Marc Bartl | 1. Juni 2021 um 11:00
Claas Relotius nimmt einen seiner vielen Preise in Empfang (Foto: Eventpress/Golejewski). Später wurde er der vielfachen Fälschung überführt.
Das Magazin "Reportagen" aus der Schweiz hat am Dienstag auf seiner Webseite ein ungewöhnlich langes Interview mit mehr als 90 Fragen an den früheren Spiegel-Reporter veröffentlicht, der Ende 2018 die Medienbranche schwer erschütterte. Zur Entstehung des Interviews schreiben Reportagen-Chefredakteur Daniel Puntas Bernet und die Reporterin Margrit Sprecher: Erst im vergangenen Sommer trafen wir Relotius mehrmals zu ausführlichen Gesprächen in Hamburg. Dabei erlebten wir einen Menschen, der zwischen extrem hoher Konzentration und phasenweiser Abwesenheit schwankte. Der verunsichert wirkte und nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie eine ambulante Therapie begonnen hatte. Relotius versicherte uns, unsere Fragen mit aller Offenheit beantworten zu wollen, auch wenn es ihm schwerfalle, aufrichtig zu erklären, was er selbst kaum begreifen könne. Er sprach über Phasen von "Realitätsverlust" und "psychotischen Störungen". Wir hatten unsere Zweifel: Wie begegnen wir einem, von dem nicht nur wir über Jahre hinweg getäuscht wurden, mit der nötigen journalistischen Distanz? Was kann man jemandem, der so viel gelogen hat, noch glauben? Wir entschieden uns, das zu tun, was unseren Beruf ausmacht: Zuhören, Nachfragen und Recherchieren. Wir haben uns Zeit genommen, um uns ein möglichst umfangreiches Bild zu machen und Relotius' Schilderungen zu überprüfen. Wir konnten mit dem behandelnden Psychiater und Therapeuten sprechen und haben Einsicht in psychiatrische Berichte erhalten. Wir haben frühere Kollegen von Relotius beim Spiegel kontaktiert. Einige gaben, zum Teil anonym, Auskunft, andere schwiegen. Wir haben mit seinem privaten Umfeld gesprochen - mit engen Weggefährten, langjährigen Freunden und ehemaligen Kommilitonen. Ausserdem baten wir unabhängige psychiatrische Experten um Einordnung. Am Ende unserer Recherche ist dieses Interview entstanden. Relotius über sein langes Schweigen in der Öffentlichkeit: "Ich habe riesigen Mist gebaut. Das habe ich versucht mit professioneller Hilfe aufzuarbeiten, und ich versuche es bis heute. Dafür habe ich diese Zeit gebraucht, in der ich auch Menschen persönlich kontaktiert habe, denen ich geschadet habe." ... über seine Therapiezeit: "Ich habe in einer Therapie versucht zu begreifen, was ich getan habe und warum. Ich war jeden Tag mit den Fragen von aussen konfrontiert und habe mich weitgehend mit dem öffentlichen Bild identifiziert, mich selbst als skrupellosen, gewinnsüchtigen Menschen gesehen. Äußerlich habe ich versucht, damit umzugehen. Innerlich war ich noch Monate später überzeugt, es sei in vielen Fällen absolut richtig gewesen, eine Geschichte genau so zu schreiben, wie ich sie geschrieben hatte." Das Wichtigste aus den Medien - einmal am Tag: Jetzt den kressexpress bestellen ... auf die Frage, wieviele seiner 120 Texte journalistisch korrekt waren: "Nach allem, was ich heute über mich weiss, wahrscheinlich die allerwenigsten. Bei einigen Texten kann ich es einfach nicht sicher sagen. Ich bin erschrocken über mich selbst, noch immer, und es tut mir aufrichtig leid." ["...] Ich habe in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht. Als seien Reportagen ohnehin nie Tatsachenberichte, sondern immer Geschichten, also verdichtete, konstruierte Wirklichkeiten, und als ginge es in erster Linie darum, Leserinnen und Lesern ein Thema so nahe wie möglich zu bringen. Ich habe es mir damit leicht gemacht und das offensichtlich Falsche für das Richtige halten wollen." ... über den Grund seiner Täuschungen: "Ich bin ehrgeizig, aber das habe ich nicht aus Ehrgeiz getan. Ich habe mich damit immer wieder über Realitätsverluste hinweggetäuscht, habe damit auch Menschen in meinem Umfeld getäuscht. Kollegen, die ich schätze. Menschen, die ich liebe. Die Abwehr, an mir selbst und teilweise auch an meinem Verstand zu zweifeln, war so gross, dass mich kaum etwas anderes dazu gezwungen hätte als dieser Skandal." ... über Realitätsverlust: "Ich habe nicht vor jedem Text eine Wahl treffen müssen. Ich musste mir nichts schönreden. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten, und stand beim Schreiben auch nie vor der Frage, ob ich das so machen kann. Ich habe das offensichtlich Falsche nicht nur verdrängt, sondern vollständig ausgeblendet. In meinem Alltag liefen sehr grosse Widersprüche fast ständig nebeneinander her." ... über sein Gewissen: "Ich kann das nicht erklären, aber ich hatte jahrelang nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen." ... über Verantwortung: "Ich habe offensichtlich sehr viel Verantwortungsgefühl ausgeschaltet, am meisten gegenüber Kollegen, aber auch gegenüber realen Menschen, über die ich geschrieben habe. Ich hatte beim Schreiben nie niederträchtige Absichten, und ich wollte auch niemanden verletzen, indem ich etwas Falsches schreibe. Dass ich das getan habe, bereue ich am meisten." ... über Juan Moreno: "Ich kenne Juan Moreno nicht persönlich, bin ihm aber ernsthaft dankbar, dass er mich im Dezember 2018 indirekt gezwungen hat, mich Problemen und Verhaltensweisen zu stellen, die ich schon lange nicht mehr sehen konnte. Was seine Buchveröffentlichung betrifft, wäre ich ihm noch dankbarer gewesen, hätte er mich als den Menschen bloßgestellt, der ich auch bin." Hintergrund: Relotius hatte für den Spiegel Reportagen geschrieben, die fehlerhaft waren, und die zum Teil erfundene Szenen, Gespräche und Ereignisse enthielten. Er war als Journalist mit Preisen überhäuft worden und genoss hohes Ansehen. Der Spiegel machte den Betrugsfall selbst öffentlich und arbeitete diesen akribisch auf. Relotius, der damals für das Gesellschaftsressort tätig war, hatte die Fehler laut Spiegel eingeräumt. Seine Karriere bei dem Nachrichtenmagazin war vorbei. Es folgten weitere personelle Konsequenzen im Haus, das Magazin überarbeitete zudem seine redaktionellen Standards. Viele andere deutsche Redaktionen steuerten bei ihren Quellenchecks nach. Für das Magazin in der Schweiz, das das Interview nun veröffentlichte, hatte Relotius in seiner Journalistenzeit ebenfalls mehrere Texte geschrieben.
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