Wenn die "alte Tante" des Journalismus, stets dezent zurechtgemacht, plötzlich Rouge aufträgt und sich von heute auf morgen die Lippen im satten Rot tönt, kann sie sich der Aufmerksamkeit ihrer Umgebung sicher sein. So erging es jetzt der "Neuen Zürcher Zeitung", die nach der ersten Generalüberholung von vor sechs Jahren zum zweiten Mal in ihrer 235-jährigen Geschichte ein Redesign riskiert hat.
Seit dem 21. August erscheint das Blatt im neuen Look. Verantwortlich für die Neugestaltung sind wieder die Zeitungsdesigner Mark Bernhardt und Jochen Ruderer von der Kölner Agentur Meiré und Meiré.
"Achtsam und mit Augenmaß"
"Wir sind bei diesem Redesign achtsam und mit Augenmaß vorgegangen. Die Verbesserung der Leserführung und Lesbarkeit sowie die Bewahrung der typografischen Tradition und der Schlichtheit der Gestaltung waren für uns wegweisend", sagt Colette Gradwohl, stellvertretende Chefredakteurin und Projektverantwortliche.
Das neue Layout sei ruhig und sachlich-elegant, gleichzeitig aber übersichtlicher. Die "Neue Zürcher Zeitung" bleibe bewusst eine textlich ausgerichtete Zeitung, setze aber mit sorgfältig ausgewählten Bildern und dem gezielten Einsatz von Grafiken auch Akzente in der visuellen Informationsvermittlung.
Chefredakteur Eric Gujer wandte sich in einem Brief an seine Leser, um für das Redesign zu werben: "Eine Zeitung ist ein Organismus. Die Artikel, Fotos und Grafiken bilden ein Ganzes, das nur im Zusammenspiel seiner Bestandteile lebt und atmet. Eine Layout-Reform ist daher immer eine Operation am offenen Herzen. Auf solch einen Eingriff lässt man sich nicht leichtfertig ein, weshalb sechs Jahre seit der letzten Neugestaltung vergangen sind."
Was die Leser denken
Die Leser reagieren prompt – und nicht sehr positiv. Eine Abonnentin kommentiert bissig: "Die jetzige Erneuerung
dokumentiert den endgültigen Abschied vom eleganten, zurückhaltenden Stil – die
Vertreter der Kölner Agentur nennen es (...)
'Bleiwüste' –, der das bewährte, über viele Jahrzehnte geltende Markenzeichen
der NZZ war, hin zur allgemeinen Infantilisierung der heutigen Medienwelt in
Form von übergroßen Lettern (man schaue sich nur die Überschriften erster und
zweiter Ordnung an (...)"
Ein anderer schreibt: "Im Nachrichtenteil ist kein Vorteil des neuen Layouts zu erkennen. Die Funktionszuordnung der Schriften ist unklar geworden. Insgesamt überwiegt der Eindruck, dass hier einfach irgendetwas verändert werden sollte - um des Zeitgeistes und der Veränderung Willen (...) Das Feuilleton ist durch die Layoutreform geradezu verheert: wo früher lange solide Textblöcke ruhten, herrscht nun ein nervöses Geflatter. Die veränderte Anordnung der Bilder und die kurzen Spalten erschweren es, die langen Texte zu lesen."
Immerhin rühmt ein dritter Leser, die Zeitung sehe nun moderner und trendiger aus, nur um gleich hinzuzufügen: "Ist das wirklich auch gewünscht von der Leserschaft?"
Die Meinung der Experten
Und wie sehen die Experten das Redesign? kress.de hat bei den Zeitungsdesignern Michael Adams, Hans Peter Janisch, Norbert Küpper und Eberhard Wolf nachgefragt, was sie von der neuen NZZ halten.
Wolf: "Neue Gestaltung ist unaufgeregter, harmonischer und moderner"
Eberhard Wolf, der unter anderem an der Leipzig School of Media und der Ludwig-Maximilian-Universität München unterrichtet und eine Professur für visuelle Kommunikation an der Akademie für Mode und Design/Hochschule Fresenius hat, zeigt sich auf Anfrage von kress.de sehr angetan vom neuen Design:
"Die sichtbaren Veränderungen am Layout der NZZ dürften sich, für die meisten Menschen jenseits der Zeitungsbranche, unterhalb der Wahrnehmungsgrenze bewegen. Und gerade deshalb ist das neue Design der NZZ bemerkenswert. Durch die Transformation der vorher mittigen Überschriften zur jetzigen Linksbündigkeit und die Hinzufügung einer zarten Helvetica wirkt die neue Gestaltung unaufgeregter, harmonischer und moderner als vorher. Das ehemalige Layout erinnerte entfernt an die 'Berliner Zeitung' und gab der NZZ etwas 'Mainstreamiges'. Dieses hat eine Zeitung, die es seit 1780 gibt, nicht nötig. Insofern ist auch die neue Unterzeile unter dem Titelkopf ein starkes Statement."
Ein Manko, wenn auch nur ein kleines, sei dagegen die Typografie: "Die Proportionen der Schriften und die Abstände zwischen Titeln und Unterzeilen bieten noch etwas Optimierungsmöglichkeiten – aber das ist etwas für typografische Feinschmecker.
Mir persönlich erscheint allerdings die Beibehaltung der Bodoni als Titelschrift für den Tageszeitungsdruck nicht besonders glücklich. Gerade in kleinen Schriftgraden verliert die Schrift an Lesbarkeit und Präsenz. Die Laufweiten von Brotschrift und Titelschriften erscheinen nicht optimal eingestellt. Kleben die Buchstaben beim Lauftext fast schon aufeinander, stehen sie bei den Titelzeilen zu weit auseinander und sind nicht optimal ausgeglichen."
Alles in allem, so der Experte, sei die neue NZZ für Leser gemacht, die wissen wollen, was passiert und sich nicht von übertriebener Optik ablenken lassen möchten.
Küpper: "Der Gesamteindruck einer konservativen und textbetonten Zeitung bleibt erhalten"
Hin- und hergerissen dagegen ist Norbert Küpper, Gründer und Veranstalter des European Newspaper Award:
"Auch nach der Neugestaltung hält die NZZ manche Tradition bei: Für Überschriften wird eine klassizistische Antiqua benutzt, und der Gesamteindruck einer konservativen und textbetonten Zeitung bleibt erhalten. In der Neugestaltung rutschen die Überschriften von der Mittelachse nach links. Die Aufmacher-Überschriften scheinen größer geworden zu sein. Die Spaltenlinien sind weg. Das haben viele andere Zeitungen schon vor 25 Jahren geschafft. Die NZZ zieht jetzt nach."
Küpper lobt die klar gestaltete Seitentitel und das gute Seitenlayout auf den Startseiten der Bünde: "Die Grundschrift gut lesbar und sinnvollerweise wurden die Spaltenlinien entfernt. Auch die Hierarchie der Überschriften gefällt mir."
Weniger ansprechend findet Küpper allerdings die Entscheidung, einige Bilder über zwei Seiten zu führen: "Das ist im Tabloid-Format gängig, aber beim Schweizer Format eher ungewöhnlich, zumal es keine echten Panorama-Seiten sind. Darum: Besser nicht machen." Der Umgang mit Bildern sei ohnehin noch ausbaufähig: „Sie sind sicher größer als früher, aber in den Bereichen Bildschnitt und Bildformat wird das kleine Einmaleins nicht beherrscht."
Janisch: „Gedruckte Gediegenheit“
Auch Zeitungs- und Kommunikationsdesign Hans-Peter Janisch ist nicht gänzlich überzeugt von dem, was er sieht: "Die NZZ ist moderner geworden – die Überschriften sind jetzt linksbündig, es gibt keine Spaltenlinien mehr, und mehrspaltige Anzeigen zieren die Titelseite. Aber ist das alles? Gewiss, niemand will die Leserschaft verstören, aber auch eine konservative Tageszeitung von internationalem Format sollte heute mehr Gewicht auf Layout und Präsentation legen und das findet bei der NZZ auch im neuen Bild noch deutlich untergeordnet statt."
Er bemängelt gegenüber kress.de nicht nur den Einsatz von Störern im Titelkopf, sondern vor allem das Fehlen ungewöhnlicher Bildschnitte- und Bildformat: "Die gesamte Bildarbeit ist weiterhin auf dem Stand der frühen 80er Jahre, als Zeitungsbilder oft noch als störende Dreingabe zum Text verstanden wurden. Natürlich, die Zeitung wirkt typografisch perfekt, die Lesbarkeit ist super, die Schriftauswahl funktionell und seriös. Aber es fehlt das, was z.B. die 'FAZ', das 'Handelsblatt' oder auch die 'New York Times' ausmacht: der gewollte Ausbruch aus dem redaktionell Gleichförmigen: Starke Layouts durch Illustration, Grafik und gute Bildarbeit."
Auch sein Fazit fällt darum eher nüchtern aus: "Die NZZ wird mit dieser Neugestaltun2g sicher keine Leser verlieren, aber auch keinen Blumentopf, und vor allem keine jungen Leser gewinnen.
Adams: "Charakter ist spürbar eleganter"
Weitaus positiver äußert sich Michael Adams, langjähriger Local Coordinator Schweiz in der Society for News Design: "Mit wenigen Veränderungen wurde bei der NZZ deutlich Wirkung erzielt. Schwächen vom Redesign vor sechs Jahren wurden ausgemerzt. Mit behutsamer Veränderung ist der Charakter nun spürbar eleganter."
Die augenfälligste Veränderung sind für ihn die linksbündig gesetzten Headlines, die, so der Zeitungsdesigner, dem Charakter seine Strenge nähmen und – besonders bei kurzen Titeln – angenehme Weissräume schafften. Auch Infografiken, Landkarten und Vignetten würden weiterhin mit Sorgfalt und Feinheit präsentiert.
"Eine gute Entscheidung ist außerdem der Verzicht auf die Spaltentrennlinien innerhalb der Texte – es braucht sie einfach nicht. Als positiv empfinde ich auch den Wechsel vom leicht flimmernden Cyan als Schmuckfarbe zu einem satten Tiefrot."
Ganz am Ende folgt aber doch noch ein Kritikpunkt: "Überrascht bin ich von der Futura als Schrift für Lead und Quote. Für mich wirkt sie mit ihren unterschiedlichen Oberlängen befremdlich in einer Zeitung. Sehr unauffällig sind außerdem Kästen innerhalb der Texte gestaltet – daran wird sich der Leser erst gewöhnen müssen."
Hintergrund
Die erste Ausgabe der "Neuen Zürcher Zeitung" erschien am 12. Januar 1780. Sie ist damit die älteste, noch erscheinende, Zeitung der Schweiz.
Chefredakteur ist Eric Gujer, der seit 1986 für die NZZ tätig ist. Stellvertretende Chefredakteure sind Colette Gradwohl, Luzi Bernet und René Zeller. Mehr als 200 Journalistinnen und Journalisten arbeiten für das Blatt in Zürich, rund 50 Korrespondenten sind im In- und Ausland im Einsatz.
Die NZZ hat eine Auflage von 124.043 Exemplaren, davon 9.834 im Ausland. Die Leserzahl der Printausgabe liegt eigenen Angaben zufolge bei 263.000.
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