"Journalismus der Zukunft" - Bilanz und Ausblick: "Wir sind nicht im Besitz der Wahrheit"

 

Die Debatte um den Journalismus der Zukunft ist angsterfüllt. Die Angst hat drei Gründe, und nur einer hat mit dem Journalismus zu tun. Der Abschluss der zwanzigteiligen Serie "Der Journalismus der Zukunft" von Paul-Josef Raue.

Das Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr: Die Werbekunden verlassen die Zeitung; höhere Vertriebs-Einnahmen gleichen die Verluste nicht aus; stark gestiegene Abo-Preise veranlassen immer mehr Leser, das Abo zu kündigen; Online ist kaum Geld zu verdienen. Ein neues Geschäftsmodell gibt es nicht.

Verleger und Verlags-Manager sparen: Die Zahl der Redakteure sank in einem Jahr um rund zwanzig Prozent; Zentralredaktionen versorgen mehrere Zeitungstitel; Lokalredaktionen werden zusammengelegt oder geschlossen.

Der Journalismus hat den Wandel verschlafen: Die Gesellschaft hat sich verändert, die Bürger sind skeptischer geworden und wollen mitreden, so wie es die Verfassung auch verspricht; die Journalisten haben den Wandel begrüßt, so lange er sich gegen "die Politik" richtete, aber nicht als Auftrag verstanden.

"Journalisten ab Mitte 30 sind sehr irritiert, weil sie nicht mehr als die Instanz wahrgenommen werden, die für eine breite Öffentlichkeit Sachverhalte recherchiert, einordnet, kommentiert", stellt Sebastian Haas fest, Tagungsleiter in Tutzings "Akademie für politische Bildung". Doch mit dem Internet hat die Krise des Journalismus recht wenig zu tun; allerdings ist die Digitalisierung ein willfähriges Argument, eine Art Beschwörung des Weltuntergangs, die zu jeder großen Krise gehört. Der Hamburger Medienprofessor Michael Haller war der erste, der sich, wie ein guter Journalist, die Zahlen genau angeschaut hat und feststellte: Die Auflagen gingen schon zurück, als das Internet noch ein Zwerg war.

In der Euphorie der Einheit, als die Auflagen deutlich stiegen, übersahen die meisten, dass der Journalismus selbstzufrieden geworden war. Die Sitten des guten Journalismus verschluderten immer mehr. Vieles galt es entbehrlich: Trennung von Meinung und Nachricht; die strikte Skepsis gegenüber Werbung, erst recht aus Behörden und Parteien; das Pro und Kontra als ideale Form der Ausgewogenheit.

All dies kritisiert mittlerweile die Hälfte der Bevölkerung, zugespitzt in den Parolen von der "Lügenpresse". Noch verstörender als die Pegida-Demagogie ist das Unverständnis der meisten Journalisten, die sich immer noch als unabhängig und glaubwürdig einschätzen - obwohl sie längst aus dem Lager der Bürger ins Lager der Mächtigen gewechselt sind oder ins Lager des umfassenden Zweifels, in dem jeder und alles unter dem Generalverdacht des Bösen stehen.

Zunehmend erleben Redakteure die Ablehnung, die Politiker schon länger erfahren. Wie die meisten Politiker sind Redakteure überzeugt von ihrer Arbeit, auch überzeugt dass sie im Sinne der Verfassung arbeiten, zumal die Verfassung den Journalisten einen eigenen Artikel widmet, das Grundrecht der Pressefreiheit.

Was tun? Die längste Erfahrung im Umgang mit dem Widerspruch zwischen eigenem Anspruch und der Einschätzung der Leser haben die Redakteure der "Sächsischen Zeitung" in der Hauptstadt der Pegida-Bewegung. Annette Binninger, Ressortleiterin in Dresden, erzählte auf einem Modellseminar der Bundeszentrale für politische Bildung:

"Wir müssen uns damit abfinden, dass wir neben der Politik der Hauptangriffspunkt von Pegida sind. Es existiert mittlerweile eine klare Schere zwischen dem, was wir abbilden und dem, was die Leute empfinden. Anzunehmen, wir wären frei von Fehlern, ist falsch."

Die "Sächsische Zeitung" geht mit Pegida anders um als vor einem Jahr. Diesen neuen Umgang kann man Redaktionen als Modell anbieten:

"Wir suchen den Kontakt zu denen, die jeden Montag 'Lügenpresse' rufen. Wenn Leute, die einem nicht ins Ohr brüllen, bei uns anrufen, fragen wir: 'Wo genau ist der Punkt, an dem Sie glauben, dass wir vorsätzlich die Unwahrheit geschrieben haben?' In einer Kolumne diskutieren wir jede Woche einen dieser kritischen Leserbriefe; wir suchen ganz bewusst den Dialog mit unseren Nutzern. Wir versuchen, die Abgewanderten zurückzuholen. Ich sehe keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken - wir kommen am Ende aus der Sache gestärkt hervor."

Die Zeitung hat einen Vorteil gegenüber Politikern, die ähnlich unter der als ungerecht empfundenen Verdrossenheit leiden: Sie bietet mehr als eine "Sprechstunde" unter vier Augen an, sie bietet Öffentlichkeit, sogar eine noch größere Öffentlichkeit, als Pegida schaffen kann. Diese Chance müssen Redaktionen nutzen - nicht als Rechtfertigung ihrer Arbeit, allenfalls als Erklärung, aber in erster Linie mit einem Gespräch zwischen Bürgern, die sich in die Augen schauen: Kein Oben und Unten, kein Besser und Schlechter. "Wir müssen zeigen, dass auch wir die Wahrheit suchen", meinte Ekkehard Rüger, Lokalredakteur der 'Westdeutschen Zeitung' in Burscheid, bei demselben Modellseminar. Also: Wir sind nicht im Besitz der Wahrheit, wir sind auch Suchende. So kann ein wirkliches Gespräch beginnen.

Nicht nur die meisten Bürger zweifeln an der Qualität des vorherrschenden Wellness-Journalismus, sondern zunehmend auch die Spitzen der Verlage: Auf der einen Seite fordern sie immer mehr Management-Fähigkeiten und befördern einen, der Excel-Tabellen lesen kann, eher als einen, der im Lokalen seine professionelle Stärke beweist; auf der anderen Seite beklagen sie den Qualitäts-Verlust und führen die Klagen der Leser als Beweis an. So ist eine unheilige Allianz der Kritiker entstanden: Ist es ein Zufall, dass mit Alexander Gauland ein Ex-Top-Manager des "FAZ"-Konzerns aufstieg in die AfD-Spitze?

Die Achtung vor den Chefredakteuren sinkt ebenso wie ihr Einfluss. Die Rauswurf- und Wechsel-Quote ähnelt mittlerweile der von Bundesliga-Trainern. Und an den Verlagsspitzen, die auch oft wechseln, haben Manager traditionelle Verleger abgelöst, die meist keine einfachen Typen waren, aber ihre Zeitungen oder Magazine schätzten. Ex-Journalisten an der Spitze gibt es nur in wenigen Verlagen, immerhin bei Springer und Gruner+Jahr, auch bei "Brand Eins" oder beispielsweise in Würzburg und Ulm; dies sind Konzerne und Verlage mit festem Fundament und guten Aussichten.

"Die Technologiedebatte überlagert, worum es wirklich geht.
Nur weil wir digitale Tools nutzen, ist es keine andere Art von Journalismus."

Die Krise des Journalismus ist selbst verschuldet. Über Jahrzehnte reichte es, eine Zeitung für die Leser zu machen statt mit ihnen. Nur wenige beobachteten die Gesellschaft genau und verketteten das wachsende Selbstbewusstsein der Bürger mit dem starken Selbstbewusstsein der Redakteure. Im Internet-Zeitalter, das plötzlich hereinbrach, konnten sich die Bürger zu Wort melden, ohne auf die Produktionsmittel angewiesen zu sein wie im Maschinen-Zeitalter.

Tagungen zur Krise sind beliebt, in denen es um die Zukunft der Zeitungen, der Medien und des Journalismus geht - und um die Digitalisierung. Die Referenten sind meist dieselben, die Schar der Teilnehmer bleibt überschaubar. Die Krise kann noch so tief sein, stets kommen nur wenige Redakteure. Die Veranstalter schieben es auf ausgedünnte Redaktionen, aber in den goldenen Zeiten kamen auch nicht mehr. Sind Redakteure weitgehend beratungsresistent? Lokalredakteure im Besonderen?

Wird mit dem Internet alles besser? Also multimedial, crossmedial, transmedial? So soll der Redakteur der Zukunft arbeiten; er soll an Facebook, WhatsApp und Snapchat denken, Communitys betreuen, Videos produzieren und Podcasts, Grafiken, Snowfalls undsoweiter. Doch - "die Technologiedebatte überlagert völlig, worum es wirklich geht", warf Nannen-Schulleiter Andreas Wolfers ein bei einer Tagung in der politischen Akademie Tutzing. "Nur weil wir digitale Tools nutzen, ist es keine andere Art von Journalismus."

Wolfers führt eine der großen deutschen Journalistenschule, er preist das Handwerk, die klassischen journalistischen Tugenden:

"Präzise Recherche, genaue Quellenprüfung, sicherer Umgang mit Texten, Themengespür, Relevanz aufspüren: Was wähle ich aus? Was mache ich sie groß? Das ist völlig unabhängig, ob Print, Online, Bewegtbild usw. Es lässt sich alles zurückführen auf die klassischen journalistischen Tugenden."

Allerdings erweitert das Digitale die Möglichkeiten: Journalisten können tiefer und präziser recherchieren, und sie haben mehr Kanäle zur Verfügung. Bessere Recherche und größere Verbreitung: Dem Journalismus ging es noch nie so gut wie heute.

Wenn davon auch die Demokratie profitieren könnte! Sie braucht informierte Bürger, und sie braucht Bürger, die einen annähernd gleichen Informations-Stand haben. Nur wer informiert ist, kann auch mitreden und vernünftige Entscheidungen fällen - und nur wer weiß, dass auch die Bürger, die mit ihm streiten, gut informiert sind.

Alles, was der Bürger braucht, steht im Netz. Doch das Internet kann in die Irre führen: In der Filterblase erstickt, wer nur noch liest, was er lesen mag und was andere für ihn auswählen; er verliert die Welt. Selbst wer sich nicht in der Filterblase eingerichtet hat, verirrt sich leicht: Das Wichtige ist schwer zu finden; noch schwerer sind Nachrichten auf Seriosität zu kontrollieren.

Kein Tabu: Was kann und was muss der Staat tun,
um unabhängigen Journalismus für die meisten Bürger zu garantieren?

So wie eine Demokratie gute Volksvertreter braucht, ein stabiles Recht und eine funktionierende Bürokratie, so braucht sie professionelle Journalisten, die sortieren und alles, was wichtig ist, entdecken, die kontrollieren und das Selbstgespräch der Gesellschaft moderieren - im Vertrauen auf ihre innere Unabhängigkeit und im Bewusstsein, dass sie keiner lenkt außer den Bürgern, deren Treuhänder sie sind.

Unsere Gesellschaft muss unabhängigen Journalismus schätzen und garantieren: Wer unsere Verfassung beim Wort nimmt, wer unsere Demokratie erhalten oder gar stärken will, der darf Journalismus nicht für eine Minderheit treiben, für ein Reservat gut gebildeter und wohlhabender Leute. Dies führte in eine gespaltene Gesellschaft.

Also muss sich der Journalismus weiterentwickeln - in handwerklicher Präzision nach bewährten Regeln, aber im Verein mit einer Technik, deren Möglichkeiten grenzenlos scheinen. Wir brauchen ein Silicon Valley des Journalismus, in dem Verlage experimentieren, aber auch Freie mit wenig Geld und viel Phantasie - ohne gleich auf den großen Wurf zu setzen.

Diese Frage darf kein Tabu sein: Was kann und was muss der Staat tun, um unabhängigen Journalismus für die meisten Bürger zu garantieren? Derselbe Staat investiert heute schon etliche Millionen in Presseabteilungen, die "gelenkten Journalismus" treiben, also eher Propaganda verbreiten als Informationen: Dies hatten die Autoren des Grundgesetz nicht im Sinn, als sie den Artikel 5 verfassten.

Noch ist Zeit, Lösungen zu finden, zu debattieren und zu realisieren: Zwei Drittel der Deutschen liest eine Zeitung, noch die Hälfte der 30- bis 40-Jährigen und vierzig Prozent der über 20-Jährigen. Sie brauchen Journalismus, ob gedruckt oder online, auf dem Notebook oder Smartphone. Wir nähern uns nicht dem Ende des Journalismus, im Gegenteil: Wir brauchen ihn dringender denn je zuvor. Wir müssen es schaffen.

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Zehn Thesen zur Zukunft des Journalismus

1. Journalismus ist Freiheit: Er sichert die Qualität der Demokratie und das Selbstgespräch der Gesellschaft.

2. Journalismus ist unabhängig.

3. Journalismus richtet sich nach den bewährten Regeln (und braucht keine neuen für die neuen Medien): Präzise Recherche, Kontrolle der Mächtigen und über allem die Achtung vor der Wahrheit.

4. Journalismus braucht Journalisten, die die Regeln kennen und achten.

5. Journalismus gedeiht nur mit exzellent ausgebildeten Journalisten.

6. Journalismus ist lokal und erklärt die Welt aus der Perspektive der Leser.

7. Journalismus wird immer wichtiger als Gegenspieler der Unübersichtlichkeit im Netz.

8. Journalismus muss experimentieren und gerade im Netz die Chancen der Technik nutzen.

9. Journalismus ist angewiesen auf eine Existenz-Garantie.

10. Journalismus hat eine große Zukunft vor sich.

Paul-Josef Raue (65) berät Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen. Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt und Marburg. Er gründete mit der Eisenacher Presse die erste deutsch-deutsche Zeitung. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standardwerk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren im Rowohlt-Verlag erscheint.

Mit dieser Bilanz beendet Raue die zwanzigteilige Serie "Der Journalismus der Zukunft". Von kommendem Dienstag an schreibt er regelmäßig die Kolumne "Journalismus!"

Das waren die einzelnen Kapitel der Serie:

  • Teil 1: "Journalismus der Zukunft" am 9. Februar 2016
  • Teil 2: All journalism is local - Aber welchen Lokaljournalismus brauchen die Leser (Das Lokale) am 16. Februar 2016
  • Teil 3: "Der Lokaljournalismus muss seine Richtung ändern" am 23. Februar 2016
  • Teil 4: "Leidenschaft. Ohne Leidenschaft ist Journalismus wenig wert" (Welche Journalisten brauchen wir) am 1. März 2016
  • Teil 5: "Unsere Ausbildung stimmt nicht mehr" (Das Volontariat) am 8. März 2016
  • Teil 6: "Eine Redaktion, ein Desk und immer weniger Redakteure" (Die Organisation der Redaktion) am 15. März 2016
  • Teil 7: "Was kommt nach der Lügenpresse?" am 22. März 2016
  • Teil 8: "Die Macht der Gerüchte und die Macht der Journalisten" am 29. März 2016
  • Teil 9: "Zwei Oscars für den Journalismus - gegen die Lügenpresse (Die Kunst der der tiefen Recherche)" am 5. April 2016
  • Teil 10: "Was ist Qualität?" am 12. April 2016
  • Teil 11: "Der erste der acht Pfeiler des Journalismus: Achte Deinen Leser!" am 19. April 2016
  • Teil 12: "Wie lesen Leser? - Exkurs zu 'Achte Deinen Leser!'" am 26. April 2016
  • Teil 13: "Schreibe die Wahrheit! (Der zweite Pfeiler der Qualität)" am 3. Mai 2016
  • Teil 14: "Erkläre die Welt (Der dritte Pfeiler der Qualität)" am 10. Mai 2016
  • Teil 15: "Schätze Debatten! (Der vierte Pfeiler der Qualität") am 17. Mai 2016
  • Teil 16: "Recherchiere immer! (Der fünfte Pfeiler der Qualität)" am 24. Mai 2016
  • Teil 17: "Sei fair! (Der sechste Pfeiler der Qualität)" am 31. Mai 2016 
  • Teil 18: "Langweile nicht! (Der siebte Pfeiler der Qualität)" am 7. Juni 2016
  • Teil 19: "Schreibe verständlich! (Der achte Pfeiler der Qualität)" am 14. Juni 2016

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