Paul-Josef Raue | 7. Juni 2016 um 10:50
Auch wenn in Europa und Nordamerika die Auflagen sinken: Weltweit lesen immer mehr Menschen Zeitungen, vor allem in Asien. Dieser Händler in Nepals Hauptstadt Kathmandu ist einer von fast drei Milliarden Lesern, er findet offenbar die Themen, die ihn nicht langweilen. Foto: Paul-Josef Raue
Wir haben sie ausgewertet und die zwanzig wichtigen Ergebnisse zusammengetragen, die offenbar überall gelten, in Lokal- und Regionalzeitungen, Magazinen und Online. Erzähl Geschichten! Als die Menschen zu Menschen wurden, saßen sie am Höhlenfeuer - und einer begann zu erzählen; als das Christentum zur Weltreligion aufbrach, erzählten die Jünger von dem Wunder; als nur wenige lesen konnten, kam zuerst die Prinzessin aus tausendundeiner Nacht und später der Moritatensänger, und sie erzählten; wenn im Kindergarten das Chaos ausbricht, setzt sich die Erzieherin in eine Ecke und liest eine Geschichte vor; wenn Edeka vor Weihnachten mehr verkaufen will, kommt der einsame Opa und erfindet eine Geschichte. Die Geschichte der Menschheit sind ihre Geschichten. In vielen Redaktionen wird allerdings die Nachricht mehr geschätzt, sie sei die Pflicht, das eigentlich Journalistische, das Wahre. Die Reportage wird als Kür gesehen, als das Subjektive, als Literatur. Wenn auf der dritten Seite die große Reportage über den Parteitag steht, dann destilliert der Deskchef daraus den "nachrichtlichen" Aufmacher für die Titelseite, nüchtern, steif, aseptisch. Bericht ist die unbeliebteste journalistische Form Leser-Forschung belegt allerdings, dass der Bericht die unbeliebteste der journalistischen Formen ist: Die Leser mögen alles, was erzählt. Nur - warum soll man eine Nachricht nicht erzählen können? Das Nachrichten-Magazin "Spiegel" macht es nur; die "FAZ" oft und die "SZ" immer öfter; die großen Zeitungen der angelsächsischen Welt kennen selten anderes als einen erzählenden Aufmacher auf der Titelseite oder einen analytischen. "Die Redakteure in Amerika können noch erzählen, und sie trauen sich auch, es zu tun", steht im "Neuen Handbuch des Journalismus" im Kapitel "Die neue Seite 1" mit Beispielen aus der "Herald Tribune" und dem "Wallstreet Journal". Noch ist die Reportage, die Analyse oder der Essay selten auf der Titelseite einer deutschen Regionalzeitung. Es ändert sich langsam: Als Terroristen in Paris über 150 Menschen ermordet hatten, brach die "WAZ" mit ihrer Tradition des nachrichtlichen Aufmachers und durchbrach das übliche Titelseiten-Layout: Chefredakteur Andreas Tyrock erzählte blattbreit einen analytischen Leitartikel "Für die Freiheit"; eingeklinkt war ein emotionales großes Foto, das eine junge Frau vor Kerzen und Blumen an einem der Tatorte zeigte. Journalisten sind meist Verstandes-Menschen, die Gefühle wenig schätzen. Doch der Leser, ob Friseurin oder Professor, langweilt sich beim Lesen der Zeitung, wenn nicht auch sein Gefühlssystem angeregt wird: Scannt er eine Zeitungsseite, dann bleibt er beim emotionalen Bild hängen und einer emotionalen Überschrift. Erst dann zählt die Information. Porträt als Königsdisziplin Die Krönung der Reportage, die eigentliche Reportage ist das Porträt. Gemeint sind nicht die dreißig Zeilen im Lokalteil zum 90. Geburtstag, der lieblos dahingeworfene Lebenslauf. Das Porträt als Reportage macht den Menschen lebendig, macht den Leser süchtig, immer mehr von einem Wildfremden zu erfahren oder Neues von einem, den man zu kennen glaubt. Den Menschen interessiert der Mensch. So ist ein guter Journalist immer einer, der die Menschen mag, so wie sie sind. Wer einen Menschen begleitet, um ihn zu porträtieren, ähnelt beim Schreiben dem Schöpfer in den ersten Tagen der Welt. Es gibt keine anspruchsvollere Form im Journalismus. Ein Neuro-Biologe wie der Braunschweiger Martin Korte gerät ins Schwärmen, wenn er schildert, was eine Reportage anrichtet: Der Leser wandert geradezu durch viele Landschaften seines Gehirns. Da sind zuerst die üblichen Landschaften, die wir kennen, wenn wir uns mit Sprache beschäftigen: Grammatik und Sprachproduktion auf der einen, die Bedeutung der Wörter auf der anderen Seite. Zudem kommt das Arbeitsgedächtnis in Bewegung: Wenn ich eine Reportage lese, muss ich mir immer merken, was passiert ist, ich muss viel zwischenspeichern. Beim Lesen brauche ich - anders als beim Fernsehen - eine räumliche und bildliche Vorstellung und muss eine Brücke schlagen können zu meinen eigenen Erlebnissen. Spätestens hier sind wir in der Landschaft der Großhirnrinde, die für die Gefühle wichtig ist, um die Personen in der Reportage bewerten zu können. Schreiben Sie in Geschichten-Form! Für den Neurobiologen ist das Lesen einer Reportage ein exzellentes Training fürs Gehirn. Er rät Journalisten: Wann immer sie die Chance haben, das, was sie berichten wollen, in Form von Geschichten zu erzählen - tun Sie es! Die Reportage ist beliebt bei den Lesern, je länger, desto besser, und sie ist anspruchsvoll - aber Vorsicht: Den Leser sollte der Anspruch nicht abschrecken. "Es ist eine journalistische Todsünde, wenn der Journalist den Leser unter seiner Klugheit leiden lässt", sagt Dieter Golombek, der vor Jahrzehnten den Lokaljournalismus neu erfand. Die neue Ära der Leserforschung: Interviews, Morphologisch, Eyetracking, Readerscan, Lesewert - Einschaltquoten für die Zeitung Doch können Redakteure die Zeitung nicht komplett mit Reportagen und Feature füllen. Die Leser mögen eine Mischung aus Kurz und Lang, aus Nachricht und Erzählung, Reportage und Kommentar, Glosse und Interview, Bild und Text. Zeitung ist der Mix aus allem. Wie finde ich ihn? Generationen von Journalisten beschworen ihr Bauchgefühl, eine Mischung aus Erfahrung, Routine, Menschenkenntnis und Intuition. Heute kennen wir eine Reihe von Methoden, um das Interesse von Lesern herauszufinden. Die älteste, immer noch beliebte Methode: Frage den Leser! Allerdings antworten nur wenige Leser ehrlich: Die meisten wollen sich als ernste und seriöse Leser zeigen und präsentieren ihr öffentliches und nicht ihr eigentliches Gesicht, sie tarnen sich. Ein Professor, der gerne die Klatsch-Seite liest, empört sich im Interview, wie solch eine Seite überhaupt gedruckt werden kann. Selbst wer sich nicht bewusst verstellt, denkt nicht nach, was und wie er liest, er hat kaum Vergleiche mit anderen Zeitungen, er macht sich keine Gedanken - wie über alles, was zur Gewohnheit geworden ist. Das beweist eine Befragung der "Neuen Zürcher Zeitung", die 2006 wissen wollte, wie die Leser über ihr Monats-Magazin "Folio" denken: Jeder vierte Leser rühmte die Rubrik "Guter Rat", die es nie gegeben hat; fast neun Prozent rühmte die Titelseite zum Thema "Katastrophen", die nie erschienen ist. Reto U. Schneider, stellvertretender "Folio"-Redaktionsleiter, schrieb dazu: "Wer sich nie mit den Feinheiten des Fragebogen-Designs auseinandergesetzt hat, weiß nicht, mit welchem Monster er es zu tun hat. Die Probleme beginnen bei der naiven Annahme, dass die Leute die Wahrheit sagen. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen lügen Menschen einige Dutzend Mal pro Tag. Warum sollten sie es ausgerechnet dann nicht tun, wenn sie eine wildfremde Person nach ihren Sexgewohnheiten und dem Monatslohn fragt? Viele Leute merken dabei noch nicht einmal, dass nicht stimmt, was sie sagen." Ein Vorteil hat die direkte Befragung: Die Redaktion kann die Wünsche und Bedürfnisse der Leser erkunden statt nur den Status Quo abzufragen. Allerdings dürften sich die meisten Leser keine Gedanken machen, was ihnen die Zeitung bieten sollte; sie können kompetent sagen, was ihnen gefällt und was ihnen missfällt - und dann ziehen sie einen Strich. Mehr über den Leser erfahren Den Leser auf die Fährte einer anderen, einer besseren Zeitung lockt die morphologische Wirkungsforschung, die beispielsweise das Kölner Rheingold-Institut anwendet. Sie untersucht bei allen Produkten und Dienstleistungen, die als Marke wahrgenommen werden: Wie gehen Verbraucher unbewusst damit um? Warum entscheiden sie sich für genau diese Marke, oft teurer als andere Produkte? Jede Zeitung ist eine starke Marke. In zweistündigen Gruppendiskussionen wollen die Psychologen erfahren, warum die Testpersonen die Zeitung lesen oder noch lesen oder nicht mehr lesen: Die Leser sitzen quasi auf der Couch und zeichnen ihr Image der Zeitung; die Psychologen entdecken die Potentiale und Gefahren. Der Vorteil für die Redaktion ist: Die Psychologen fragten geschickt, hören zu und übersetzen, was die Leser eigentlich meinen. Die Redaktion lernt die unbewusste Seite ihrer Leser kennen, also nicht nur das, was sie langweilt, sondern vor allem was sie ärgert, gar erbost und in die Abo-Kündigung treiben könnte. Der Nachteil: Es gibt keine konkreten Empfehlungen, keine To-Do-Liste; vielmehr müssen die Redakteure selbst die Lösungen finden, wie sie die Unzufriedenheit beseitigen wollen. Die Unzufriedenheit der Leser entdecken Psychologen aus den Antworten auf Fragen wie: · Hat meine Zeitung Leidenschaft? Brennen die Redakteure? Und wenn nicht: wer küsst sie wach? · Kümmern sich die Journalisten um mich, den Leser? Oder machen die Journalisten eine Zeitung für Journalisten und Honoratioren? · Leben die Redakteure gerne in der Stadt und der Region? Vermitteln sie ein Wir-Gefühl? · Wie viele Debatten brauchen Leser? · Wie einfach soll die Zeitung sein? Oder wie anspruchsvoll? · Wie seriös darf sie sein? Wie schwer? Wie viel Boulevard vertragen die Leser? · Wie weit möchten Leser schauen? Wie viel Welt - auch auf der Titelseite? Oder der tiefe Blick in die nähere Umgebung? · Hat die Zeitung eine Ordnung? Stimmt sie? · Wie viel Veränderung wünschen Leser? Wie viel würden sie ertragen - wenn man ihnen Anderes zeigt, beispielsweise den Dummy einer renovierten Zeitung? Wer wissen will, welche Artikel die Leser nicht langweilen, wer wissen will, wie intensiv sie lange oder kurze Texte lesen, der investiert in Quoten-Forschung, die nach dem Muster der TV-Einschaltquoten funktioniert: "Readerscan" und "Lesewert" beispielsweise. Oder er schaut dem Leser in die Augen - mit Hilfe von Blickverlaufsverfahren, dem Eye-Tracking (mehr dazu im 12. Teil dieser Serie: "Wie lesen Leser?"). Der Nachteil dieser Quoten-Forschungen ist: Gemessen wird nur, was erschienen ist; was Leser gerne lesen würden, bleibt außen vor. Die gut hundert Teilnehmer bei Readerscan oder Lesewert bekommen einen Scanner in Form eines Textmarkers; damit markieren sie in jedem Artikel, den sie lesen, die Zeile, mit der sie die Lektüre beendet haben - das kann die zehnte Zeile sein oder die letzte. Die Daten werden auf ein Handy übertragen, das sie zu einem Server überträgt. So bekommt die Redaktion schon am Morgen des Erscheinungstages die ersten Ergebnisse: Was ist am meisten gelesen worden? Wo bietet sich eine Nachfolge-Recherche an? Die endgültigen Ergebnisse gibt es später, denn überraschend viele lesen erst am Abend lange Texte, für die sie beim Frühstück und vor der Arbeit keine Zeit hatten. Fünf-W-Regel wird erschüttert Manche Faustregel kommt bei der Quotenmessung ins Schwanken, wie etwa die Fünf-W-Regel für Nachrichten. Der Schweizer Carlo Imboden, der "Readerscan" erfunden hat, berichtet: "Die Leute wollen eine Geschichte lesen, sich dabei überraschen und unterhalten lassen und Hintergründiges erfahren. Bereits im Lead sämtliche W-Fragen zu beantworten, kann man getrost über Bord werfen. Nicht zu viel verraten, das lockt zur Lektüre". Readerscan stellt die herkömmliche Leserforschung vom Kopf auf die Beine. Hans-Peter Buschheuer, langjähriger Chefredakteur des "Berliner Kurier", erzählte auf einer Fachtagung des Verlegerverbands: Bei der Befragung der Leser nach Interessen und Vorlieben stand die Kultur relativ weit vorn und das Vermischte auf dem letzten Platz. Bei Readerscan fiel die Kultur durch und landete auf dem letzten Platz, während das Vermischte auf den zweiten Platz stürmte. Da es für Dauermessungen zu teuer war, entwickelte die "Sächsische Zeitung" "Lesewert", das ähnlich wie Readerscan funktioniert; es kam mittlerweile in allen "SZ"-Lokalredaktionen zum Einsatz, in Regionalzeitungen Thüringens und Sachsen-Anhalts, sogar beim "Spiegel" und demnächst beim "Luxemburger Wort". Einfacher und weniger aufwändig können Redaktionen mit Google Analytics, Webtrekk, Chartbeat Publishing oder anderen Werkzeugen herausfinden, was im Netz gelesen wird. Aber kann der Redakteur sicher sein, dass sein Text auf dem Schirm wirklich gelesen wird? Die Hälfte der Leser bleibt nicht einmal 15 Sekunden auf einer Seite, stellte Chartbeat-Chef Tony Haile fest. Er rät in einem Time-Artikel "What You Think You Know About the Web Is Wrong": Aufmerksamkeit, also wirkliches Lesen, ist wichtiger als der Klick. Dem Durchlesewert in "Lesewert" entspricht die Verweildauer auf einer Nachrichtenseite im Netz. Es gibt Artikel mit enorm hohen Klickzahlen, aber mit geringer Verweildauer; und es gibt Artikel, oft gut recherchiert und erzählt, mit relativ geringer Klickzahl, aber hoher Verweildauer. Auch in einigen Newsrooms von Zeitungen hängen mittlerweile Bildschirme, die zeigen, was online gerade gelesen wird - und die Redakteure planen um, wenn plötzlich ein Thema oft geklickt wird. Die 19 wichtigen Ergebnissen aus den Quotenmessungen: Reportage, Kolumne und das Lokale vorn, Kultur und Lokalsport wenig beachtet Dies sind Erkenntnisse aus zigtausend Artikeln in Regionalzeitungen, die Readerscan und Lesewert ausgewertet haben:
Paul-Josef Raue zum "Journalismus der Zukunft"
Der Lokaljournalismus muss seine Richtung ändern
Eine Redaktion, ein Desk und immer weniger Redakteure
Schätze Debatten! (Der vierte Pfeiler der Qualität)
Sei fair! (Der sechste Pfeiler der Qualität)
Langweile nicht!
Schreibe verständlich!
"Wir sind nicht im Besitz der Wahrheit"
Welche Inhalte Digitalabos bringen
Wie Chefredakteur Jens Ostrowski mit den „Ruhr Nachrichten“ weiter bei den Plus-Abos wächst. Dazu die neuesten Erkenntnisse des Datenprojekts Drive, in dem Zeitungen ihre Paid-Erfahrungen austauschen.
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