in einem Jahrzehnt allerdings radikal verändert hat: Vor gut zehn Jahren war bei der "Main-Post" in Würzburg der Lokalteil der am geringsten gelesene Teil - und das war typisch für die meisten deutschen Zeitungen; bei einer Messung des "Nordkuriers" in Neubrandenburg vor fünf Jahren stand schon das lokale Buch weit vorne. Die jüngeren Leser holen sich Mantel-Informationen bereits am Vortag aus dem Internet; mittlerweile agieren die älteren Leser zwischen 45 und 55 ähnlich. So verlagert sich ihr Interesse in der Zeitung aufs Lokale, auf neue Informationen, die viel mit dem Leben der Leser gemein haben.
  8. Titelseite: Am meisten wird das Lokale und Regionale gelesen, wenn das Thema wichtig ist. Und auch hier gilt: Wichtig ist alles, das einen Bezug zum Leben und Alltag der Leser hat, das zum Stadtgespräch taugt. Wirtschaft bekommt hohe Lesewerte, wenn es um Arbeitsplätze geht, neue Firmen und Geschäfte - und wenn Menschen im Vordergrund stehen, und die können Manager sein oder Wirte oder Verkäuferinnen auf dem Weihnachtsmarkt.
  9. Gesundheit ist das Top-Thema - mit Spitzenwerten, wenn das Krankenhaus oder der Chefarzt aus der Region kommen. Überhaupt werden Ratgeber gelesen, wenn die, die den Rat geben, Nachbarn sein könnten.
  10. Leser-Seiten, auf denen nur Leser schreiben, erreichen stets Top-Positionen; erscheint die Seite täglich und ist wie eine redaktionelle Seite gestaltet, kann sie sogar Vermischtes von der Spitze verdrängen. Auf der Seite dürfen nicht nur Leserbriefe stehen, sondern auch Leser-Fotos, -Erzählungen, -Tagebücher, sogar Gedichte.
  11. Vorder- und Rückseite der Zeitungs-Bücher bekommen von allen Seiten die besten Lesewerte.
  12. Die Kultur mögen die meisten Leser nicht. Sogar in der Hauptstadt ziehen große Konzertkritiken nicht. "Nur knapp drei Prozent lesen sie wirklich", kam bei der "Berliner Zeitung" heraus. Allerdings lesen diese Wenigen ihre Nischen-Themen besonders intensiv. 13.  Der Lokalsport wird noch weniger gelesen als die Kultur. Selbst der große Sport dümpelt dahin, es sei denn Länderspiele oder Europapokal-Spiele laufen, die auch im Fernsehen mit hohen Einschaltquoten die Massen anziehen.
    Muss man Kultur, Lokalsport und alles, was schwache Quoten bringt, aus der Zeitung rauswerfen? Nein, das kann gefährlich werden. Auch manche Seiten und Artikel, die wenig gelesen werden, gehören für die Leser zur Grundausstattung einer Zeitung. Das können in einer katholischen Gegend die Gottesdienst-Termine sein, auf dem Land die Kreisklassen-Spiele im Fußball. Schwache Quoten sollten die Redaktion zum Nachdenken anspornen, ob sie durch veränderte Rubriken, neue Präsentation und originelle Ideen die Leser wieder zum Lesen bringen kann.
  13. Spezial-Seiten, etwa für junge oder ältere Menschen, meist noch im speziellen Layout, verscheuchen die Leser. Es gibt zwei Ausnahmen: Die verständlich erklärende Kinderseite wird selbst von Erwachsenen gelesen; eine Senioren-Seite, wenn sie, wie bei der "Thüringer Allgemeinen", von einer Senioren-Redaktion geschrieben wird, die nur aus Lesern besteht.
  14. Rubriken wie Horoskop oder Sudokus bekommen schwache Quoten. Doch Vorsicht! Als eine Redaktion das Kreuzworträtsel rauswarf, konnte sie sich vor Anrufen und Briefen nicht mehr retten; Mails kamen keine. Offenbar haben Ältere das Kreuzworträtsel geschätzt, aber in der Messung war die Zielgruppe nicht oder nur schwach vertreten.
  15. Das Fernsehen ist für die Zeitung interessant. Artikel werden intensiv gelesen, die auf große TV-Ereignisse reagieren, etwa auf einen Tatort, der in der Region spielt. Als in Erfurt der erste (und einzige) Tatort spielte, hatten die Berichte dazu über Wochen hohe Quoten: Er war Gesprächsstoff in den Büros und an den Stammtischen. Hätte die "Thüringer Allgemeine" in der Zeit nicht die Quoten gemessen, wäre das Thema schnell von der Redaktion weggelegt worden: Das Beispiel zeigt, dass Redaktionen oft zu schnell ein Thema begraben mit dem Argument "Die Leser haben genug davon!" Als die "Main-Post" erstmals Readerscan einsetzte, machte sie eine ähnliche Erfahrung. Anton Sahlender, damals Stellvertreter des Chefredakteurs, berichtete: "Auf der Quote des Fernsehens aufzusetzen, ist ein Wellenreiter für die Zeitung." Themen-Kampagnen mögen die Leser, also die Verfolgung eines Themas über eine längere Zeit. Offenbar mögen die Leser nicht, dass jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird; sie schätzen es, wenn die Redaktion an einem wichtigen Thema dranbleibt.
  16. Eine Bild-Text-Schere vergrault den Leser: Foto und Überschrift müssen passen. Wenn Tarzan in der Überschrift steht und Micky Maus auf dem Foto zu sehen ist, ist der Leser nur verwirrt und zieht weiter, da kann der Text noch so gut sein.
  17. Recherche wird vom Leser honoriert - im Gegensatz zum Abdruck von Pressemitteilungen. Ist ein Thema exklusiv, investigativ und umfassend, dann interessiert es die Leser. Im Zentrum stehen alle Veränderungen: Ob es der neue Baumarkt ist, eine Baustelle oder gestiegene Eintrittspreise im Zoo.
  18. Fehler mögen einige Leser ärgern, aber sie sind keine Quoten-Killer. Thomas Bärsch, der viele Lesewert-Untersuchungen ausgewertet hat: "Im Unterschied zu ärztlichen Kunstfehlern, an denen in Deutschland jährlich Tausende Menschen sterben, richten Fehler in der Zeitung keinen irreparablen Schaden an. Sie müssen nur erkannt und korrigiert werden." Auf die richtige Mischung kommt es an Das Bärsch-Konzept für den Blattmacher: Die richtige Mischung aus Muss-, Kann- und Soll-Themen bringt den Erfolg. Wenn ein Redakteur all das beherzigt, hat er nur noch eine wichtige Fragen: Wie mische ich Tag für Tag die Themen, damit sich die Leser nicht langweilen? Thomas Bärsch, stellvertretender Chefredakteur der "Thüringer Allgemeine", hat in seinen Seminaren mit Blattmachern ein Planungs-Konzept erarbeitet. Der Leser braucht in jeder Ausgabe Muss-Themen, Kann-Themen und Soll-Themen. Thomas Bärsch erklärt sie so: · Muss-Themen muss ich gelesen haben, denn ich brauche diese Informationen unbedingt: Sicherheit, Geld, Arbeit, Bildung, Gesundheit, Ernährung, Verkehr, Wetter - also Themen, die mich unmittelbar berühren. In den Lesewert-Messungen erreichen die Muss-Themen fast immer hohe Lesewerte. · Kann-Themen kann ich lesen. Wenn ich sie nicht lese, verpasse ich vielleicht etwas Interessantes und Unterhaltsames, aber nichts Wichtiges. Viele Themen aus dem Vermischten, von Polizei und aus dem Gericht, aus Wissenschaft, Kultur und Sport gehören in diese Gruppe. Obwohl sie für die breite Leserschaft nicht wichtig sind, können sie durchaus hohe Lesewerte erreichen. · Soll-Themen sollte jeder halbwegs informierte und gebildete Mensch wissen und lesen. Wenn ich sie aber nicht lese, wird mir anscheinend nichts fehlen. Vor allem Themen aus der Politik gehören in diese Gruppe;  die Lesewerte für sie sind meist gering, dennoch sind sie für unsere Demokratie wichtig, wenn nicht gar entscheidend. Ähnliche Regeln gelten für Online-Seiten Und was unterscheidet den Artikel in der Zeitung oder einem Magazin von dem im Netz? Wenig. Nahezu alle Erkenntnisse dürften für Online-Seiten ähnlich gelten - mit einer entscheidenden Ausnahme: Die Leser im Netz sind noch ungeduldiger, springen schneller von einem Text zum anderen. Die Zahl der Artikel und Seiten in einer Zeitung ist endlich und überschaubar; das Netz ist dagegen unendlich und unüberschaubar, die nächste Chance liegt gleich einen Mausklick entfernt. "Wer erreicht auf dem Bildschirm noch die letzte Zeile?", fragte Wolf Schneider in seiner Dankesrede, als er vor fünf Jahren mit dem Henri-Nannen-Preis für sein Lebenswerk geehrt wurde. Nie gab es so viele Möglichkeiten, der Langeweile zu fliehen, schnelle Nachrichten und guten Journalismus in Fülle zu entdecken; nie war es schwerer, das Gute im Dschungel des Netzes zu finden. Nie war der Leser hektischer, nie war er ungeduldiger und maßloser, er verzeiht den Schreibern nicht den kleinsten Fehler, flieht vor der Langeweile und findet doch nur selten Maß noch Ziel. Ist das gut? Ist das schlecht? Wolf Schneider hat in der Zeit von Bleisatz und Fernschreibern den Journalismus gelernt, arbeitete sechzig Jahre im Journalismus als Verlagsleiter beim "Stern", Chefredakteur der "Welt" und Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule; er ist in den Neunzigern, schreibt noch immer und sieht, bei aller Kritik an der unendlichen Geschwätzigkeit, das Netz mit wachsender Neugier: "Ich halte mich insofern für modern, als ich im Lauf meines Lebens immer ungeduldiger geworden bin mit zu lesenden Texten. Da fühle ich mich den heute 17-Jährigen verwandt. Ich bejahe die fröhliche Ungeduld." Und mit Erstaunen sieht er, dass gerade im Netz die alten Regeln nicht nur gelten, sondern ungleich wichtiger werden - dass eben "alles, was Nannen erspürte, praktizierte, lehrte und erzwang, noch ungleich wichtiger geworden ist, als es zu seiner Zeit war". Info: Denni Klein leitet in Dresden den "Lesewert" und stellt ihn so vor: Lesewert erfasst echte Mediennutzung, aufgrund der mindestens zweimonatigen Messdauer unterstreicht das Gesetz der großen Zahlen die Aussagekraft der Werte - Hunderttausende Artikelbewertungen sind Grundlage fundierter Analysen. Experimentieren erlaubt: Die Stichprobe kann individuell zusammengesetzt werden. Parallele Messungen in verschiedenen Zielgruppen lassen ebenso wertvolle Analysen zu, wie Vergleichsmessungen in verschiedenen Ausgaben und Regionen. Den Leser erkennen: Für die Teilnehmer der Messung, aber auch für alle Leser sendet Lesewert eine wichtige Botschaft: "Wir nehmen sie ernst, ihre Meinung ist uns wichtig". Nachweislich stärkt Lesewert die Leser-Blatt-Bindung. Mehr im Netz: http://www.lesewert.de/ Lesetipp: Der Modus der besinnungslosen Betriebsamkeit Stephan Grünewald in "Die erschöpfte Gesellschaft" (Campus Verlag 2013) über das Frühstück als "Dehnungsfuge" und Start in den Tag: "Bereits durch ihr gleiches Erscheinungsbild schafft die Zeitung Vertrauen in den Tag: Egal was rund um den Globus passieren mag - solange die Zeitung noch ihr vertrautes Gesicht hat, scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Wir breiten die Zeitung morgens nicht nur wie eine Schutzwand vor uns aus, sondern wir breiten in der Zeitung auch die traumhaften und verrückten Seiten unserer Wirklichkeit aus. Das Abgründige Perverse oder Verkehrte zieht nicht nur die Bild-Leser in seinen Bann. Die Unfälle und die persönlichen Entgleisungen, die Ehekriege, die Scheidungen und die neuen Lieben, die Glücksfälle und die Katastrophen setzen die Traumlogik fort: Sie führen uns erneut das gesamte Spektrum seelischer Entwicklungsmöglichkeiten vor Augen - vom höchsten Triumph bis zum persönlichen Niedergang. Und erst nachdem wir dieses Reich des Möglichen ausgekostet haben, wenden wir uns dem politischen oder wirtschaftlichen Tagesgeschäft zu... Aus dem riesigen Flickenteppich Zeitung mit seinen Hunderten von Artikeln und Meldungen picken wir uns unbewusst die Beiträge heraus, die ein zentrales Lebensthema oder ein für uns aktuelles Tagesthema aufgreifen... Aber all diese Dehnungsfugen und Übergangsmomente werden mehr und mehr aus unserem Alltag eliminiert - zugunsten einer sauberen Aufspaltung in Arbeit und Freizeit. Die Arbeit soll effizient und freudlos sein, die Freizeit hingegen befreiend und beglückend... Die Folge ist oftmals eine Überprogrammierung der Freizeit, die wiederum in Stress ausartet. Der Modus der besinnungslosen Betriebsamkeit bleibt so auch in den freien Stunden aufrechterhalten... Schöpferische Pausen, die es ermöglichen, anders zu werden, bleiben aus." Hintergrund: Paul-Josef Raue (65) berät Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen. Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt und Marburg. Er gründete mit der "Eisenacher Presse" die erste deutsch-deutsche Zeitung. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standwerk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren im Rowohlt-Verlag erscheint. Bisher erschienen:
    • Teil 1: "Journalismus der Zukunft" am 9. Februar 2016
    • Teil 2: All journalism is local - Aber welchen Lokaljournalismus brauchen die Leser (Das Lokale) am 16. Februar 2016
    • Teil 3: "Der Lokaljournalismus muss seine Richtung ändern" am 23. Februar 2016
    • Teil 4: "Leidenschaft. Ohne Leidenschaft ist Journalismus wenig wert" (Welche Journalisten brauchen wir) am 1. März 2016
    • Teil 5: "Unsere Ausbildung stimmt nicht mehr" (Das Volontariat) am 8. März 2016
    • Teil 6: "Eine Redaktion, ein Desk und immer weniger Redakteure" (Die Organisation der Redaktion) am 15. März 2016
    • Teil 7: "Was kommt nach der Lügenpresse?" am 22. März 2016
    • Teil 8: "Die Macht der Gerüchte und die Macht der Journalisten" am 29. März 2016
    • Teil 9: "Zwei Oscars für den Journalismus - gegen die Lügenpresse (Die Kunst der der tiefen Recherche)" am 5. April 2016
    • Teil 10: "Was ist Qualität?" am 12. April 2016
    • Teil 11: "Der erste der acht Pfeiler des Journalismus: Achte Deinen Leser!" am 19. April 201
    • Teil 12: "Wie lesen Leser? - Exkurs zu 'Achte Deinen Leser!'" am 26. April 2016
    • Teil 13: "Schreibe die Wahrheit! (Der zweite Pfeiler der Qualität)" am 3. Mai 2016
    • Teil 14: "Erkläre die Welt (Der dritte Pfeiler der Qualität)" am 10. Mai 2016
    • Teil 15: "Schätze Debatten! (Der vierte Pfeiler der Qualität") am 17. Mai 2016
    • Teil 16: "Recherchiere immer! (Der fünfte Pfeiler der Qualität)" am 24. Mai 2016
    • Teil 17: "Sei fair! (Der sechste Pfeiler der Qualität)" am 31. Mai 2016 

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