"Journalismus der Zukunft", Teil 9: Zwei Oscars für den Journalismus – gegen die Lügenpresse

 

Wir brauchen Journalisten, die für eine tiefe Recherche - und für Recherche überhaupt - Geduld, Mut und Professionalität beweisen, und wir brauchen Verlage, die hinter der Recherche stehen, sie finanzieren und sich nicht beirren lassen. Wenn wir solche Journalisten, solche Verlage und solche Recherchen nicht mehr besitzen, wird unsere Demokratie leiden.

Zwei Filme liefern gute Argumente gegen die Anwälte der "Lügenpresse":

- "Die Unbestechlichen" (All the president's men), ein Polit-Thriller über die Watergate-Affäre, 1977 mit vier Oscars geehrt;

- "Spotlight" über das Reporter-Team, das den Missbrauchs-Skandal im katholischen Boston aufdeckte; 2016 mit vier Oskars geehrt, darunter einer für den besten Film.

Die Machenschaften des Staates und von US-Präsident Nixon wären nie aufgedeckt worden, sein Rücktritt nie geschehen, wenn nicht zwei Reporter jahrelang recherchiert hätten; Priester in Boston würden immer noch Kinder missbrauchen, die ihnen anvertraut sind, wenn nicht das Reporter-Team des "Boston Globe" den Skandal öffentlich gemacht hätte.

Diese Filme sind kein Nachruf auf die große Zeit des Journalismus, sondern ein Appell, auf diesen Journalismus, den wir investigativ nennen, niemals zu verzichten. Einen Journalismus, wie ihn das "Spotlight"-Team pflegt, werden wir immer brauchen, wenn Demokratie lebendig bleiben soll.

Wir brauchen Journalisten, die für eine tiefe Recherche - und für Recherche überhaupt - Geduld, Mut und Professionalität beweisen, und wir brauchen Verlage, die hinter der Recherche stehen, sie finanzieren und sich nicht beirren lassen. Wenn wir solche Journalisten, solche Verlage und solche Recherchen nicht mehr besitzen, wird unsere Demokratie leiden: Wer kontrolliert noch die Mächtigen?

Beide Filme beweisen: Die wirksamste Kontrolle von mächtigen Institutionen - ob Regierung oder Kirche - garantiert nicht die Gewaltenteilung, also weder Regierung, Parlament noch Justiz, sondern garantiert eine mächtige Presse. Sie ist deshalb in allen westlichen Demokratien schon in den Verfassung mit Privilegien ausgestattet: Die Pressefreiheit.

Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik und der Nazi-Diktatur räumte unser Grundgesetz den Journalisten so starke Rechte ein wie in kaum einem anderen Land. Die Autoren des Grundgesetzes waren sich bewusst: Macht und Mächtige neigen dazu, immer mächtiger, immer unkontrollierbarer zu werden, gleich in welcher Staatsform.

Wird die Macht übermächtig, werden die Bürger ohnmächtig. Dies zu verhindern, ist die erste Aufgabe von Journalisten und Verlegern. Aber den großen Rechten für die Presse entspricht eine Pflicht, gerade für Verleger: Sie müssen die Kontrolle der Macht ermöglichen, sie müssen recherchieren.

Karl-Hermann Flach gehörte zur Chefredaktion der "Frankfurter Rundschau", als er 1967 in seinem Buch "Macht und Elend der Presse" schrieb:

"Die Wahrnehmung der Pressefreiheit ist weniger ein Recht oder gar ein persönliches Privileg, sondern eine klare Pflicht der Verfassung gegenüber. Würde es sich bei der Pressefreiheit nur um ein der Presse im Interesse ihres Gewerbes eingeräumtes Privileg handeln, so wäre es immerhin denkbar, dass die Presse um irgendwelcher Vorteile willen auf die Ausübung dieses Privilegs verzichtet und sich vielleicht freiwillig einer staatlichen oder ständischen Kontrolle unterwerfen könnte. Damit würde sie jedoch gegen die Verfassung verstoßen und den Vollzug der freiheitlich-demokratischen Grundordnung praktisch sabotieren."

"Wir alle könnten mehr Bereitschaft zeigen, jenen Menschen zuzuhören, die keine Macht und keine Stimme haben"

"Spotlight" ist ein Film über Journalisten und Verlegern, die diese Pflicht erfüllen: "Globe"-Chefredakteur Martin Baron setzte die Recherche nicht nur gegen das Bostoner Establishment durch, sondern auch gegen Widerstände in der Redaktion. Nach dem Pulitzer-Preis, den der "Globe" für die Recherche bekam, und nach der ersten Aufführung des Films sagte der Chefredakteur:

"Der wahre Lohn besteht in der möglichen Wirkung des Films: Künftige Zeitungsbesitzer, Herausgeber und Chefredakteure könnten sich wieder der investigativen Recherche verpflichtet fühlen. Eine misstrauische Öffentlichkeit könnte erkennen, dass wir immer noch eine starke Presse brauchen. Wir alle könnten mehr Bereitschaft zeigen, jenen Menschen zuzuhören, die keine Macht und keine Stimme haben - vor allem den Opfern von Missbrauch."

Dies Plädoyer des Chefredakteurs liest sich wie ein Plädoyer gegen die Anwälte der Lügenpresse.

Matt Carroll war einer der Reporter, der den Missbrauch-Skandal in Boston aufdeckte; er ist in dem Film der Mann - gespielt von Brian d'Arcy James- , der das Porträtbild eines Priesters an den Kühlschrank heftet, um seine Kinder zu warnen. 26 Jahre lang war er Reporter beim "Boston Globe"; heute arbeitet er für "Die Zukunft der Nachrichten" beim MIT Media Lab und schreibt seinen Blog 3 to read.

Auf einem Journalisten-Kongress in Denver stand er im Mittelpunkt, schüttelte viele Hände. Mitten in der Zeitungskrise ist "Spotlight", so Caroll, ein Film, der Mut macht: "Es ist wunderbar, eine Zwei-Stunden-Flucht vor all den Newsroom-Restrukturierungen, Entlassungen und geplatzten Schecks."

Wer also mit Begeisterung Journalist ist oder Verleger oder Manager, sollte sich diesen Film ansehen aus vier Gründen:

1. "Spotlight" zeigt, dass Recherche die Basis des Journalismus und der Demokratie ist. 

Nur so gelangen Nachrichten in die Öffentlichkeit, die von den Mächtigen unterdrückt werden. Die Demokratie lebt nicht nur von Pressemitteilungen aus den Zentralen, sondern von den Recherchen in den Hinterzimmern der Macht. Für die Bürger sind diese Nachrichten oft wichtiger als die Verlautbarungen der Mächtigen.Pressefreiheit, die unsere Verfassung garantiert, ist vor allem die Freiheit der Recherche - und daraus abgeleitet auch die Pflicht zur Recherche.

2. "Spotlight" zeigt, wie eine gute Recherche abläuft.

Erstens brauchen die Reporter Hartnäckigkeit, denn jede schwierige Recherche verrennt sich immer wieder in Sackgassen und scheint zu scheitern.

Zweitens braucht die Recherche ein Team, das aus unterschiedlichen Charakteren zusammengesetzt ist, das zusammen arbeitet, das sich gegenseitig hilft und beim Streit um die richtige Strategie nie das Ziel aus den Augen verliert. Das "Spotlight"-Team bestand aus vier Reportern, darunter einer Reporterin, die zwanzig Wochen lang recherchierten, meist 7 Tage und 15 Stunden am Tag.

Der investigative Einzelgänger ist selten, er lebt vor allem in den Kriminalromanen von Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Recherchierende Reporter sind weder abgebrüht noch ausgekocht, sie brechen auch keine Regeln, sondern gehen - wenn ihnen Dokumente vorenthalten werden - auch mal vor Gericht und klagen die Herausgabe ein.

Drittens gehört zur Recherche zuerst einmal das Lesen in Akten, Lesen in Archivbänden, Lesen in Mails und Briefen von Lesern, auch von denen, die man als Querulanten abgestempelt hatte, Lesen in den eigenen Artikeln, die schon erschienen sind. Die Recherche in Spotlight kommt vom Fleck, als in der Bibliothek die Jahresbände des katholischen Bistums entdeckt werden mit Angaben sämtlicher Priester und der Gemeinden, in denen sie wirkten.

Auch in der Watergate-Affäre recherchierten die beiden Reporter tagelang in den Karteikarten der Kongress-Bibliothek.

Dann folgt das Kombinieren, die Entdeckung der inneren Logik der Geschichte: Wo ist der rote Faden? Was hängt miteinander zusammen? Mit wem müssen wir sprechen? Wo sind die besten Informanten?

Schließlich brauchen die Reporter die Gespräche mit Opfern, Anwälten und Tätern, und sie brauchen Geduld, nach der siebten zugeschlagenen Tür weiterzumachen; und sie brauchen die Gabe, trotz aller Distanz den Informanten Sicherheit und Vertrauen zu garantieren.

Auf eine Tiefgarage zu hoffen, in der hinter einem Pfeiler ein Informant wartet mit einem dicken Umschlag - das half zwar in der Watergate-Recherche, ist aber sowohl in "Spotlight" wie in den meisten Fällen weltfremd.

3. "Spotlight" beleuchtet den Lokaljournalismus mit seinem Mix aus Nähe und Distanz.

Den Anstoß zur Recherche gibt der neue Herausgeber Marty Baron - einem Chefredakteur bei uns vergleichbar -, der gerade aus Florida nach Boston gekommen war: Er liest in einer Kolumne vom Missbrauch und fragt in seiner ersten Ressortleiter-Konferenz, ob weiter recherchiert werde. Ein nassforscher Redakteur spöttelt: Das ist eine Kolumne, da wird nicht mehr recherchiert.

Es wird recherchiert - auch gegen den Unwillen von "Spotlight"-Chef Walter Robinson, der Hinweise unterdrückt hatte, um seiner Heimatstadt und der Kirche nicht zu schaden.

In einer Schlüsselszene des Films treffen sich "Spotlight"-Chef Robinson und ein Freund, der den Kardinal berät. Dieser appelliert an den Reporter: "Das ist doch unsere Stadt. Hier leben Menschen, die die Kirche brauchen und deren Vertrauen zerstört wird. Und diese Priester sind doch nur Einzelfälle, wenige faule Äpfel."

Dieses Gemeinschafts-Gefühl "Wir Kinder dieser Stadt müssen doch zusammenhalten" schließt den Fremden aus: "Der neue Herausgeber kommt aus New York und Florida, für ihn ist Boston nur eine Zwischenstation in seiner Karriere. Bald geht er wieder." Das stimmte übrigens: Der Chefredakteur wechselte 2012 zur "Washington Post".

"Eine Stadt erblüht, wenn ihre großen Institutionen zusammenarbeiten." Nein, "eine Zeitung funktioniert am besten, wenn sie alleine arbeitet."

Argumentiert wird oft mit dem Wohl der Stadt: Doch die Mächtigen verwechseln - nicht nur in Boston - bisweilen ihr eigenes Wohl, also Wiederwahl und Ruhm, mit dem Wohl der Stadt. Das Wohl der Stadt ist das Wohl der Bürger, die alles Wichtige wissen müssen.

Eine gute Lokalredaktion braucht also beide: Den Fremden mit seiner Distanz; er ist nicht Teil eines Netzes von Freunden, die man schon aus dem Kindergarten kennt. Und sie braucht den Einheimischen, der die Stadt und ihre Menschen kennt, der Kontakte hat und sie zu nutzen weiß (oder auch nicht). Beide zusammen sind unschlagbar.

4. "Spotlight" beweist, wie wichtig Unabhängigkeit für eine Zeitung ist.

Der Verleger möchte am liebsten Ruhe haben und setzt seine Ruhe gleich mit Ruhe in der Stadt. Auch Reporter möchten oft einfach Ruhe haben. Ein Unruhiger, ein Unruhiger wie der Chefredakteur an der Spitze reicht, um die Profis in der Redaktion an ihre Pflicht zu erinnern: Nutzt Eure Unabhängigkeit! Erfüllt Euren Auftrag, der lautet: Seid Sprachrohr der Bürger, nicht Sprachrohr der Mächtigen!

Am Ende gibt die Zeitung den Opfern eine Stimme und rüttelt die Gläubigen wach, die der Kirche vertrauten, obwohl ihre Funktionäre das Vertrauen missbraucht hatten.

Als der neue Chefredakteur zum Antrittsbesuch beim Kardinal erscheint, lächelt der Mann Gottes: "Eine Stadt erblüht, wenn ihre großen Institutionen zusammenarbeiten." Marty Baron, der Chefredakteur, lächelt nicht zurück und antwortet trocken: "Eine Zeitung funktioniert am besten, wenn sie alleine arbeitet."

Der Film zeigt den Wert der tiefen Recherche, und er zeigt ein Defizit des deutschen Journalismus: Nur in den Magazinen wie dem "Spiegel" und in den nationalen Zeitungen, vorbildlich in der "Süddeutschen", wird systematisch recherchiert, in den Regional- und Lokalzeitungen selten oder gar nicht. Wir brauchen solche Recherche-Teams wie "Spotlight", aber auch die einsamen Rechercheure in den Lokalredaktionen.

Recherche beginnt nicht erst mit den Panama-Papers und den 400 Journalisten, die fast zwölf Millionen Dokumente analysierten und die Mächtigen der Welt ins Straucheln brachten. Recherche beginnt beim Lokalreporter, der die Müllgebühren in seiner Region vergleicht und der den Haushaltsplan mit Tausenden von Zahlen so erklärt, dass die Leser das verstehen, was mit ihnen zu tun hat.

Recherche kann eine Affäre aufdecken, gar einen Skandal, aber der Reporter beginnt nicht mit dem Ziel der Skandalisierung: Er geht seiner Aufgabe nach, den Bürger ihre Welt verständlich zu machen und den Mächtigen auf die Finger zu schauen.

Recherche ist immer aufwändiger als der Abdruck von Pressemitteilungen. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung ist allerdings schwierig: Wer an eine langen und schwierigen Recherche arbeitet, fällt für die Tagesproduktion aus. Ist er erfolgreich, stärkt er das Vertrauen der Leser - und das ist mittlerweile unbezahlbar.

Der "Boston Globe" druckte nach der ersten Reportage, die den Skandal enthüllte, noch sechshundert weitere. Da stimmte sogar die Kosten-Nutzen-Rechnung.

Die Enthüllungen in Boston hatten sogar weltweite Folgen: In vielen Ländern gab es ähnliche Skandale. Noch in seiner Karfreitags-Botschaft 2016 sprach der Papst von der Schande, von denen "die den Himmel der Menschen verdunkelt haben". An der zehnten Station des Kreuzweges erinnerte er an die Misshandlung der Kinder "die ihrer selbst beraubt wurden, in ihrer Intimität verletzt und barbarisch entweiht".

Auch in Deutschland gab es eine Reihe von Missbrauchs-Fälle. Acht Jahre nach dem Skandal in Boston deckten auch deutsche Reporter systematisch auf, beginnend mit einer Recherche der "Berliner Morgenpost" im Canisius-Kolleg, einer Recherche, die eine professionelle Qualität hatte wie die des "Boston Globe".

Paul-Josef Raue (65) berät Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen. Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt und Marburg. Er gründete mit der Eisenacher Presse die erste deutsch-deutsche Zeitung. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standwerk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren im Rowohlt-Verlag erscheint.

Bisher erschienen:

  • Teil 1: "Journalismus der Zukunft" am 9. Februar 2016
  • Teil 2: All journalism is local - Aber welchen Lokaljournalismus brauchen die Leser (Das Lokale) am 16. Februar 2016
  • Teil 3: "Der Lokaljournalismus muss seine Richtung ändern" am 23. Februar 2016
  • Teil 4: "Leidenschaft. Ohne Leidenschaft ist Journalismus wenig wert" (Welche Journalisten brauchen wir) am 1. März 2016
  • Teil 5: "Unsere Ausbildung stimmt nicht mehr" (Das Volontariat) am 8. März 2016
  • Teil 6: "Eine Redaktion, ein Desk und immer weniger Redakteure" (Die Organisation der Redaktion) am 15. März 2016
  • Teil 7: "Was kommt nach der Lügenpresse?" am 22. März 2016
  • Teil 8: "Die Macht der Gerüchte und die Macht der Journalisten" am 29. März 2016

Nächste Folgen:

  • Teil 10 und weitere: Was ist Qualität? Die acht Pfeiler des Journalismus

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