Neues aus der Zukunft: Wie könnte eine Nachrichtensendung in Virtual Reality aussehen? Und wie ein Kinofilm in 360 Grad?

21.06.2016
 
 

"Storytelling" ist das Buzzword der Stunde in der VR-Branche. Noch hat niemand den Stein der Weisen zum Erzähl-Glück in 360 Grad gefunden - weder im Spielfilm-, noch im Nachrichten-Bereich. Das "labore:tory", in dem der Erste deutsche Fachverband für Virtual Reality auf der re:publica Anfang Mai 2016 in Berlin mehr als 20 Aussteller präsentierte, bot jedoch vielfältige Ansätze, die eine nähere Betrachtung lohnen. Wir greifen zwei Beispiele heraus.

Der erste Mensch auf dem Mars: Demo-Experience als Nachricht im VR-TV

Sven Haeberlein und Nico Nonne von der Berliner Produktionsfirma Trotzkind stellten sich der Frage, mit welchen Mitteln Nachrichtensendungen künftig arbeiten können, um den Spagat zwischen seriöser Nachrichtenvermittlung und immersiver Experience zumeistern. Der beim klassischen Fernsehkonsum passive Zuschauer sollte aktiv involviert werden, etwa im Studio umherlaufen und mittels Gesten und Eingaben Aktion auslösen können.

Noch ist es ein weiter Weg, bis der erste Mensch den Mars betritt. Trotzkind teleportierten die Nachricht über diesen Moment aus dem Jahr 2042 in die Gegenwart. Im futuristischen 360-Grad- Studio des ZDF "heute-journals" informiert die Moderatorin (überhaupt nicht gealtert: Eva-Maria Lemke) auf einer Dachterrasse die Zuschauer über den historischen Moment, der kurz bevorsteht.

[Video zur Mars Mission]

Die VR-Nutzer der Gegenwart lassen sich im Wesentlichen in zwei Typen einteilen, erklärt Sven Haeberlein, einer der beiden Geschäftsführer von Trotzkind: "Die einen stehen total auf Interaktion, die anderen starren auch mit der VR-Brille auf der Nase nur geradeaus, als würden sie klassisches Fernsehen schauen."

Das Team entwickelte deshalb ein mehrstufiges Story-Konzept, das unterschiedlichen Nutzerszenarien gerecht werden soll. Haeberlein: "Der Anfang verläuft zunächst linear. Der Zuschauer muss nichts tun, sitzt passiv im Studio und schaut der Moderatorin zu. Auf der zweiten Stufe folgt die Interaktion mittels eines Joysticks, mit dem der Zuschauer gemeinsam mit einer Pilotin das vorbeifliegende Spaceshuttle zum Mars steuern kann. Auf der dritten Stufe, nach der Marslandung, kann der Zuschauer aufstehen und auf dem Mars umherlaufen."

Doch was, wenn der Zuschauer nicht aktiv wird und die Anweisungen der Pilotin ignoriert?

"Auch dann stützt das Spaceshuttle nicht ab. Die Pilotin reagiert jedoch auf den Nutzer kommuniziert mit ihm wie mit einem passiven Co-Piloten. Die Sendung funktioniert auch ohne Aktionen des Zuschauers".

Eine große Herausforderung für Autoren und Entwickler. Sie müssen im Vorfeld unterschiedliche Verhaltensweisen der Zuschauer berücksichtigen und in ihr Storytelling einbinden, also mehrere Varianten ihrer Drehbücher und Storyboards vorbereiten. Je mehr Möglichkeiten eine Experience zur Interaktion anbietet, desto mehr inhaltliche Verzweigungen sind möglich - die Anforderungen und Variationsmöglichkeiten steigen exponentiell. Haeberlein vergleicht diese Aufgabe mit einem Rollenspiel. Hier sei ein guter Spielleiter in der Lage, die Akteure in eine bestimmte Richtung zu lenken, aber gleichzeitig die Illusion der freien Entscheidung aufrecht zu erhalten. Je geschickter Autoren und Regisseure in VR also Wahlmöglichkeiten gewichten, desto eher wird sich das Publikum wie gewünscht entscheiden und die Experience als zufriedenstellend empfinden.

Die Produktion der Mars-Mission dauerte über zehn Monate. Team und Filmcrew bestanden aus 14 Mitarbeitern. Sie stießen im Verlauf der Produktion auf eine Vielzahl weiterer Herausforderungen, die aus grundsätzlichen formalen Unterschieden zwischen VR- und klassischer Film- und TV-Produktion herrühren. 

Schnitte beispielweise sind im 360-Grad- Raum zwar prinzipiell möglich, allerdings schwierig einzusetzen. Die Mars Mission Experience wurde ursprünglich wie ein klassischer Film geplant: Planung, Drehbuch, Produktion/Dreh, Postproduktion.

Haeberlein: "Die Praxis hat gezeigt, dass zukünftig viel mehr Zeit in die Erstellung eines Prototypen investiert werden muss, um ein gewisses 'Spieldesign' zu realisieren und eine Balance zwischen Unter- und Überforderung des Nutzers zu schaffen. Beim Gamedesign ist der Ablauf: Dreh, Schnitt, neuer Dreh, Schnitt, neuer Dreh und so weiter. Dadurch vergrößert sich der Umfang des Projektes immens. Andererseits besteht der Vorteil darin, dass nicht mehr alles fertig abgedreht sein muss, bevor es in die Postproduktion geht. Es wird zunächst mit Papierschnipseln gearbeitet, um die Experience genau zu planen, bevor überhaupt angefangen wird, die Probelayouts am Computer zu erstellen."

Die Postproduktion stellt bei VR also die mit Abstand zeit- und kostenintensivste Stufe im Wertschöpfungsprozess dar.

"Sonar", 360 Grad Kurzfilm

In dem von den Filmstudenten Dominik Stockhausen und Philipp Maas entwickelten Sci-fi Kurzfilm "Sonar" entdeckt eine Drohne einen unbekannten Asteroiden. Auf ihrem Flug über eine felsige Oberfläche folgt sie einem alten Labyrinth, das ein dunkles Geheimnis in sich birgt. Seine Macher bezeichnen den Film als "eine neue Form von cinematischem Entertainment", und tatsächlich funktioniert hier die Fusion von traditionellen Filmtechniken und 360-Grad- Film. Dieser experimentelle, immersive Kurzfilm (Spieldauer: 6.09 Minuten) besteht aus einer 3D-Computeranimation und entstand von Mitte 2014 bis Ende 2015 in einer Netto-Produktionszeit von ungefähr vier Monaten. Er ist im Oculus Store erhältlich und kann z.B. mit der Gear VR angesgehen werden.

[Video zum "Sonar"-Film]

Anders als bei der Mars-Mission des ZDF sehen sie Zuschauer bei "Sonar" ein komplett vorgerendertes Video. Sie haben also keine individuellen Entscheidungsmöglichkeiten, können sich allerdings im 360-Grad- Raum nach Belieben umsehen. Die Herausforderung bestand also darin, die Aufmerksamkeit des
Zuschauers so zu lenken, dass er der Story folgen kann, dass er also im richtigen Moment dort hinsieht, wo etwas passiert.

Die Produzenten nutzten dafür verschiedene Mittel:

Bewegung: Der Blick des Zuschauern folgt z.B. den Bewegungslinien der Drohne.

Beleuchtung: Signalisierung der entscheidenden Stellen im Weltall-Setting.

Frontale Ausrichtung der Objekte: Die wesentlichen Elemente liegen allesamt im frontalen 120-Grad- Blickfeld des Zuschauers.

Künstlicher Rahmen: Am Rand des Blickfeldes befinden sich eingrenzende Elemente und geometrische Strukturen wie etwa die Stangenkonstruktion des Cockpits.

Der Zuschauer nimmt - anders als zumeist im klassischen Film - den Point-of- View ein. Harte Schnitte sind deshalb mit Bedacht einzusetzen, da sie das Gefühl von Raumsprüngen (Teleportation) erzeugen und jedes Mal eine Neuorientierung des Betrachters verlangen. Weiche Überblendungen können diesen Effekt dämpfen.

Stockhausen: "Beim Storytelling für VR braucht man eine völlig andere Art von Geschichte. Man muss sich als Filmemacher komplett von der klassischen Art, wie man filmische Geschichten erzählt, lösen und das Medium so nehmen, wie es eben gerade ist. Erzählmittel wie Schnitt, Kadrierung, Einstellungsgrößen oder Tiefenschärfe können nicht eins zu eins übernommen werden."

Stockhausen und Maas haben sich für einen animierten Film entschieden. Diese Herangehensweise unterscheidet sich grundsätzlich von einer szenischen
Produktion.

Stockhausen: "Wir mussten sehr viel mehr Zeit in die Vorproduktion investieren, das ganze Timing zum Beispiel schon im Vorfeld komplett erarbeiten. Dafür fällt die Postproduktion deutlich kürzer aus als bei einer szenischen Produktion. Das ist zum Beispiel für den Werbefilmbereich relevant, da die Zeit dort ja oft knapp bemessen ist. Der Kunde muss wissen, dass die Umsetzung eines solchen Projektes noch sehr viel Research und Development erfordert."

Hintergrund

Dieser Gastbeitrag basiert auf den geführten Experteninterviews mit Sven Haeberlein (Geschäftsführer Trotzkind GmbH) und Dominik Stockhausen (Filmstudent Filmakademie Baden-Württemberg) im Rahmen einer empirischen Studie der DCI Institute GmbH, in Kooperation mit der Hochschule Fresenius sowie dem EDFVR, zum Thema: "Bedeutung von Virtual Reality für den Bewegtbildsektor". Die Langfassung des Artikels ist hier abrufbar.

Autoren: Anett Göritz, Managing Partner, DCI Institute GmbH; Sebastian Züger, Public Relations, EDFVR

Auf kress.de bereits zum Thema erschienen: "Ein komplett neues Medium": Wie Film- und TV-Produzenten von Virtual Reality profitieren können".

 

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