Im Bergwerk der Daten und Fakten arbeiten die Journalisten, die auf die Welt schauen wie Anthropologen, die gerade einen Stamm am Amazonas entdeckt haben und dessen unbekannte Leben ergründen: Nüchtern und distanziert, ohne die frisch entdeckten Menschen mit ihrem Alltag und ihrer Kultur in die Schubladen von "gut" oder "schlecht" zustecken. Die Welt als Journalist beschreiben und erklären ist ein Plädoyer für die Analyse, die unterschätzte journalistische Form, die neben Nachricht, Kommentar und Reportage kaum gelitten ist.
Die Analyse gerät allerdings leicht in die Nähe des Kommentars: Wer aus bekannten Details und versteckten Daten eine neue Sicht öffnet, der möchte sie auch deuten. Das war schon so in der bekanntesten Analyse der deutschen Journalismus-Geschichte: Nichts Neues stand im "Spiegel"-Artikel "Bedingt abwehrbereit", die Conrad Ahlers und Hans Schmelz im Oktober 1962 geschrieben hatten und die Strauß und die Mächtigen der Adenauer-Zeit zur Willkür trieb und Journalisten monatelang ins Gefängnis; der vermutete "Landesverrat" war nichts anderes als eine Zusammenschau, die Bekanntes geschickt miteinander verband, eben die Analyse von Redakteuren, die wochenlang in Kärrnerarbeit durch das Archiv geschlichen sind.
Es war eine Analyse, mit der die "Spiegel"-Affäre begann; sie brachte das Verfassungsgericht zu einem Urteil, in dem es die Prinzipien des freien Journalismus in Deutschland entwickelte.
Das zweite Beispiel für eine wirkungsvolle Analyse ist das Buch des Soziologen Erwin K. Scheuch "Cliquen, Klüngel und Karrieren" von 1992: Er fügt aus Meldungen und Artikeln der Kölner Zeitungen das Bild des Kölner Klüngels zusammen, das mafiamäßig organisiert ist - allerdings mit einem mitunter zornigen Ton, der weder einen Wissenschaftler noch einen Journalisten zierte. Scheuch fügte zusammen, was Journalisten nicht wagten: Einen roten Faden zu ziehen durch Hunderte von Artikeln, die für sich allein kaum Wirkung gezeigt hatten.
Die Kölner Lokaljournalisten hatten die Wahrheit entdeckt, aber gleichzeitig versteckt - weil die Fähigkeit oder Kraft und vielleicht auch der Mut zur Zusammenschau, zur Analyse fehlten. Auch schon vor Google und dem Daten-Journalismus der digitalen Welt konnte man die reale Welt mit einer Analyse aus den Angeln heben. Wie viel mehr Möglichkeiten haben Journalisten heute!
Die Welt aus der Perspektive des Lesers zu sehen, geschieht aus Respekt: Der gute Journalist missioniert nicht, er bietet dem Leser das an, was er für wichtig hält. Da ist durchaus ein wenig Pathos erlaubt, wie ihn sich Hanns Joachim Friedrichs erlaubte. Sein nüchterner Satz "Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten" ist auch in dieser Zukunft-Serie schon zitiert; ihm geht dieser Satz voraus: "Wer die Seele der Welt nicht zeigen will, in welcher Form auch immer, der wird als Journalist zeitlebens seine Schwierigkeiten haben."
Die Seele der Welt - das ist zu viel des Guten, aber die Seele der Leser sollten Journalisten schon treffen wollen: Erkläre die Welt so, dass die Leser es annehmen können als Teil ihrer Welt. Diese Erkenntnis untermauern auch Biologen, die sich in unserem Bewusstsein umschauen: Nur den Verstand ansprechen, das funktioniert nicht.
Im Speicher- oder Langzeitgedächtnis wird das, was wir Verstand nennen, ebenso verarbeitet wie das, was wir Gefühle nennen. Verstehen und Fühlen sind Schwestern, die sich umarmen. Wer als Journalist nur Fakten bringen will, Fakten nicht als Fakten, verkennt, wie sein Leser im Kopfe arbeitet.
Wer seine Leser halten will, muss ihre Gefühle erreichen. Das gelingt nicht mit zwanzig, dreißig Zahlen in einen Text, mit Anglizismen und Spezialbegriffen, das gelingt jedem, der eine Geschichte erzählt. Auch wenn die Redakteure der Süddeutschen Zeitung wahrscheinlich wenig von den Erkenntnissen der Neurobiologie wussten, so handelten sie intuitiv richtig, die Dritte Seite als eine Erzähl-Seite zu konzipieren; heute sind auch oft Texte auf der Titelseite und auf der zweiten, der Thema-des- Tages-Seite, im Erzähl-Modus geschrieben. Journalisten müssen Nachrichten erzählen! Das galt lange als Widerspruch.
"Medien binden ihre Leser durch persönliche Texte offenbar stärker als durch rein nachrichtliche Artikel."
"Man kann so weit gehen: Es ist leichter, Informationen abzuspeichern, wenn sie eine gefühlsmäßige Note haben", sagt der Braunschweiger Neurobiologe Martin Korte.
Bedeutet das: Wir heben die Trennung von Nachricht und Meinung auf? Nein, im Kommentar kann jeder Journalist seine Meinung verbreiten, aber in der Analyse versammelt und erzählt er alle wesentlichen Fakten und Daten - ob sie ihm ins Weltbild passen oder nicht.
Ein Beispiel aus dem Lokaljournalismus:
Dagmar Thiel ist freie Journalistin, die für die "Grafschafter Nachrichten" schreibt, eine norddeutsche Regionalzeitung an der holländischen Grenze. Dagmar Thiel taucht in die Seele der Welt ein, indem sie nicht bewegende Flüchtlings-Reportagen schreibt, sondern sieben Monate lang als Flüchtlingshelferin arbeitet, zwei albanischen Familie im deutschen Alltag hilft und darüber ein Online-Tagebuch schreibt. Sie bezeichnet es als "journalistisches Experiment, der Mix aus Helfen und Schreiben, eine neue, sehr persönliche Form des Journalismus... Für mich hat sich die These der Journalismus-Forschung bestätigt, dass Medien ihre Leser durch persönliche und meinungsbetonte Texte offenbar tatsächlich stärker binden können als durch rein nachrichtliche Artikel."
Dagmar Thiel berichtet aus ihrer Feldforschung, die in der Tat an die Arbeit von Wissenschaftlern erinnert:
"Da ich von Anfang an wusste, dass meine Albaner höchstwahrscheinlich wieder gehen müssen, war es für mich wichtig, eine möglichst professionelle Distanz aufrecht zu erhalten. Ich möchte helfen und mitfühlen, wenn ich aber deren Schicksal zu meinem mache, werde ich nicht lange als Patin arbeiten können. Diese Gratwanderung ist mir meistens gelungen."
Die Gratwanderung zwischen Erklären und Belehren zeichnet die Analyse aus. Noch einmal Dagmar Thiel: "Glaubwürdigkeit wollte ich vor allem durch Transparenz erreichen: Schreiben, was ist. Das Positive benennen, das Negative nicht verschweigen."
"Es ist nicht meine Aufgabe, die Leute zur Betroffenheit zu animieren. Die sollen selber entscheiden, ob sie betroffen sein wollen"
"Im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein", nannte Hanns Joachim Friedrich diese Haltung, die er bei der BBC gelernt hatte und die zur Ausbildung von Journalisten zählen sollte: "To inform and to enlighten", zu informieren und zu erhellen, also aufzuklären. "Dieses Verständnis von Journalismus hat mich vor allerlei Dummheiten geschützt", erzählte Friedrich, der es nicht als seine Aufgabe sah, in den "Tagesthemen" "die Leute zur Betroffenheit zu animieren. Die sollen selber entscheiden, ob sie betroffen sein wollen oder nicht."
Friedrichs Einstellung führt nicht in den Populismus, im Gegenteil: Die meisten Leser, die sich ernst genommen wissen, dulden nicht nur, sondern wünschen auch das zu erfahren, was weh tut, was irritiert, was quer zu ihrem Weltbild liegt - wenn es nur mit ihrer Welt zu tun hat.
Wie sollen Journalisten aufklären, "enlighten"? Wer den "Faktencheck" erfunden hat, war ein kluger Journalist: Er hat einen Begriff geprägt, der eine journalistische Tugend beschreibt, die den Lesern gefällt. Prüfe die Fakten! Alle Fakten und schnörkellos!
Als die Kölner Silvesternacht 2015, in der Frauen kollektiv bedrängt wurden, die Menschen aufwühlte, brachte der "Kölner Stadtanzeiger" online einen "Faktencheck: Das wissen wir bisher über die Täter". Ein "Faktencheck" ist die beste Lösung, auch um Gerüchten und Verschwörungen den Boden zu entziehen.
Wir brauchten keine Hirnforscher, um zu wissen: Menschen mögen keine schlechten Nachrichten. Dennoch hält sich beständig die Journalisten-Maxime: Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Diese Maxime war lange eine Boulevard-Regel, bevor sie in den neunziger Jahre auch in seriöse Zeitungen einzog.
Es geht nicht um die Abschaffung von Meldungen über Katastrophen und Skandalen. Es geht um die Sicht auf die Welt: Leser wollen Lösungen. Meistens wird die Redaktion überfordert sein, selber Lösungen zu finden, aber sie kann recherchieren, wer Lösungen anbietet und wie viele auf dem Markt sind - und wie die Chancen auf Verwirklichung stehen.
Wenn die Erde in Nepal bebt, viele Menschen sterben und noch mehr kein Dach mehr überdem Kopf haben, dann spenden Menschen Millionen von Euro: Sie haben eine Lösung gefunden, wie sie mit der Katastrophe umgehen. Wenn Terroristen in einer Redaktion morden, werden in den sozialen Netzwerken am meisten Aufrufe wie "Je suis Charlie" mit einem freundlichen Gesicht markiert.
Bei aller Trauer, bei allem Entsetzen: Menschen wollen nicht depressiv werden - und sie mögen Journalisten, die ihnen dabei helfen. Ob es reicht, wenn die "Bildzeitung" einmal im Jahr eine komplette Ausgabe druckt, in der nur gute Nachrichten stehen? Wie eine Buße für all die schlechten Nachrichten?Nein, ein Däne wirbt deshalb für einen "konstruktiven Journalismus" als Richtschnur.
"Ihre Art der Berichterstattung ist Bewahrens wert, nicht nur Ihnen zuliebe, sondern der Allgemeinheit zuliebe" (Obama)
"Warum bad news die Medien zerstören und wie Journalisten mit einem völlig neuen Ansatz wieder berühren", schreibt Ulrik Haagerup im Untertitel seines Buchs "Constructive News". Der Nachrichtenchef des dänischen Rundfunks will eine "paralysierte und von Zynismus befallene Nachrichtenindustrie aufwecken".
Gerade junge Gründer geben sich mit dem Katastrophe-Journalismus nicht mehr zufrieden, sie entwickeln im Netz journalistische Seiten, die den Lesern helfen sollen, über die Welt nicht zu verzweifeln, sondern sie zu verstehen.
Erin Millar aus Kanada nennt ihren Journalismus "Lösungs-Journalismus" (Solutionsjournalism), sie gründete "Discourse Media" als Abkehr von den Verlagen mit ihrem Geschäfts-Modell, dass nicht den Lesern diene, nicht der Gesellschaft, für die Journalisten berichten. Sie fühlte sich, so Millar in einem Interview, als Redakteurin wie eine kaputte Schallplatte, sie brachte immer die gleichen Geschichten, die in den Nachrichten-Zyklus passten; Artikel, die Lösungen zeigten, wollte die Zeitung nicht. Die Medien haben, so Millar, noch viele Ressourcen, die sie nicht effizient nutzen.
Auch in Deutschland starten gerade Projekte, die sich dem Lösungs-Journalismus verpflichten:
- Julia Köberlein stellte auf dem European Newspaper Congress in Wien DerKontext.Com vor als "interaktives Hintergrundmagazin für aktuelle Themen":
Einmal im Monat sollen Journalisten und Experten etwa die Finanzkrise aus unterschiedlichen Perspektiven erklären.
Auf dem Bildschirm sieht man das Thema als eine digitale Landkarte: Erst den großen Überblick, die Städte und Flüsse - und wenn man hineinzoomt, bekommt man immer mehr Details zu sehen, je nach Interesse und Zeit.
- Die Gründer von Perspective Daily haben eine ähnliche Geschäftsidee: "Wir stehen für einen Journalismus, der nicht nur Probleme beschreibt, sondern auch Lösungen diskutiert. Wir stehen für einen Journalismus, der sowohl negative als auch positive Entwicklungen aufzeigt und so ein ausgewogenes und realistisches Weltbild vermittelt."
Brauchen wir wirklich Etikette wie "Konstruktiver Journalismus"? Nein, schreibt Gabriele Fischer, die Chefredakteurin von "Brand eins", in einem Beitrag für die Journalisten-Werkstatt "Konstruktiver Journalismus":
"Unser Thema (von Brand eins) ist Veränderung - und die erkennt nicht, wer nur sieht, was nicht funktioniert. Bei allen Fehlentwicklungen gibt es immer auch Menschen, die mit Mut und Ideen etwas dagegen tun - und muss sie nur suchen." Bleiben wir also beim Lösungs-Journalismus, denn darum geht's den Lesern.
Ulrik Haagerup zitiert in seinem Buch den US-Präsidenten Barack Obama, der in einer Rede vor Korrespondenten in Washington die Journalisten nicht beschimpfte, sondern genau ihre Rolle als Erklärer und als Problemlöser schätzte:
"Sie helfen uns, die wir dem Wohlergehen des amerikanischen Volkes dienen, unsere Arbeit besser zu machen, indem sie uns zur Rechenschaft ziehen, von uns Redlichkeit verlangen, uns von Ausflüchten abhalten und von politischen Spielchen, derer die Menschen so überdrüssig sind. Ihre Art der Berichterstattung ist Bewahrens wert, nicht nur Ihnen zuliebe, sondern der Allgemeinheit zuliebe. Wir zählen auf Ihre Hilfe, eine komplexe Welt zu verstehen und die Geschichten unseres Lebens so zu erzählen, wie sie sind."
Journalismus entdeckt Lösungen, er ist per se konstruktiv - oder er wird bald nicht mehr sein, weil ihm die Leser und Zuschauer davongelaufen sind.
Paul-Josef Raue (65) berät Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen. Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt und Marburg. Er gründete mit der Eisenacher Presse die erste deutsch-deutsche Zeitung. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standwerk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren im Rowohlt-Verlag erscheint.
Im zweiten Teil der Serie "Journalismus der Zukunft" schreibt Paul-Josef Raue über die acht Pfeiler, auf denen der Journalismus ruht. Es folgen: Schätze Debatten (4), Recherchiere immer (5), Sei fair (6),Langweile nicht (7), Schreibe verständlich (8).
Bisher erschienen:
- Teil 1: "Journalismus der Zukunft" am 9. Februar 2016
- Teil 2: All journalism is local - Aber welchen Lokaljournalismus brauchen die Leser (Das Lokale) am 16. Februar 2016
- Teil 3: "Der Lokaljournalismus muss seine Richtung ändern" am 23. Februar 2016
- Teil 4: "Leidenschaft. Ohne Leidenschaft ist Journalismus wenig wert" (Welche Journalisten brauchen wir) am 1. März 2016
- Teil 5: "Unsere Ausbildung stimmt nicht mehr" (Das Volontariat) am 8. März 2016
- Teil 6: "Eine Redaktion, ein Desk und immer weniger Redakteure" (Die Organisation der Redaktion) am 15. März 2016
- Teil 7: "Was kommt nach der Lügenpresse?" am 22. März 2016
- Teil 8: "Die Macht der Gerüchte und die Macht der Journalisten" am 29. März 2016
- Teil 9: "Zwei Oscars für den Journalismus - gegen die Lügenpresse (Die Kunst der der tiefen Recherche)" am 5. April 2016
- Teil 10: "Was ist Qualität?" am 12. April 2016
- Teil 11: "Der erste der acht Pfeiler des Journalismus: Achte Deinen Leser!" am 19. April 2016
- Teil 12: "Wie lesen Leser? - Exkurs zu 'Achte Deinen Leser!'" am 26. April 2016
- Teil 13: "Schreibe die Wahrheit! (Der 2. Pfeiler)" am 3. Mai 2016
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