Marc Bartl | 3. November 2020 um 10:17
Wie realitätsfern war die Berichterstattung deutscher Medien unmittelbar vor der US-Wahl vor 4 Jahren? (Screenshot: Übermedien)
"Es gibt nicht nur unter den Anhängern alternativer Medien eine Erzählung, dass die etablierten Journalisten sich bei der US-Wahl 2016 blamiert hätten. Unisono hätten sie einen Sieg von Hillary Clinton für ausgemachte Sache gehalten und einen Sieg von Donald Trump ausgeschlossen. Sie hätten - ähnlich wie angeblich während der Flüchtlingskrise im Jahr zuvor - ihre Realitätsferne und Einseitigkeit unter Beweis gestellt. Stimmt das?" Mit dieser Frage befasst sich Stefan Niggemeier in seinem neuesten Beitrag Die großen Medien waren sicher, dass Hillary Clinton gewinnt. - Oder? auf Übermedien. Der Übermedien- und Bildblog-Gründer zeigt in seinem Text einen Sreenshot vom Wahlabend 2016, der in den sozialen Medien sehr populär ist. Darauf ist WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn vor einer Grafik zu sehen, die die ganze Ahnungslosigkeit der Berichterstattung symbolisieren soll. In der Grafik wird ein haushoher Wahlsieg der Herausforderin Clinton prognostiziert. "Manchmal tun die, die ihn verbreiten, so, als wäre das eine Prognose der ARD über den Wahlausgang. Tatsächlich ist es eine repräsentative Umfrage unter den Deutschen, wen sie als Wahlsieger erwarten", erklärt Niggemeier. Auch daraus könne man natürlich einen Vorwurf gegen die Medien ableiten: Dass die Deutschen Trumps Erfolgsaussichten offenbar unterschätzt hätten, sei Folge der irreführenden Berichterstattung der deutschen Medien. In Wirklichkeit habe die WDR-Führungskraft Schönenborn in den "Tagesthemen" am Wahlabend nicht den Eindruck erwecket, die Sache sei für Clinton schon gelaufen. Im Anschluss an die oben gezeigte Umfrage sagte dieser laut Niggemeier-Recherche: "Da haben die Wahlforscher in den USA doch einen sehr viel differenzierteren Blick" und habe die Entwicklung der Umfragen dort gezeigt. Vier Prozentpunkte Vorsprung für Clinton, das sei "deutlich, aber keineswegs sicher". Und man sehe, "wie volatil das ganze ist", so Schönenborn demnach. Tipp: Das Wichtigste aus den Medien - einmal am Tag: Jetzt den kressexpress bestellen. "Die Wahl Trumps war für viele ein Schock. Weil sie so unvorstellbar schien. Nicht, weil die Medien sie ausgeschlossen hätten. Jedenfalls nicht mehr kurz vor der Wahl", folgert Niggemeier beim Magazin Übermedien. Er belegt das mit den damaligen Aufmacherseiten von Süddeutsche Zeitung ("Hillary Clinton muss um den Sieg zittern") und Tagesspiegel ("Amerikas Demoskopen warnen vor Überraschungen"). Springers B.Z. berichtete unter der Überschrift: "Zeit, sich Sorgen zu machen." Die "Rheinische Post" hatte die Zeile: "Clintons wackelige Mehrheit". Das "Westfalen-Blatt" titelte: "Stellt Trump die Welt auf den Kopf?". Niggemeier verweist auch auf einen Artikel in der Süddeutschen, in der es hieß: "Ein paar Pünktchen nur", dass die Wahlforscher bei wichtigen Wahlen "schon öfter daneben lagen", und zeigt weitere Beispiele von dpa und Welt. Doch es sei nicht nur eine Frage der Umfragen und ihrer Interpretationen gewesen. Die etablierten Medien hätten sich hinterher auch vorwerfen lassen müssen, dass sie den Wahlsieg Trumps nicht kommen gesehen und nicht verstanden hätten, weil sie ihre liberalen, urbanen Blasen an der Ost- und Westküste nicht verlassen hätten. Für Niggemeier ist das "mindestens eine Überzeichnung". Der Medienjournalist bringt Belege von stern und Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Zeit schrieb damals: "Tatsächlich, das holt Donald Trump schließlich nicht ganz aus der Luft, läuft sehr vieles schief in den USA. Das Grenzregime funktioniert noch ineffizienter als in Europa, elf Millionen illegale Einwanderer leben in den Vereinigten Staaten. Der Sozialstaat funktioniert ebenfalls viel schlechter als auf dem alten Kontinent, das mag von der Mehrheit gewollt sein, wird aber von vielen nur noch widerwillig ertragen." Und auch die ARD-Tagesthemen hätten am Wahlabend aus Ohio berichtet, wo im "Rust Belt" Donald Trump eine "sehr viel höhere Welle der Begeisterung entgegen schlägt als an den Küsten". Hintergrund: Übermedien setzt sich seit Anfang 2016 mit der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten auseinander. Finanziert wird Übermedien von inzwischen rund 5.000 Abonnenten. Gründer des Magazins sind Stefan Niggemeier und Boris Rosenkranz. Redaktionsleiter ist Jürn Kruse.
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