Exklusiv-Interview: Sebastian Turner zu seinem Abgang

"Ich möchte einen anderen Weg einschlagen": "Tagesspiegel"-Herausgeber Sebastian Turner verlässt das Unternehmen. Im Interview mit kress.de verrät er, warum er seinen Job als erledigt ansieht und was er künftig macht.

Markus Wiegand | 2. Oktober 2020 um 09:47

Sebastian Turner

kress.de: Herr Turner, die heutige Meldung, dass Sie den "Tagesspiegel" verlassen, kommt für viele ziemlich überraschend. Was sind die Gründe dafür?  Sebastian Turner: Beim "Tagesspiegel" ist viel erreicht und in meinem neuen Unternehmen Trafo ist noch viel zu tun.

"Kein Zerwürfnis mit Dieter von Holtzbrinck"

kress.de: Es gibt schlimmere Aufgaben als Herausgeber einer Hauptstadtzeitung zu sein. Zumal Sie ja betonen, dass es wirtschaftlich lief. Gab es wie im Fall von Gabor Steingart ein Zerwürfnis mit Verleger Dieter von Holtzbrinck? Sebastian Turner: Es stimmt, "Tagesspiegel"-Herausgeber ist eine erfüllende Aufgabe, und ich kann Sie beruhigen, es gibt kein Zerwürfnis, sondern ein gemeinsames Verständnis, dass gemeinsam so viel erreicht ist, wie wir uns das am Anfang der Zusammenarbeit erhofft haben. Ich gehe in bester Freundschaft und wir wollen auch künftig kooperieren. kress.de: Was passiert mit Ihrer Beteiligung von 20 Prozent am Tagesspiegel?  Sebastian Turner: Dieter von Holtzbrinck hat sie zurückgekauft.

"Corona hat unsere Strategie einem Härtetest unterzogen, dessen Ausgang uns positiv überrascht."

kress.de: Sie haben die vergangenen sieben Jahre für den "Tagesspiegel" gearbeitet. Wo steht der Titel heute? Sebastian Turner: Corona hat unsere Strategie einem Härtetest unterzogen, dessen Ausgang uns positiv überrascht. Wirtschaftlich haben wir natürlich auch unter dem Lockdown unserer Anzeigenkunden gelitten. Beim Wiederanziehen sind dann unsere Marktanteile in den Werbemärkten gestiegen. Zugleich haben wir feststellen dürfen, dass die seit Jahren ansteigenden Einnahmen aus dem Lesermarkt durch Corona über Plan schnell angestiegen sind. Unser Nr. 1-Position und unser neues digitales Ökosystem tragen uns. Das ist eine hocherfreuliche Entwicklung. kress.de: Was meinen Sie mit digitalem Ökosystem? Sebastian Turner: Das "Tagesspiegel"-Team hat in sehr wenigen Jahren den Sprung von einem Mehrmarken-Druckgeschäft mit "Zitty", "Zweiter Hand" und "Bootshandel" zu einem ganzheitlichen Marken-Medienhaus auf digitalem Fundament geschafft. Abstrakt gesprochen: Rund um die starke Marke Tagesspiegel sind das neue Technik, neue Produkte, neue Kunden und neue Arbeitsweisen, die allesamt zu neuen Erlösen führen. Konkret sind es etwa sechzig digitale und gedruckte Kanäle zu unseren Kunden, von sublokalen Newslettern über hochpreisige Fachbriefings und Digitalkonferenzen hin zur sehr reichweitenstarken Website, dem umsatzstarken ePaper und als vorläufigem Schlusspunkt den Paid-Formaten beim Checkpoint und T+. kress.de: Wenn alles so gut läuft, warum gehen Sie? Sebastian Turner: Eben darum. Das Ziel von Dieter von Holtzbrinck und mir war, beim "Tagesspiegel" die Transformation zu schaffen. In einem schrumpfenden Markt ist es zunächst zwingend, die Nummer eins zu sein. Dort konzentrieren sich die Umsätze. Vor sieben Jahren war der "Tagesspiegel" die Nummer vier in Berlin, seit drei Jahren ist er die Nummer eins und hat seit vierzehn Quartalen eine wachsende verkaufte Auflage. Der "Tagesspiegel" kommt von 20 Prozent Marktanteil. Heute ist er deutlich über 40 Prozent. Wenn das so weitergeht, hat er bald soviel verkaufte Auflage wie "Morgenpost" und "Berliner Zeitung" zusammen. Der zweite Schritt war die jetzt eingeschwungene Digitalisierung inklusive aller Veränderungen in Technologie und Prozessen. Wenn man neben den steigenden Lesermarkteinnahmen auch Zitate und Journalistenpreise als Indikatoren für Qualität ansehen darf, dann kann man sagen: Der "Tagesspiegel" hat ein digitales Ökosystem und eine publizistische Qualitätsstrategie, die zu stabilem Einnahmenwachstum bei den Lesern führen. Und er hat ein vielfach ausgezeichnetes Team in Redaktion und Verlag, dass das vorantreibt.  kress.de: Sie wollen sich jetzt auf Ihr Unternehmen namens Trafo konzentrieren, das Sie vor drei Jahren gegründet haben. Was machen Sie da genau?  Sebastian Turner:: Mit Trafo möchte ich einen anderen Weg der Medientransformation einschlagen. Beim Tagesspiegel haben wir den markenzentrierten Weg genommen. Rund um den Markenkern "Leitmedium der Hauptstadt" verfolgt der Tagesspiegel konsequent ein publizistisches Konzept, das vom Gründungsgedanken 1945 über den Einstieg von Dieter von Holtzbrinck bis zur Digitalisierung stimmig fortgeschrieben wird. Bei Trafo orientieren wir uns dagegen an den neuen Herausforderern der Medienwelt - sie sind nicht marken-zentriert, sondern Technologie-zentriert. Beim "Tagesspiegel" ist die Frage: "Was steckt publizistisch in der Marke?", bei Trafo fragen wir: "Was steckt publizistisch in der Technik?"

"Ich bleibe bei den Medien, versuche aber von den technologischen Möglichkeiten her zu denken."

kress.de: Sie wechseln also ins technologische Feld? Sebastian Turner: Jein. Ich bleibe bei den Medien, versuche aber von den technologischen Möglichkeiten her zu denken. Ich habe in den letzten Jahren viele hochinteressante Mediatech-Ideen und Köpfe kennengelernt, die mich begeistern, aber nicht in das Unternehmen Tagesspiegel integrierbar sind. Ich habe deswegen vor drei Jahren Trafo gegründet und mich an den ersten Mediatech-Unternehmen beteiligt. Inzwischen sind es fünf Beteiligungsunternehmen mit über 150 Mitarbeitern, davon die Hälfte Entwickler. Das macht immer mehr Freude, aber auch immer mehr Arbeit. kress.de: Was sind das für Firmen? Sebastian Turner: In Berlin die beiden Opinion-Tech-Firmen Civey.com und Opinary.com sowie der KI-Spezialist Delphai.com, in Münster der lokale Micropublisher Rums.ms und mit Whereby.us ein erster Schritt in die USA und in Richtung systematisches Micropublishing. kress.de: Ist Trafo ist eine Venture Capital Firma, und was ist Micropublishing? Sebastian Turner: Trafo sucht den Zugang zu Technik und Talent über Beteiligungen, will aber auch eigene publizistische Projekte anstoßen, die Technologie und Publizistik verbinden. Ein spannendes Feld ist das Micropublishing. Sie gehen in Nischen mit hoher Qualität, ob Lokal wie Rums in Münster oder thematisch - wie hochspezialisierte Fachinformationen. kress.de: Sie wollen es nochmal so richtig wissen? Sebastian Turner:: Da kann ich kaum "nein" antworten.  kress.de: Sie verlassen das traditionelle Mediengeschäft und investieren in Trends im Bereich Media-Tech. Das wirkt so, als wenn Sie den Glauben an das klassische Geschäft verloren haben. Sebastian Turner: Alle Geschäfte müssen sich transformieren. Der "Tagesspiegel" ist ein schönes Beispiel, dass das auch bei einer traditionsreichen Marke erfolgreich und in weniger als einem Jahrzehnt möglich ist - bei einem hohen Qualitätsanspruch. Das hat mich in der Zusammenarbeit mit Dieter von Holtzbrinck immer begeistert. Egal was kommt, daran wird nicht gerüttelt.

"Das Spreeschiff ist eine herrliche Idee von Gabor Steingart, die ich auch gerne gehabt hätte."

kress.de: Können Sie ausschließen, dass Sie künftig mit einem Schiff im Regierungsviertel auf der Spree kreuzen?  Sebastian Turner: Das Spreeschiff ist eine herrliche Idee von Gabor Steingart, die ich auch gerne gehabt hätte. Seine journalistische Seefahrt beeindruckt mich sehr, aber wir werden nicht in Werften investieren, sondern in Mediatech.  kress.de: Steingart ist weg, jetzt gehen Sie - wer wird denn jetzt der Nachfolger von Dieter von Holtzbrinck, der auf die 80 zugeht. Sebastian Turner: Wenn Sie die Führungskräftetagungen seiner Gruppe erleben könnten, dann wüssten Sie, er hat eine gute Auswahl. kress.de: Sie waren erfolgreicher Werber bei Scholz & Friends. Wie lautet heute Ihre Botschaft in drei Sätzen? Sebastian Turner: Danke, Dieter! Glück Auf, "Tagesspiegel"! Hello, Trafo! Hintergrund: Der "Tagesspiegel" erscheint im Berliner Verlag Der Tagesspiegel, an dem das Unternehmen DvH Medien mit 80 Prozent beteiligt ist. 20 Prozent hielt bislang Sebastian Turner.

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