Jochen Zenthöfer | 6. Oktober 2016 um 11:57
Prof. Dr. Boris P. Paal, M.Jur. (Oxford), Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakulätet der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Geklagt hatte ein italienischer Staatsbürger, der eine unangenehme, aber faktisch richtige Berichterstattung über ein Gerichtsverfahren gelöscht sehen wollte. Das Gericht gab ihm recht: Es sei ausreichend, wenn der Artikel zweieinhalb Jahre im Internet auffindbar sei, danach entfalle das öffentliche Interesse. Der Freiburger Medien- und Informationsrechtler Boris Paal gibt gegenüber kress.de Entwarnung: "Es ist nicht zu erwarten, dass der Europäische Gerichtshof den vom italienischen Gericht offenbar entwickelten Ansatz einer pauschalen Frist eins zu eins übernimmt. Vielmehr wägt gerade der Europäische Gerichtshof in jedem Einzelfall die betroffenen EU-Grundrechte ab. In diesem Zusammenhang erfolgt eine individuelle Prüfung der Verhältnismäßigkeit." Das "Recht auf Vergessenwerden" wurde nach der berühmten Google-Spain-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahre 2014 entwickelt. Es ist nun in Artikel 17 der Datenschutz-Grundverordnung vom 4. Mai 2016 auch gesetzlich verankert, der ein Recht auf Datenlöschung kennt. Doch dieses Recht gilt nicht unbegrenzt. "Abzulehnen ist die Festlegung eines pauschalen Zeitraums, in dem Artikel in einem Online-Archiv abrufbar sein dürfen. Ein solcher Ansatz würde das Recht auf Privatsphäre der betroffenen Person gegenüber konkurrierenden Rechten Dritter, etwa dem Informationsinteresse der Allgemeinheit, in unzulässiger Weise verabsolutieren", meint Paal, der in Deutschland, Großbritannien und den USA studiert hat. Für ihn ist überdies die Frage spannend, ob ein betroffener Datenverarbeiter (etwa Google) das Auslisten von Suchergebnisse auf die einzelne Top-Level-Domains (bspw. ".de" oder ".fr") bzw. auf Top-Level-Domains aus EU-Mitgliedstaaten beschränken darf. So hat sich Google gegen eine ähnliche Entscheidung in Frankreich gewandt, die internationale Anwendbarkeit verlangt: "We comply with the laws of the countries in which we operate. But if French law applies globally, how long will it be until other countries - perhaps less open and democratic - start demanding that their laws regulating information likewise have global reach?" In Deutschland besteht grundsätzlich keine Pflicht, die Abrufbarkeit von Inhalten eines Online-Archivs nach Ablauf einer pauschalen Frist zu beschränken oder sogar gänzlich zu unterbinden. Vielmehr hängen Einschränkungen betreffend die Abrufbarkeit - bis hin zur Löschung - von Inhalten unmittelbar ab und von dem konkreten Einzelfall. "Von zentraler Bedeutung sind insoweit die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Berichterstattung und die Schwere des bewirkten Grundrechtseingriffs", erklärt Paal. In Italien wird das Urteil stark kritisiert, weil es den Tod von Online-Archiven bedeuten würde. Der italienische Medienrechtler Guido Scorza, der nicht in das Verfahren involviert war, etwa schreibt: "The right to report information has an expiry date just like milk, yogurt or a pint of ice cream. That's essentially the summarized, non technical version of the of the Italian Supreme Court of Cassation." Scorza weist darauf hin, dass das Gerichtsverfahren, über das nichts mehr im Internet zu finden sein soll, keineswegs abgeschlossen, sondern immer noch anhängig ist. Der Sachverhalt sei also weiterhin von öffentlichem Interesse: "The whole story appeared like a schoolbook case of a judicial error, a macroscopic misinterpretation of the right to be forgotten, and that the Court's decision was bound to be repealed and cancelled from history by the judges."
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