Auf jeden Fall können viele Journalisten nicht mit Zahlen umgehen, erst recht können sie keine Umfragen und Statistiken logisch interpretieren. Das stellt der Münchner Kommunikations-Professor Carsten Reinemann fest: Zusammen mit Nayla Fazwi schreibt er in einem Beitrag für den "Tagesspiegel": "Offenbar hatte sich zumindest bis Ende 2014 das Medienvertrauen großer Teile der Bevölkerung gar nicht dramatisch verändert. Auch die im Jahr 2015 erhobenen Daten lassen diesen Schluss nicht zu."
Diese Erkenntnis hat es nicht in die "Tagesschau" gebracht, nicht in die Hörfunk-Nachrichten, nicht auf die Titelseite der Zeitungen; da hat es Lutz Bachmann, der Pegida-Prediger, einfacher, wenn er montags gegen die Lügenpresse vor ein paar tausend Spaziergängern wettert. Die beiden Münchner Wissenschaftler haben sich die Mühe gemacht, sowohl Daten aus den vergangenen 25 Jahren als auch Daten aus anderen Ländern zu vergleichen. Zudem stellen sie die Frage: Woran denken eigentlich Menschen, wenn sie nach den "Medien" gefragt werden?
Denken sie an den Lokalteil, den sie täglich oder öfters lesen? An "Bild" oder "FAZ"? ARD, ZDF oder RTL? Den "Spiegel" oder "Praline"? An soziale Netzwerke?
Die Wissenschaftler stellen fest: "Wird nach bestimmten Mediengattungen, Medienanbietern oder denjenigen Medien gefragt, die man selbst nutzt, dann liegt das Vertrauen oftmals deutlich höher." Das stärkste Vertrauen dürften Leser besitzen, die regelmäßig den Lokalteil ihrer Zeitung lesen: Das wäre eine wissenschaftliche Untersuchung wert.
Die allgemeine Skepsis gegenüber Medien ist nach Meinung der Münchner Wissenschaftler erstens normal in einer Demokratie und zweitens nichts Neues. Seit der Etablierung des Internets ist das Vertrauen in die Zeitungen sogar gestiegen. Auch ist das Vertrauen der Deutschen in ihre Medien ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr hoch.
Demgegenüber steht der Eindruck, den viele Journalisten haben und den die ZDF-Moderatorin Dunja Hayali in einer Rede formulierte, als sie mit der Goldenen Kamera geeht wurde:
"Legen Sie doch gerne den Finger in die Wunde und streiten Sie mit uns, diskutieren Sie mit uns, weisen Sie uns auf Fehler hin. Wir sind Journalisten, wir sind keine Übermenschen, wir machen Fehler. Deswegen sind wir aber noch lange keine Lügner."
Hayali, deren Eltern aus dem Iran emigriert sind, erzählte vom alltäglichen Hass: Als sie einkaufen ging, schrie sie ein Mann an: "Du Lügenpresse, du Lügenfresse!"
"So viel bedrucktes Papier! Am Anfang habe ich noch die Artikel ausgeschnitten, dann kam ich nicht mehr nach."
Was ist passiert?
Auf der einen Seite sind viele Journalisten verwirrt wie noch nie, weil ihre Leserschaft dasselbe beansprucht wie sie: Skepsis; Skepsis ist nicht allein die Grundtugend der Journalisten, sondern die Grundtugend der Bürger in einer offenen Gesellschaft.
Auf der anderen Seite scheint die Kritik an den Medien anzuschwellen - was nicht zuletzt auf das Interesse der Medien zurückzuführen ist, die Wortführer der "Lügenpresse" prominent und ausführlich zu präsentieren. Wissenschaftler halten dagegen: Viel Lärm um wenig.
Wer auf das Hauptargument der Lügenpresse-Anführer schaut: "Konformität und Nachrichten-Unterdrückung", der entdeckt in der Wirklichkeit das Gegenteil: So viel Information war noch nie!
Wer gerne und viel Zeitung liest, dem ergeht es wie Christoph Stölzl, der Vize-Chefredakteur der "Welt" war, Berliner Kultursenator und heute Präsident der Liszt-Musikhochschule in Weimar ist. Er stöhnt unter dem Papierhaufen unter seinem Schreibtisch: "So viel bedrucktes Papier! Am Anfang habe ich noch die Artikel ausgeschnitten, über die ich gründlicher nachdenken wollte. Dann kam ich nicht mehr nach." So habe er über Flüchtlinge, den Islam und anderen Themen mehr erfahren, als er sich je hätte träumen lassen. "Den Zeitungshaufen habe ich jetzt weggeworfen."
Noch nie haben die Deutschen so viele Nachrichten lesen, hören und sehen können, so viele öffentliche Meinungen zum Nachdenken bekommen wie jemals zuvor. Marcel Reif, Deutschlands bester TV-Sportreporter, sagte: "Bei einem normalen Bundesligaspiel stehen inzwischen mehr Reporter am Spielfeldrand als beim WM-Finale 1990. Quantitativ ist das alles irre geworden."
Irre geworden! Bei einer Pressekonferenz mit der Kanzlerin oder mit der AfD-Chefin ist es ähnlich wie bei einem Bundesliga-Spiel: Die Reporter und Fotografen prügeln sich fast um einen Platz in der ersten Reihe. Nichts wird unterdrückt in Deutschland: Rechts und links und in der Mitte und in allen Nischen dazwischen. Auch Meinungen, mit denen kein Geld zu verdienen ist, finden ein Magazin. Jakob Augstein, einer der "Spiegel"-Gesellschafter, schießt jährlich vermutlich eine Million Euro in sein linkes Magazin "Freitag"; der Schweizer Verleger Ringier gab das konservative Magazin "Cicero" heraus, für Liebhaber gedacht, nicht als Rendite-Bringer - ehe es vor kurzem der Chefredakteur mit seinem Stellvertreter kaufte.
Die Menschen sind nicht schlechter geworden, nur haben die Verschwörer vom Dienst mit dem Internet eine große Bühne bekommen
Am lautesten artikulierten Leser ihren Unmut während des Bürgerkriegs in der Ukraine: Leserbriefe über Leserbriefe, vor allem im Osten. Nur - wer von den Pegida-Spaziergängern war schon mal in der Ukraine? Wer schaut eine einstündige Reportage aus der Ukraine und verzichtet auf Jauchs Ratequiz oder Schnulzen von Rosemarie Pilcher?
Jeder hat das Recht, Günter Jauchs Millionen-Shows zu schauen, doch schimpfen wir zurück: Woher nimmt er dann die Begründung, über die Ukraine-Berichterstattung zu urteilen? Hat jeder nicht die staatsbürgerliche Pflicht, sich zu informieren? Was für Fragen!
Als ich "Die Ukraine verstehen", eine große Reportage, veröffentlicht hatte, bekam ich Briefe mit dem Tenor: Ihnen glaube ich, Sie waren in Charkow, Kiew und Lemberg, Sie waren nahe der Front, Sie haben mit Menschen in der Ukraine gesprochen, Ihnen vertraue ich.
Aber so reagieren Menschen, die noch Zeitung lesen, die erreichbar sind und nur einen vernünftigen Grund brauchen, warum sie Journalisten vertrauen. Was ist mit denen, die keine Zeitung lesen, die am Dresdner Pressehaus nahe der Elbe vorbeigehen und "Lügenpresse" rufen?
Sollen wir ihnen zurufen: Ihr müsst nur lesen - es gibt alles! - Einseitig! brüllen sie zurück. Nein, das stimmt nicht: Es gibt zu viele Seiten! Wer in einen Pressekiosk geht, entdeckt Hunderte von Zeitungen und Magazinen, selbst das Regal mit den Computer-Zeitschriften quillt über.
Wer sich beispielsweise an einem Samstag die "Süddeutsche" kauft und seine Lokalzeitung, die "FAZ" und den "Spiegel", der kann sich vier Stunden lang sattlesen. Selbst wer nicht Zeitung liest, kann sich im Rundfunk informieren, sogar exzellent: Täglich bringen die Sender mindestens ein Dutzend Features, Interviews, Debatten. Die Hörer müssten nur einmal auf eine Stunde Musik verzichten, ob klassisch oder Pop.
Heute verbreiten sich im Netz wirre Meinungen, als Nachrichten getarnt, sie werden unkontrolliert weitergereicht
Das Verfassungsgericht stellte in der Spiegel-Affäre fest, als die Adenauer-Strauß-Regierung in den sechziger Jahren die 'Lügenpresse' bändigen wollte: "Eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse ist für die moderne Demokratie unentbehrlich." Wir haben diese politische Presse, und sie ist unentbehrlich.
Aber auch das Volk ist frei in seinen Gedanken. Wer "Lügenpresse" sagt, schreit oder einfach nur laut denkt, er kann sich auf denselben Artikel 5 des Grundgesetzes berufen wie Journalisten, die ihre Freiheit genießen. Demokratie ist eben mühsam, nicht nur für Politiker, sondern auch für Journalisten.
Wer stöhnt "So schlimm war es noch nie", der schaue zurück, blättere in Immanuel Kants Ideen in "weltbürgerlicher Absicht", geschrieben vor gut zwei Jahrhunderten: "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt."
Nähern wir uns also an: Der Mensch ist nicht krummer geworden - im Gegenteil. Als der deutsche Fußball der Korruption beschuldigt wurde, sagte "SZ"-Reporter Hans Leyendecker in einem Rundfunk-Interview: "Fußball war nie sauber, Wirtschaft immer ein wenig korrupt. Aber es ist besser geworden, weil die Medien genauer hinschauen. Die Gefahr, ertappt zu werden, ist viel größer geworden."
Nun sind ausgerechnet die Medien, die so aufklärend sind wie noch nie, ins Gerede gekommen, sie müssen sich von denen, die Lügen verbreiten, als "Lügenpresse" denunzieren lassen - und sehen erschüttert zu, dass immer mehr Menschen unsicher werden.
Wie kommt das? Die Verschwörer vom Dienst haben mit dem Internet eine große Bühne bekommen. Sie stecken die Mehrheit an: Nie war es in aufgeklärten Gesellschaften so einfach wie heute, krumme Gedanken in viele Köpfe zu schicken.
Die Demokratie hat Mühe, das Internet zu verdauen. Die meisten Bürger sind es gewohnt, auf Argumente zu hören, die oft geäußert werden, sie wollen der Mehrheit trauen: Solche Argumente kamen seit Jahrzehnten aus den seriösen Medien. Heute verbreiten sich im Netz wirre Meinungen, als Nachrichten getarnt, sie werden unkontrolliert weitergereicht, so dass aufgrund der schieren Menge der Eindruck entsteht: Das sind ernst zu nehmende Mehrheits-Meinungen. "Da muss was dran sein, wenn ich das so oft lesen kann", sagen die, die nicht zu Hass und Wut neigen, aber massenhaft Hass und Wut lesen.
Was müssen Journalisten tun? Es lohnt die Kunst der Unterscheidung. Davon mehr in der nächsten Folge.
Paul-Josef Raue (65) berät Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen. Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt und Marburg. Er gründete mit der Eisenacher Presse die erste deutsch-deutsche Zeitung. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standwerk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren im Rowohlt-Verlag erscheint.
Fünf Basis-Empfehlungen zur Überwindung des Lügenpresse ist der Titel eines Vortrags beim Europäischen Newspaper Kongress in Wien vom 1. bis 3. Mai: Roland Schatz (Zürich, Chef des Internationalen Forschungsinstitutes Media Tenor) spricht darüber, dass sich lange vor den Diffamierungen gegen den Journalismus Schwächen in die Politik, Wirtschafts-, Unternehmens-, Auslands- und Migranten-Berichterstattung eingeschlichen haben. Er legt die fünf wichtigsten Schwächen offen und bietet Lösungen dazu an.
Bisher erschienen:
- Teil 1: "Journalismus der Zukunft" am 9. Februar 2016
- Teil 2: All journalism is local - Aber welchen Lokaljournalismus brauchen die Leser (Das Lokale) am 16. Februar 2016
- Teil 3: "Der Lokaljournalismus muss seine Richtung ändern" am 23. Februar 2016
- Teil 4: "Leidenschaft. Ohne Leidenschaft ist Journalismus wenig wert" (Welche Journalisten brauchen wir) am 1. März 2016
- Teil 5: "Unsere Ausbildung stimmt nicht mehr" (Das Volontariat) am 8. März 2016
- Teil 6: "Eine Redaktion, ein Desk und immer weniger Redakteure" (Die Organisation der Redaktion) am 15. März 2016
Nächste Folgen:
- Teil 8 (neu): Die Macht der Gerüchte und die Macht der Journalisten
- Teil 9 (neu): Lügenpresse und zwei Oscars für den Journalismus
- Teil 10 und weitere: Was ist Qualität? Die acht Pfeiler des Journalismus
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