Bülend Ürük | 27. Juni 2016 um 07:42
Dass es Gabor Steingart, Vorsitzender der Geschäftsführung der Verlagsgruppe Handelsblatt, nicht an Selbstbewusstsein fehlt und er die Öffentlichkeit überaus gerne an seinen Aktivitäten, Prognosen und Weisheiten teilhaben lässt, ist allseits bekannt. Schließlich ist er der Begründer der journalistischen Newsletterkultur am frühen Morgen. Inzwischen folgen ihm Redakteure des "Handelsblatt" und berichten nicht nur über ihre Recherchen mit echtem News-Wert, sondern offensichtlich auch im Bereich "Husarenstücke". Und kommen so auch zu zweifelhaftem Ruhm. Matthias Brüggmann gilt eigentlich als erfahrener und seriöser Journalist. Brüggmann, gebürtiger Hamburger, hat bei Axel Springer volontiert, war dann unter anderem als Korrespondent in Moskau, Warschau und Brüssel. Brüggmann, heute Auslandschef vom "Handelsblatt", veröffentlichte am Freitag unter der Überschrift "Ein Journalisten-Trick geht um die Welt" einen Bericht darüber, wie er sich - getarnt mit einem Papphut in den britischen Landesfarben und mehreren Union Jack im Revers - als vermeintlicher EU-Austrittsbefürworter auf die Wahlparty der rechtskonservativen Partei Ukip eingeschlichen habe und so "an einige interessante Informationen" gekommen sei. Gewollt oder nicht: Dabei hat er der Weltpresse ein Schnippchen geschlagen. Fotografen aller großen Nachrichtenagenturen ließen sich das Motiv nicht entgehen. Mitarbeiter von Reuters, Agence France Press (AFP), Associated Press (AP) (Bild von Press Association) und der European Pressphoto Agency (EPA), die auch die Deutsche Presseagentur (dpa) beliefert, machten Fotos von dem scheinbaren Leave-Fanatiker und schickten sie um den Globus. Bis auf EPA erklärten die Nachrichtendienste in ihren Bildunterschriften den deutschen Journalisten zu einem "EU.Leave Supporter", also einem Unterstützer des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union. EPA sprach neutral von einem "Mann, der auf ein Ergebnis der Stimmenauszählung auf einem Bildschirm reagiert". Im Original heißt es: "A man reacts to a vote count results screen at an 'Leave.EU Referendum Party' in London, Britain, 23 June 2016." Für drei kurze Interviews Der Umstand, dass die Bilder um die Welt gegangen seien und er es "sogar in den Aufmacher der Onlineausgabe des Londoner 'Evening Standard' geschafft" habe, lasse "tief blicken in Britanniens Medienlandschaft", schreibt Brüggmann in seinem Bericht: "Als Deutscher hatte ich natürlich gar kein Stimmrecht. Das Foto taugt also nichts für eine solche Story." Er habe sich verkleidet, "um möglichst dicht an die Ukip-Führung heranzukommen. Insgesamt drei kurze Interviews mit Ukip-Chef Nigel Farage, Englands größtem EU-Hasser, habe ich in den letzten vier Tagen bekommen. Und in der Nacht bekam ich sogar auf den Handys von Farage-Beratern interne Zahlen gezeigt und Insiderinformationen aus der Führung der rechtspopulistischen Anti-EU-Partei sowie den Brexit-Anhängern der Labour Party gesteckt." Brüggmann kommt zu dem Schluss: "Die britischen Medien interessieren solche Hintergründe nicht. Sie fotografieren und filmen einfach, und veröffentlichen die Bilder mit ihren Geschichten dazu - ohne je gefragt zu haben, wer derjenige auf dem Bild ist." Dutzende Fotografen und TV-Kameras hätten ihn aufgenommen, "fast alle Boulevard-Blätter und Gratis-Tabloids" ein Interview gewünscht. "Ungefragt nutzen sie nun die Bilder für ihre Geschichten." Abgesehen davon, dass sich das "Handelsblatt" bei Agenturfotos auch - und zwar generell - auf die Richtigkeit der Bildunterschriften verlassen und kaum jedes Mal nachfragen dürfte, ob es sich bei den Abgebildeten wirklich um SPD- oder AfD-Anhänger handele, hat Brüggmann in seiner Kritik durchaus recht. Dass Fotografen noch nicht einmal nachfragen, wen sie da eigentlich ablichten, kann natürlich kritisiert werden. Der Mann, den Brüggmann mimte, war ja nicht irgendein Anwesender, sondern einer, den auch ein Fotograf durchaus hätte fragen können: Wer sind Sie und was tun Sie hier? Härteste Maßnahme in der Branche Die Agenturen haben dann auch konsequent, kaum das bekannt wurde, dass der vermeintliche Brexit-Anhänger ein deutscher Journalist war, ihren Fehler eingestanden, reagiert und das Foto sofort zurückgezogen. Dabei gilt ein "Kill", wie die Agenturen die Rücknahme einer News oder eines Fotos nennen, als härteste Maßnahme in der Branche, weil sie Ausdruck eines groben Fehlers ist. Im Gespräch mit kress.de haben die Agenturen am Wochenende den "Kill" bestätigt. Für die Deutsche Presse-Agentur, die das Foto von der EPA übernommen hatte, erklärte Nachrichtenchef Froben Homburger, die Agentur habe das Foto umgehend zurückgezogen, obwohl der Text darunter formal korrekt gewesen sei: "Dennoch erweckte das Bild im Kontext der gesamten Berichterstattung natürlich den Eindruck, dass es sich bei der fotografierten Person um einen britischen Brexit-Anhänger handelt. Diesen Eindruck wollten wir transparent korrigieren, nachdem er sich als falsch herausgestellt hatte", betonte Homburger am kress.de-Telefon. Wenn dpa-Fotografen Einzelpersonen ablichteten, fragten sie diese "in der Regel nach ihrem Namen und nach dem Grund, warum sie jetzt an diesem Ort sind". In bestimmten Situationen, etwa bei Großveranstaltungen, sei das aber nicht immer möglich. Homburger nannte als Beispiel die Fußball-Europameisterschaft, wo immer wieder "einzelne, bunt kostümierte Fans" fotografiert würden, "ohne sie jedes Mal fragen zu können, ob sie tatsächlich Fußballfans des Landes sind, dessen Trikot sie tragen." In Zweifelsfällen "schreiben wir in den Bildtext sehr präzise nur das, was wir ganz sicher wissen", auch wenn sich - wie im konkreten Fall - "manchmal fast kurios nüchtern liest". Yacine Le Forestier, Direktor AFP Weltdienst Deutschland und Co-Geschäftsführer der AFP GmbH, sagte, als bekannt geworden sei, dass es "sich um ein 'Fake' handelt und dass die männliche Person auf dem Foto nicht diejenige ist, für welche er sich ausgegeben hatte, haben wir dieses Foto aus der Foto-Datenbank der AFP zurückgezogen und unsere Kunden informiert." Vor der Aufnahme und Verbreitung des Bildes habe "es keinen Anlass" für AFP gegeben, "einen Schwindel zu vermuten. Unsere Fotografen können nicht systematisch, wenn sie über eine politische Veranstaltung oder zum Beispiel ein Fußballspiel berichten, a priori bezweifeln, dass die dortigen Anhänger beziehungsweise Fans nicht diejenigen sind, wofür sie sich ausgeben." Bei AFP verboten Das Vorgehen des "Handelsblatt"-Journalisten sorgte bei Le Forestier und den anderen Agentur-Sprechern durchaus für Irritationen. AFP-Mann Le Forestier wies daraufhin, "dass unsere internen Regeln bei AFP es verbieten, dass sich unsere Journalisten mit einer falschen Identität oder Funktion ausgeben mit dem Ziel, sich somit Zugang zu Informationen zu verschaffen". Auch Paul Colford, Director AP Media Relations, und Reuters-Kommunikations-Chefin Abbe Serphos erklärten, dass ihre Häuser die Fotos sofort zurückgezogen hätten, als klar war, dass es sich bei dem Motiv um den "Handelsblatt"-Auslandschef handelt, der die Weltpresse zum Narren hielt. Welchem Zweck diente die Aktion? Was war das Ziel? Was haben ein Journalist und seine Leser davon, wenn der Reporter "auf den Handys von Farage-Beratern interne Zahlen gezeigt und Insiderinformationen aus der Führung der rechtspopulistischen Anti-EU-Partei sowie den Brexit-Anhängern der Labour Party gesteckt (bekam)", wo doch an diesem Abend allein das Endergebnis interessierte und - vor allem - zählte? Kurzum: Wo ist der Mehrwert für die Leser? Mathias Brüggmann reagierte auf Anfrage von kress.de nicht. Auch die Verlagsgruppe Handelsblatt wollte keine Stellung beziehen. Sprecherin Kerstin Jaumann teilte lediglich mit: "Die Aktion war gut und ist bereits ausreichend erklärt."
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