Ab wann ist Abschreiben "Inhalte-Diebstahl"?

Bild.de und Focus Online (Chefredakteur Daniel Steil, Foto) liegen seit Jahren im Clinch über das Thema Abkupfern. Die rechtliche Frage ist die eine. Sie soll nun vor Gericht geklärt werden. Die andere lautet: Wo liegt beim "copy and paste" die Schmerzgrenze? Eine kritische Analyse.

Thomas Schmoll | 17. Januar 2017 um 16:36

Bild.de und Focus Online liegen seit Jahren im Clinch über das Thema Abkupfern. Die rechtliche Frage soll nun vor Gericht geklärt werden. Im Bild: Focus-Online-Chefredakteur Daniel Steil

Julian Reichelt, Chefredakteur von Bild.de

Kai Diekmann, Herausgeber der "Bild"-Gruppe

Kurz vor seinem Abgang hat es Kai Diekmann noch einmal allen gezeigt: dem Springer-Konzern, den Kollegen, Deutschland und dem Rest der Welt. Er war es, der für "Bild" ein Interview mit Donald Trump an Land gezogen hat, über dessen Inhalt nun die ganze Welt redet. Das nennt man einen Scoop. Scoops funktionieren allerdings nur dann, wenn andere Medien darüber berichten. Für das Trump-Interview gilt das auf alle Fälle. Es war - zumal gemeinsam mit einem Kollegen der Londoner "Times" geführt - ein weltweit beachtetes Meisterstück, wie immer man inhaltlich zu Trumps Aussagen und Diekmanns Fragetechnik stehen mag.  

Sämtliche seriöse und unseriöse Newsportale Deutschlands haben die Aussagen Trumps gebracht - obwohl es hinter der Paywall namens "Bild plus" verborgen war. Springer hat dagegen nicht protestiert. Diese Art des Namedroppings erfreut die Marketing-Abteilung und gibt sowohl den Mitarbeitern der "Bild"-Zeitung im Allgemeinen als auch Diekmann im Speziellen das Gefühl fortgesetzter Wichtigkeit im Zeitalter drastischer Ansehens- und Auflagenverluste der etablierten Medien.   

Auch Focus Online hat Trumps Äußerungen über die angeblich "obsolete" Nato und die 35-Prozent-Steuer zu Lasten deutscher Autobauer verbreitet. Seit Jahren schreibt das Portal exzessiv "Bild plus"-Geschichten ab. Seit Jahren streiten die Chefredakteure Julian Reichelt (Bild.de) und Daniel Steil (Focus Online) darüber, ohne sich auch nur leicht anzunähern. "Wir haben einzelne Fälle gegenüber Focus Online zunächst im Guten kritisiert - ohne Erfolg", gesteht Reichelt inzwischen ein.

Nun will Springer dem "Inhalte-Diebstahl", wie es Reichelt nennt, ein Ende bereiten und klagt gegen Steils Unternehmen vor dem Landgericht Köln (mit guten Chancen wie Experten gegenüber kress.de darlegen). Die Springer-Juristen sind zur Überzeugung gekommen, dass das Burda-Portal "systematisch vorgeht und unsere exklusiven Geschichten stiehlt und verwertet, um auf diese Weise kostengünstig, ohne jedes redaktionelle Investment, die eigene Reichweite zu erhöhen". Oft werde "unmittelbar nach der Erstveröffentlichung" abgekupfert. Erklärtes Ziel der wettbewerbs- und urheberrechtlichen Klage ist Reichelt zufolge "Unterlassung, Auskunft und Schadensersatzfeststellung". Er sagt: "Mit diesem Verhalten greift 'Focus Online' das Geschäftsmodell einer ganzen Branche an - dagegen müssen wir uns wehren."

Abschreiben heißt jetzt Kuratieren

Die Argumentation klingt - nicht nur aus Sicht von "Bild" - überaus plausibel und nachvollziehbar. Es ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Zwar ist die Dreistigkeit, mit der Steil sich bei "Bild plus" bedient, eklatant. Der Mann, der einst selbst von "Bild" zu Burda wechselte, ordnet alles der Strategie unter, sein Portal auf Wachstumskurs zu halten - und sei es noch so journalistisch fragwürdig oder verwerflich.

Doch macht Steil am Ende "nur" das, was mehr oder weniger die Norm im Journalismus des 21. Jahrhunderts ist. Das Internet ist ein Selbstbedienungsladen. Es ist absolut Usus, von Websites überall in der Welt abzupinnen, weil das leichter, schneller und billiger ist, als eigene Geschichten zu recherchieren und aufzuschreiben. Abkupfern - egal, ob freundliche oder feindliche Übernahme - ist gängige Praxis und sogar Geschäftsmodell, auch wenn die gemopsten Wörter mit redaktionellen Girlanden wie Quellenangaben geschmückt werden. (Der Autor dieser Zeilen weiß aus eigener, wenig glorreicher Erfahrung, wovon er schreibt.)

Auch die digitale "Bild"-Zeitung ist täglich voll dieser Geschichten, wo erst im dritten oder vierten Absatz die Quelle kommt. Auf eigene Recherche wird verzichtet. Stets wird nach dem Motto verfahren: "Das wird schon stimmen." Wenn doch nicht, war es eben eine "Fake News". Schwamm drüber. Damit es nicht auffällt, bedienen sich die Protagonisten eines uralten Tricks zur Verschleierung von Missetaten: Man gibt der Sache einen neuen Namen. Im Journalismus des digitalen Zeitalters heißt "copy and paste" Kuratieren. Aber bloß, weil der mehr oder weniger dreiste Klau nicht Diebstahl genannt wird und im strafrechtlichen Sinne - außer bei gröbsten Verstößen gegen journalistische Normen - tatsächlich keiner ist, ist er nicht weniger angreifbar.

Gegen die Übernahme-Praxis ist prinzipiell noch nicht einmal etwas einzuwenden, wenn es sich um ein faires Geben und Nehmen handelt. Schließlich ist eine übernommene Geschichte Werbung für den Urheber derselbigen. Seit Jahrzehnten ist es Brauch, dass "Spiegel", "Süddeutsche Zeitung", "stern" oder eben "Bild" ihre "exklusiven" - was ist heute noch länger als 30 Minuten exklusiv? - Vorabmeldungen den Nachrichtenagenturen übermitteln. In manchen Redaktionen nennt man sie "Klappern". Klappern gehört ja bekanntlich zum Handwerk. Es geht darum, größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzielen.

Blick aufs Zitate-Ranking

Es gab Zeiten, da riefen PR-Leute, auch von Springer, bei den CvDs von AP, Reuters und anderen Nachrichtenagenturen an und fragten: "Haben Sie unsere interessante Meldung zu XY gesehen? Machen Sie noch etwas dazu?" Denn je öfter die Nachricht in Funk und Fernsehen verlesen oder in Zeitungen gedruckt wurde, desto höher war der Werbeeffekt, zumindest der vermeintliche Werbeeffekt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nicht umsonst gelten Nennungen einzelner Titel in anderen Medien als Ausdruck von Stärke. Wer oben im Zitate-Ranking steht, ist für Werbung attraktiver.

"Bild" gibt nach wie vor Vorabmeldungen, die gedruckt werden und auch bei "Bild plus" erscheinen, an die Agenturen, die sie verbreiten und damit für viele professionelle Newsportale zugänglich machen. Vor mehr als zwei Jahren nannte es Diekmann ein "bisschen peinlich", dass "Focus Online" eine "Bild"-Meldung über Morddrohungen gegen den Millionär Carsten Maschmeyer verbreitete. Steil konterte auf Twitter mit der Frage: "Ihr habt sie (die Meldung - Anmerkung von kress.de) doch selbst mit Sperrfrist raus gegeben - was ist daran jetzt peinlich?" Die Frage war berechtigt. Wenn "Focus Online" (und andere Medien) über Diekmanns Trump-Interview berichten, ist es für Springer okay. Lässt Steil aber andere "Bild plus"-Storys abpinnen, ist es "Inhalte-Diebstahl"? Da wird mit zweierlei Maß gemessen.  

Unabhängig von Steils überbordender Lust am "Kuratieren": Das Ausmaß der Abschreiberei ohne jedes Hinterfragen oder Überprüfen ist ein Unding. Reichelt nennt das "digitale Hehlerei". Das darf er. Doch dann sollte er sich auch das eigene Portal anschauen. Die Diskussion um einen mutmaßlichen oder tatsächlichen Rechtsbruch ist die eine Frage. Die andere lautet: Wie weit darf Kuratieren gehen? Wo liegt die Grenze? Im Inland? Weltweit? Ist es im Interesse seriöser Medien, jede Menge ungeprüft abzupinnen?  

Letztendlich steht dahinter der grundsätzliche Konflikt, welcher Kurs sinnvoll ist und Zukunft hat. Das Modell von "Focus Online", Umsatz durch vermarktbare Reichweite zu generieren? Oder die Strategie von "Bild plus", Geld für "exklusive" Inhalte zu verlangen? Der Streit zeigt, dass beide Varianten ihre Lücken und Tücken haben. Das ist nicht neu. Statt sich aber weiter zu beharken, wäre ein Waffenstillstand die beste Entscheidung, nämlich die Einigung auf ein einziges Modell. Aber danach sieht es moment

kress pro 2023#07

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