6. Oktober 2016 um 08:08
Thomas Leif
"Die Wirtschaft boomt; um unseren Sozialstaat beneidet uns die Welt; Arbeitslosigkeit kennen die meisten nur vom Hörensagen." Ein simpel reduzierter Dreiklang, lässig und ahnungslos. Dieser Ohrwurm stammt nicht von den hocheffizienten Lobby-Maschinen vom Typ der 'Familien-Unternehmer'. So kommentierte ein WDR5-Journalist vor wenigen Tagen die ihn irritierende "Kanzlerdämmerung" im Morgenecho. Diese immer wieder beklagte Mainstream-Position der Medien hat sich über die Jahre zu einem unerschütterlichen Glaubensbekenntnis gefestigt. Doch die rosigen Beschäftigungszahlen werfen einen langen Schatten: fast vier Millionen Menschen sind unterbeschäftigt (ohne Kurzarbeit), Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in Europa - 20 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten an der unteren Lohngrenze; eine zementierte Langzeitarbeitslosigkeit, grassierende Kinderarmut und für Millionen drohende Altersarmut gehen medial meist unter. Oliver Nachtwey hat diese Entwicklungen in dem aktuellen Titel "Die Abstiegsgesellschaft" aufgearbeitet. Er analysiert auch die Folgen von fast einem Drittel prekärer Arbeitsverhältnissen. Auch wenn fast alle Facetten der Armut in Deutschland empirisch sehr präzise nachgewiesen sind, passt das vollständige Datenbild offenbar nicht in die verbreitete Wirtschaftsboom-Kulisse. Parallel zu dieser Wirtschafts-Wunderland-Berieselung wird nicht nur in Spartenkanälen immer intensiver über vielfältige Phänomene der Armut in einem reichen Land berichtet. Die Betonung liegt auf berichten - die Analyse der Ursachen und Folgen zunehmender sozialer Ungleichheit und die Zementierung eines Armutssektors stehen nur selten im Zentrum. Festzustellen ist also ein gemischtes Meinungsbild, zwei Interpretationswelten stehen unversöhnt und unaufgeklärt nebeneinander. Zwischen "Hörensagen" und anonymen "Zahlensalat" "Jeder fünfte Deutsche ist von Armut bedroht." Dieser amtliche, immer wieder bestätigte Befund des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2014 schreckte viele auf; ein Alarmzeichen für den im Grundgesetz garantierten Sozialstaat. 20,6 Prozent und damit 16,5 Millionen Menschen sind demnach von Armut bedroht. Skandalzahlen, die das Leistungsversprechen des Wohlfahrtsstaates mit harten Fakten dementiert. Diese offiziellen Zahlen sind unter Experten jedoch höchst umstritten, auch weil die Definition der "relativen" Armut ein statistischer Wert sei, der statistisch nicht erfasste Unterstützungsquellen wie zusätzliche Vermögenswerte oder Hilfen von Familienangehörigen nicht berücksichtige. Führende Wirtschaftsforscher verbindet zudem die Einsicht, dass (Fach)-Politiker auf die alarmierenden Armutszahlen mittlerweile "abgestumpft" reagieren. Ihr Credo: Dramatisierung befördert Abstumpfung, Statistik relativiert sich selbst, Einnahmequellen jenseits staatlicher Hilfen werden ausgeklammert. Grundrauschen der Medienberichterstattung Diese Erzählungen prägen das Grundrauschen der Medienberichterstattung. Aber - offenbar haben die regelmäßig erscheinenden Armutsberichte von Bund und Ländern und die Faktenlage des Statistischen Bundesamtes die Wahrnehmung verändert. Besonders im vergangenen Jahr ist das Armutsthema aus dem Schatten der (weitgehenden) Nichtbeachtung in den Fokus der Aufmerksamkeit aufgestiegen. Die statistischen Armuts-Befunde sind 'Tagesschau-und-Bild-tauglich' geworden. Selbst die Macher vom "Unterschichtfernsehen" RTLII präsentierten Anfang Juli einen Themenabend "über das Leben unter der Armutsgrenze und über Altersarmut." Eine Armutsshow als Samstagabend-Unterhaltung in der Primetime? Meist bleibt es aber bei den anonymen, gesichtslosen Zahlen und einem Puzzle an Einzel-Schicksalen, ohne die politischen Strukturen hinter den Armutszahlen aufzuhellen, zu gewichten und wirksame Korrekturen aufzuzeigen. Kampf um Interpretationshoheit Die Beschäftigung mit dem Themenfeld Armut ist stets auch ein Kampf um die Interpretationshoheit. Wird mit den Zahlen und Ziffern übertrieben, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und Stimmung zu machen - oder wird verharmlost, um das tabuisierte "Skandalthema" einzuhegen und die beklagten Lebensverhältnisse aus der Welt der Armen in normales, unspektakuläres Fahrwasser zu navigieren? Dieser dauernde Interpretationskampf spiegelt sich in der gesamten Medienberichterstattung. Denn die dokumentierte Armutsbilanz in Deutschland ist eine permanente Imageverletzung der Postulate der sozialen Marktwirtschaft. Gezielte Verharmlosung und perfide Ablenkung treffen heute - wie ein medialer Cocktail - auf alarmierende Statistiken und anonyme (Einzel)-Schicksale. Bezogen auf die Sachauseinandersetzung fehlt es Journalisten meist an der notwendigen Klärungsenergie: was stimmt, welche Positionen und Interpretationen der Daten sind korrekt oder welche Befunde sind interessengeleitet oder gezielt verwirrend? Kurz: Das Thema Armut ist das Fahnenwort für die Grundfrage der Gerechtigkeit im deutschen Sozialstaat, für Oben und Unten, für die Frage der Legitimation einer (un)gerechten Politik, für die mangelnde Repräsentanz der sogenannten Unterschicht, für Ausbeutung im Niedriglohnsektor und die wachsende Schere zwischen Arm und Reich. In diesem Sinne ist Armut ein Magnetbegriff, der für die zunehmende gesellschaftliche Spaltung und oft kaschierte Chancen-Ungerechtigkeit steht. Im Kern ist damit die Frage angesprochen - wer hat etwas zu verlieren? Wer hat etwas zu gewinnen? Wer wird wie und warum benachteiligt? Welche Gruppen sichern sich (Steuer)-Privilegien? Strategisches Symbolthema "Kinderarmut" Unbestritten ist, dass die Kluft zwischen Reichen und Armen in Deutschland immer größer wird; die Schlüsselbegriffe "zunehmende soziale Ungleichheit" und der drohende "Abstieg der Mitte der Gesellschaft" haben Konjunktur. Besondere "Aufreger-Qualität" und "Gesprächswert" - um diese heute entscheidenden Selektionsbegriffe der Redaktionen zu nutzen - hat derzeit aber lediglich ein besonders emotionales 'Armuts-Segment'. Die steigende Kinderarmut, auch weil die Zukunftschancen von jedem fünften Kind mehr als düster aussehen. Nur bei der verstärkten Unterstützung der von Armut betroffenen Kinder gibt es parteiübergreifend zumindest einen angekündigten Konsens. Kinderarmut ist ein "Angeh-Thema", wie es im CvD-Code heißt. Selbst wirtschaftsnahe Wissenschaftler und deren potenten Lautsprecher sowie Unternehmensvertreter haben das "Problem" identifiziert. Nicht zuletzt weil damit das Postulat der sozialen Mobilität und das heimliche Versprechen des sozialen Aufstiegs für jeden - unabhängig von Herkunft und finanziellen Status der Eltern - zur leeren Hülle wird. Befördert wird die Sorge um Kinderarmut durch den Befund der OECD, dass Armut zumindest in drei Viertel der Fälle "vererbt" und damit dauerhaft stabilisiert wird. Zudem kann es sich das grauer werdende Deutschland nicht länger leisten, auf das Potential von möglichen, gut ausgebildeten Fachkräften zu verzichten. Das kommunikative Ritual auf allen Kanälen: hier müsse der Staat handeln, um mehr Chancengerechtigkeit für "arme" Kinder und damit bessere Aufstiegschancen unabhängig vom Einkommen der Eltern zu ermöglichen. Es bleibt aber meist bei diffusen Appellen an den Sozialstaat, der seine Sozialbudgets und Bildungsressourcen effektiver umverteilen solle. Der Grund für die Aufmerksamkeit - bei "armen Kindern" schwingt weitgehend ungefiltert das schlechte Gewissen mit. Kinder können ja nicht für das von den Eltern verschuldete Armuts-Ghetto verantwortlich gemacht werden. Trotz der Bekenntnisse: Konkrete Umsetzungsschritte zur Bekämpfung der (Kinder)-armut oder gar effektiver Bildungschancen für Alle sind derzeit nicht erkennbar. Diese Kluft zwischen Reden und Handeln beim Thema Kinderarmut birgt für Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und engagierte Sozialpolitiker die größte Chance Wirkungsmacht zu entfalten. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Was sind die Gründe für das skizzierte gespaltene Medienbild? Wer prägt den Interpretationsrahmen beim Thema "Armut", welches Eindruckserweckung dominiert? Warum wird in den Medien zu selten über die Ursachen und Konsequenzen der dramatischen statistischen Befunde berichtet und mit gesicherten Argumenten und Faktenchecks gestritten? Welche Fehler machen die "Advokaten" des Armuts-Diskurses bei der Vermittlung des Themas? Einzelschicksale als Publikums-Angebot für den sozialen Abgleich nach Unten Ein Fallbeispiel: Frau Weber (50) hat so ziemlich alles erlitten, was mit dem Begriff "Schicksalsschläge" nur verharmlosend umschrieben wäre. Die frühere Bürokauffrau aus Ost-Berlin hat eine Ausbildung gemacht, sich weitergebildet, aus einer gewaltgeprägten Ehe herausgewunden und schwerste Krankheiten überstanden. Aber - nach ihrem Sturz vor zehn Jahren und den Nachwirkungen eines Schädelbruchs kam sie nicht mehr auf die Beine. Mittlerweile ist sie nahezu erblindet, leidet unter den Folgen einer schweren Krebserkrankung und einem schmerzhaften Bandscheibenschäden. Ihr Leben ist heute nur noch von einem Kampf um ihre berechtigten Versorgungsbezüge gegen die Sozialbehörden geprägt. Ein Kampf, den sie weitgehend allein und ohne Hilfe führt. Sie kämpft seit sechs Monaten um die Grundsicherungs-Ergänzung ihrer "schmalen" Erwerbsminderungs-Rente (derzeit erhält sie 730 Euro). Trotz eindeutiger medizinischer Gutachten wird ihr Antrag auf Blindengeld verschleppt. Fast ein Jahr hat sie kämpfen müssen, um eine zusätzliche Grundsicherung von 136 Euro zu bekommen. Nicht nur hier ist auffällig: der bürokratischer Kampf mit den Ämtern zermürbt die "Antragsteller", die Schikanen der zuständigen Behörden (Jobcenter, Sozialamt etc.) sind schier unglaublich. Aber auch die Zurückhaltung von betreuenden Verbänden, die sich scheuen eine Untätigkeitsklage gegen die zuständigen Behörden auf den Weg zu bringen, zeigen ein typisches Bild, wie mit "Armen" und ihren gesetzlich gesicherten Ansprüchen umgegangen wird. Auch Anwälte, die auf Basis der Prozesskostenhilfe arbeiten, kalkulieren meist die Dosis ihres Engagements. Eigentlich gehörte dieses verdrängte Thema der beauftragten Willkür der Behörden auf die jährliche Liste der Initiative Nachrichtenaufklärung. Einzelfälle oder systemisches Problem? Was folgt aus diesem Befund für die Regel-Medienberichterstattung? Armut ist meist gesichtslos, die Scham der Betroffenen spielt eine große Rolle. Kaum jemand möchte sein Leben vor der Kamera ausbreiten oder in der Lokalzeitung präsentieren. Gelegentlich tauchen diese Einzelfälle in den Sonderspalten oder populären "Ombuds-Formaten" auf, wo auf die traurigen Einzelschicksale aufmerksam gemacht wird. Nach dem Motto: Die Redaktion interessiert sich für die Menschen 'ganz unten' und schaut den Behörden auf die Finger. Zu oft werden diese Einzelfälle aber von den Redaktionen funktionalisiert für die Eigenwerbung: "Schaut her, wir kümmern uns." Für die Leser und Zuschauer bleibt am Ende das Gefühl "Gott sei Dank geht es mir nicht so . . ." . Entlang von Einzelschicksalen kann jeder Medienkonsument dann seinen persönlichen Abstand nach Unten messen. Die gelegentliche Berichterstattung über einzelne (meist in der Kälte verstorbene) Obdachlose, Langzeitarbeitslose oder Menschen mit geringer Erwerbsminderungsrente vereinzelt das strukturelle "Thema Armut". Festzuhalten ist - der direkte Kontakt zu den abgehängten 20 Prozent steht nicht im Blickfeld der Aufmerksamkeit von Politikern, Medien und Bürgern. Auch weil Armut oft mit sozialer Ausgrenzung und Rückzug in ausgelagerte Quartiere verbunden ist, mit denen sich die Mehrheitsgesellschaft nicht konfrontiert. Gesellschaftliche Mehrheit gegen die zunehmende soziale Ungleichheit 82 Prozent der Deutschen halten die Ungleichheit in Deutschland für zu groß: Dies ist der zentrale Befund einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von Anfang Juli. Ein eindeutiges Plädoyer für einen stabilen Sozialstaat, offenbar mit geringen Nachrichtenwert. Solche Ergebnisse greift vielleicht noch das "Neue Deutschland" von Chefredakteur Tom Strohschneider auf. Sie stören die Wahrnehmung vom Hörensagen. Die Auswertung der Studienergebnisse sind aber auch ein Fundus für überzeugende Argumente, die die aufkeimende Debatte über die zunehmende "Soziale Ungleichheit", begleiten und stützen könnten. Die deutliche Anhebung des Rentenniveaus soll Thema im Wahlkampf 2017 werden; die SPD denkt wieder an die Einführung einer Vermögenssteuer. Und beim 'linken' Flügel der Grünen scheint klar, dass die Frage der sozialen Umverteilung aus einem Steuerkonzept 2017 nicht - wie von wirtschaftsnahen Medien empfohlen - ausgeklammert werden darf. Sprecherin Simone Peter ist überzeugt: "Die Vermögenssteuer wirkt viel zielgenauer als die Erbschaftssteuer und bringt jährlich 10 Milliarden Euro für Investitionen." Ganz anders sieht das der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Er warnt vor "Standortverlagerungen" von Unternehmen und Belastungen des Mittelstandes. Der Verzicht auf eine stärkere Belastung von Vermögen über einer Million gehört für ihn zu den "Lockerungsübungen", die auf dem Weg zuder von ihm angestrebten schwarz-grünen Koalition im Bund nötig seien. Auch dieser noch ungeklärte Streit zeigt: Die Vernachlässigung des Armutsthemas und die Tabuisierung einer ausgleichenden Steuerpolitik sind zwei Seiten einer Medaille. Das verzerrte mindset in der sozialpolitischen Berichterstattung Medien in der Gesamttendenz haben einige wesentliche Defizite, die in den gründlichen Studien immer wieder begründet und belegt werden. In der Berichterstattung fehlt es an Kontext und historischen Fundament; der Mainstream und die Übernahme von konfektionierten Material und einfachen Argumentations-Mustern dominiert. Authentische Beobachtungen und genaue Zeugenschaft von tatsächlich Betroffenen hat es - jenseits von Nischenprogrammen - schwer. Die "notleidende" mediale Resonanz des Themas "Armut" hat aber auch hausgemachte Gründe:
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