Am 16. März 2016 kommt bei Büdingen, eine Autostunde von Frankfurt am Main entfernt, ein 29-Jähriger mit seinem VW von der Bundesstraße 521 ab. Die Polizei vermeldet den Unfall kurz und knapp in einer Pressemitteilung: "Fahrt endet am Baum". So weit, so gut, so normal.
Fünf Tage später erhält der Redakteur Hanning Voigts von der "Frankfurter Rundschau" den Hinweis, bei dem Autofahrer handele es sich um den NPD-Mann Stefan Jagsch, Flüchtlinge seien dem Verunglückten zuerst zu Hilfe geeilt. Bei Voigts setzt der journalistische Mann-beißt-Hund-Reflex ein. Eine echte News, denkt er und recherchiert – wie er es in seinem Blog anschaulich beschreibt – "einmal quer durch die Wetterau". Das Ergebnis: "Polizei, Feuerwehr und andere Beteiligte bestätigten mir meine Informationen und nannten weitere Details". So weit, so gut, so normal.
"Polizei, Feuerwehr und andere Beteiligte" klingt nach mehreren Quellen, die Zeugen des Vorfalls waren oder gewesen sein sollten. "Weil ich trotzdem nur wenige Fakten hatte und sowieso kein Platz in der Zeitung vom nächsten Tag war, wurde nur ein schmaler Text aus meiner Recherche, kaum mehr als eine Meldung", schreibt Voigts. Ein Kollege habe den Text "Syrer retten NPD-Politiker" betitelt und die Online-Redaktion entschieden, "ihn ebenfalls erst früh am nächsten Tag im Netz zu veröffentlichen". Das ist gängige Praxis, wenn zu ahnen ist, dass eine Nachricht "gut klicken" wird. So weit, so gut, so normal.
Nach ihrer Veröffentlichung am 22. März wird die Meldung von den zwei hilfsbereiten Syrern, die den Ausländerhasser von der NPD "gerettet" hätten, weltweit aufgegriffen. Die Deutsche Presseagentur meldet, die Freiwillige Feuerwehr habe den Bericht "bestätigt": Konkret bedeutet das, dass eine der Quellen der "FR" ihre Aussagen wiederholt. Unter Berufung auf eine Polizeisprecherin schreibt die "dpa" zudem – journalistisch tadellos – unter Anwendung des Konjunktivs: "Zeugen hätten der Polizei von zwei Syrern berichtet, die Erste Hilfe geleistet hätten." So weit, so gut, so normal.
Was haben die Zeugen eigentlich gesehen?
Alle wichtigen deutschen Newsportale bringen die Nachricht. Überall wird sie besonders stark geklickt. "Bei uns ging sie durch die Decke", erinnert sich ein Chef vom Dienst von einer dieser Seiten. In Teasern wird die Meldung als Fakt dargestellt und – konsequenterweise, da darin die Nachricht besteht – stets die Herkunft "der Ersthelfer" betont. "Die Retter des Politikers sind ausgerechnet syrische Flüchtlinge", heißt es. Es ist Usus, in Teasern Angaben von Behörden zu Tatsachen zu erklären. So weit, so gut, so normal.
Amerikanische und europäische Medien greifen die Story ebenfalls auf. Als Zeuge tritt der stellvertretende Stadtbrandinspektor von Büdingen, Jürgen Kraus, auf, der nach eigener Aussage als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr am Unfallort war. Er schildert den Hergang auf Anfragen diverser Medien so: Zwei Reisebusse mit Flüchtlingen an Bord seien zufällig an der Unglücksstelle vorbeigefahren und hätten gestoppt. Zwei Syrer seien zum Unfallwagen geeilt und hätten den Schwerverletzten aus dem Auto beziehungsweise aus dem Gurt befreit, noch bevor Feuerwehr und Rettungsdienst an der Unfallstelle eingetroffen seien.
Offenkundig fragt niemand nach, was "die zwei syrischen Flüchtlinge" genau getan haben, ob ein Mediziner unter ihnen war, wie sich die Busfahrer verhielten, ob sie zugeschaut oder den Syrern assistiert haben. Was haben die Zeugen eigentlich gesehen?
Dann recherchiert der Blogger Ramin Peymani. Die Rettung des NPD-Mannes sei "offenbar" wie folgt abgelaufen: Einer der zwei Busfahrer sei ausgestiegen, um zu schauen, was getan werden könne. "Er rief seinen Kollegen zu sich, um ihm zu helfen, den verunglückten Fahrer loszuschnallen und aus dem Auto zu befreien. Später stiegen auch einige Asylbewerber aus den Bussen und traten hinzu." Nach Darstellung Peymanis sind "die zwei Syrer" also Zuschauer und nicht Ersthelfer gewesen. Als Quelle nennt er namentlich nicht genannte "Vertreter der beteiligten Einsatzkräfte sowie die Mitarbeiter der Behörden".
Peymani veröffentlicht seine Ergebnisse am 27. März und macht einmal mehr klar, wo der Unterschied zwischen klassischen Medien und Blogs liegt. Er garniert seinen Bericht mit seiner persönlichen Meinung: "In Deutschland hat ein links-grünes Meinungskartell die Deutungshoheit erobert", zu dem er die "FR" zählt. Die "Rundschau", seit jeher ein politisch linkes Blatt, bringt den ersten und alle folgenden Artikel zu dem Fall als reine Nachricht ohne Wertung. Ihre Quellen gibt sie transparent und eindeutig an. Unterstellt wird ihr dennoch ideologisch motivierte Berichterstattung.
"Ich schlage vor, dass Sie Chefredakteur des 'Spiegel' werden"
Peymanis Beitrag erscheint auf diversen Portalen der neurechten Szene, in der die Angaben als Beleg für den Vorwurf der "Lügenpresse" gewertet werden. Auf Peymanis Blog schreibt "AR Göhring": "Gute Recherche. Mittlerweile ist jeder konservative Hobby-Journalist schon rein handwerklich besser als die als 'Journalisten' (das Wort "Journalisten" steht in dem Originalzitat in Anführungszeichen, Anm. d. Redaktion) getarnten linken Polit-Aktivisten wie Halali-Hayali. Ich schlage vor, dass Sie Chefredakteur des 'Spiegel' werden." Jagsch selbst sagt dem Hessischen Rundfunk zufolge: "Wenn es so war, ist es lobenswert, dass mir syrische Flüchtlinge geholfen haben. Aber wenn ich das in der Zeitung lese, ist das für mich noch keine Tatsache."
Fest steht: Irgendjemand hat dem NPD-Funktionär aus dem Unfallwagen geholfen. Auf Nachfrage, was denn nun stimme, erklärt die Pressestelle des Polizeipräsidiums Mittelhessen Ende März: "Die gesamte Berichterstattung beruht lediglich auf Gerüchten und wir können die Darstellungen bisher weder bestätigen noch dementieren." Allerdings ist es auch nicht Aufgabe der Polizei zu klären, was Ersthelfer an einem Unfallort getan haben und aus welchem Land sie stammen. Später ergänzt eine Sprecherin: "Die Frage, wer zuerst am Unfallort eingetroffen ist und dem Politiker half, ist für die Polizei nicht von Interesse."
Auf den ersten Blick widerspricht sich das mit früheren Aussagen des Präsidiums. Jedoch hatte die Polizei von Anfang an lediglich darauf verwiesen, die fragliche Aussage stamme von Zeugen. Was diese gesehen hatten, blieb offen. Und was Medien aus den Informationen machen, ist nicht Sache der Polizei.
Auf Nachfrage erklärt Feuerwehrmann Kraus, er selbst sei eingetroffen, als der NPD-Funktionär schon vom Rettungsdienst versorgt worden sei. Das Notarztteam habe von den Anwesenden, unter ihnen Flüchtlinge, wissen wollen, ob der Verunglückte angeschnallt gewesen sei. "Durch die Übersetzung kam das heraus." Was haben "die zwei Syrer" konkret getan? "Das kann ich nicht sagen." Sie selbst haben also nichts gesehen? "Nein, nichts."
Am 24. März – also drei Tage vor Peymanis Veröffentlichung – meldet die "Frankfurter Rundschau" unter Berufung auf das Regierungspräsidium Gießen, die Identität der Flüchtlinge "ist geklärt". Einer sei aus Syrien, der andere aus Sudan, zitiert das Blatt Sprecherin Gabriele Fischer. "Vor allem" der Syrer habe sich nach Angaben des Leiters des Heims, wo die zwei Flüchtlinge lebten, vor Ort um den NPD-Politiker gekümmert. Auf Nachfrage, was "vor allem" konkret bedeute und was der Sudanese getan habe, heißt es im Regierungspräsidium, da der Syrer in den Landkreis Marburg-Biedenkopf und der Sudanese nach Frankfurt verlegt worden sei, sei es ratsam, dort nachzufragen. Die Pressestelle der Stadt Frankfurt lässt eine Anfrage unbeantwortet. Hingegen reagiert Markus Morr, Sprecher für Marburg-Biedenkopf, binnen kürzester Zeit. Er erklärt, die Anfrage an die Bleibe, wo der Syrer jetzt wohne, weitergereicht zu haben.
Ein Busfahrer kommt ins Spiel
"FR"-Redakteur Voigts wird derweil mit Hass- und Wutmails von Leuten überzogen, die Peymanis Version zur einzig glaubwürdigen Wahrheit erklären. Am 31. März meldet die "Rundschau": "Neue Erkenntnisse zum Unfall des NPD-Politikers Jagsch: Nicht zwei Flüchtlinge, sondern ein Flüchtling und ein Busfahrer haben Jagsch geholfen." Quelle ist wiederum das Regierungspräsidium Gießen, das sich laut "FR" auf einen Heimleiter beruft. Der Artikel wird auf Facebook etwas mehr als einhundert Mal geteilt und kein einziges Mal getwittert. Zum Vergleich: Die "FR"-Meldung "Syrer retten NPD-Politiker" hatten auf Facebook über 15.000 User empfohlen und fast 2000 getwittert.
Nochmalige Nachfrage in Gießen, wie es zu der Aussage kam, zwei Flüchtlinge hätten geholfen, "vor allem" der Syrer. Sprecherin Fischer beantwortet die Frage nicht. Sie schreibt in einer Mail "nach Rücksprache mit dem Busunternehmen, das anonym bleiben möchte": "Ein Busfahrer und ein syrischer Flüchtling leisteten gemeinsam erste Hilfe bei dem Verunfallten." Nochmalige Nachfrage beim Sprecher für Marburg-Biedenkopf, ob der Syrer zu einer Auskunft bereit sei. Sprecher Morr antwortet, dass der Mann nicht wolle. "Er habe geholfen, so hat er einem Dolmetscher mitgeteilt, will aber wohl anonym bleiben."
Voigts schreibt in seinem Blog als Nachtrag zu der Geschichte Anfang April, dass "Peymani nicht Unrecht" gehabt habe, die ersten "FR"-Berichte "unzutreffend" gewesen seien, er "aber selbstverständlich nicht bewusst gelogen" habe. Er habe Informationen von Feuerwehr und Polizei vertraut, "etwas, was jeder Journalist tut, wenn er Verkehrs- und Unfallmeldungen schreibt. Trotzdem wäre es sicher besser gewesen, misstrauischer zu sein, einen Tag zu warten und die heikle Geschichte umfassender zu recherchieren." Er schließt mit den Worten: "Derzeit muss ich die ganze Aufregung und vor allem den Hass, der mir entgegengeschlagen ist, aber erst einmal verdauen."
Peymani, der die Flüchtlinge als Zuschauer dargestellt hatte, erklärt seinerseits unter Verweis auf die Angaben des Regierungspräsidiums Gießen, dass "doch noch ein Syrer mit von der Partie" gewesen sei. Ungeachtet dessen wirft er Voigts weiter vor, "ideologische Motivation über seine journalistische Sorgfaltspflicht gestellt" zu haben. Sich selbst bescheinigt der Blogger: "Meine Recherche war sauber und frei von ideologischen Anwandlungen."
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