Ein Sponti-Journalist wird Verleger: Eine Zeitungs-Geschichte aus dem Ruhrgebiet

 

Paul-Josef Raue widmet sich in seiner kress.de-Kolumne "Journalismus!" in dieser Woche Ludger Claßen vom Klartext-Verlag, der nach drei Jahrzehnten als Chef abtritt.

Ludger Claßens Journalistenleben im Ruhrgebiet gleicht einer Wanderung durch die deutsche Nachkriegsgeschichte mit Auf- und Abstiegen, Irrwegen und Atemholen auf grünen Lichtungen. Er startete, wie jeder Achtundsechziger, auf einer Demo gegen die Notstandsgesetze, aber er erschöpfte sich nicht darin, sich abzutrocknen nach Wasserwerfer-Duschen und sich neu zu entrüsten.

Er begann zu schreiben. Die "WAZ" war in den siebziger Jahren der ideale Ort, um die Massen zu erreichen. Aber erstens mochte er die "WAZ" nicht, und zweitens mochte die "WAZ" ihn nicht. Also gründete er mit Freunden kleine Stadtzeitungen für Essen: Die erste hieß Klartext, wie später sein Buchverlag, die zweite, von ihm mitgegründet, Standorte.

"Die Leute misstrauten immer mehr dem Schmusekurs in den Zeitungen, vor allem der WAZ, die sich an die SPD-Mächtigen anlehnte und nie eine kritische Zeile über deren Machenschaften schrieb", erinnert sich Claßen. Die Zeitungen im Kohlenpott der siebziger Jahre, vielleicht abgesehen von der "NRZ", kontrollierten nicht die Macht, sie waren Teil der Macht. Im Ruhrgebiet huldigten sie der SPD, die mit ihrem Machtapparat der CSU in Bayern vergleichbar war.

Claßen bekam in der Stadtzeitung eine Kolumne: "'WAZ' wir unseren Lesern nicht zumuten wollen", in der er Stilblüten und andere Entgleisungen aufspießte. Und er schrieb die Geschichten, die der "WAZ"-Lokalchef nicht schrieb. "Der war verbandelt mit den Spitzen von Rat und Verwaltung", erklärt Claßen. Die Jungen in der SPD, zwar Teil des Systems, aber überdrüssig der Macht-Machenschaften, steckten der Standorte-Redaktion die Themen und Informationen zu.

Claßen wurde dann Buch-Verleger, blieb links und unabhängig, aber verkaufte vor gut einem Jahrzehnt den Klartext-Verlag just an den Konzern, der in seiner wilden Jugend sein Lieblings-Feind gewesen war. Er verkaufte an die WAZ. "Da waren mittlerweile andere Leute an der Spitze", erklärt er, "wir hatten schon zusammen Bücher gemacht, erfolgreiche Bücher."

Endete so sein Marsch durch die Institutionen? "Unsinn!", protestiert Claßen: "Wir haben erst gar nicht versucht, in die Institutionen einzudringen. Wir haben eine eigene Institution geschaffen, eben den Verlag. Wir verwirklichten das Interesse, uns einzumischen - wie auch das Interesse, Arbeitsplätze zu schaffen."

Wenn ihm damals, in seinem sozialistischen Zeitalter, einer prophezeit hätte: "Wart mal, irgendwann bekommst Du das Bundesverdienstkreuz", den hätte Claßen ausgelacht und "Undenkbar!" gedacht. Mit 57 bekam er es, und er sagt, er habe sich darüber gefreut - "weil der Vorschlag aus einem großen und renommierten Verlag, dem Frankfurter S. Fischer-Verlag, kam. Das war eine Ehrung für mein Lebenswerk. Die etablierten Verlage haben unseren kleinen Verlag genau beobachtet und für gut befunden. Das hat mich schon stolz gemacht."

Sind Sie heute noch ein Achtundsechziger, Herr Claßen? "Das Lebensgefühl meiner Jugend habe ich immer noch, die Distanz zu vielen Dingen, das ständige Fragen, das hört nicht auf", antwortet er. Auch nicht, wenn man die 60 überschritten hat? "Gut, man wird älter, aber grundsätzlich bin ich mir treu geblieben. Meinetwegen kann man das links nennen, was aber nichts mit der Partei zu tun hat."

Doch zurück zu den Anfängen: Wer von den Jungen weiß noch, was die APO war, die außerparlamentarische Opposition? Grob gesagt: Die APO war gegen das Verdrängen der Nazi-Zeit, gegen das Schweigen der Eltern, gegen die Mächtigen, gegen eine Demokratie, die beschworen, aber nicht verwirklicht wurde, gegen die NPD, gegen Polizei und Wasserwerfer, gegen die Aufrüstung, gegen Amerikaner und Nato, eben gegen alles. Ludger Claßen war auch dagegen, aber er engagierte sich nicht politisch in einer Partei. "Wir haben darauf geachtet, unabhängig zu sein", schaut er zurück. "Die Grünen stellten uns in die Nähe der SPD; die SPD sah uns grün angemalt; für die CDU waren wir nur verdächtig. Mitte der achtziger Jahre waren plötzlich alle verdutzt, als wir ein Buch mit dem Ruhrbischof Franz Hengsbach als Autor auf den Markt brachten. Das war unser Prinzip: Nicht vereinnahmen lassen, von keiner Seite."

Das war eine journalistische Position, und es war eine Gegenposition zu den linken Splittergruppen abseits der DKP. "Ich konnte mit denen nichts anfangen, war nie Mitglied einer der K-Gruppen, ich war eher ein Sponti."

Am Anfang war das "Schreibheft". Wilfried H. Bienek und Ulrich Homann hatten die Zeitschrift 1977 gegründet; sie existiert noch immer, ist eine vielfach preisgekrönte Literaturzeitschrift, die zweimal im Jahr erscheint. Mit Bienek, Homann und Mitstreitern gründete Claßen die alternative Stadtzeitung, ehe Anfang der achtziger Jahre für Claßen die Zeit des Buch-Verlegers anbrach, die drei Jahrzehnte währen sollte.

In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren war das Buch das Leitmedium, gerade für die APO und die Gegenöffentlichkeit. Rowohlt hatte schon 1961 sein legendäres "rororo aktuell" geschaffen. Das erste Taschenbuch kostete 1,90 D-Mark, hieß programmatisch "Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?", der erste Herausgeber war Martin Walser. Über 700 Rowohlt-Bände folgten, am erfolgreichsten mit 170.000 verkauften Büchern war Rudi Dutschkes "Rebellion der Studenten"; 1972 erschien "Wie links können Journalisten sein? Pressefreiheit und Profit".

Wer Themen setzen, Debatten führen und neue Lösungen für alte Konflikte finden wollte, der machte Bücher - wie Ludger Claßen, der sich auch bundesweit mit Büchern einmischte wie "Tatort Pflegeheim", in dem 400 Zivis über ihre Erfahrungen berichteten.

Erstaunlich wenig Ärger entzündete sich. Offenbar war die Zeit reif für Debatten, die lange ein Tabu waren. Claßens "Klartext" gehörte zu den ersten, die vierzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum Nationalsozialismus im Revier recherchierten - so tief und kritisch, wie es vorher kaum einer gewagt hatte. Viele der Opfer, aber vor allem viele der Täter, lebten noch, manche direkt in der Nachbarschaft, Tür an Tür. "Wir ahnten selber nicht, wie viele Schweinerein sich direkt vor unserer Haustür abgespielt hatten", erinnert sich Ludger Claßen.

Nur einmal drohte ein Konflikt vor Gericht zu lande. Ein Rechtsanwalt wollte den Verlag im Auftrag eines ehemaligen SA-Manns zwingen, ein Buch einzustampfen: Sein Mandant sei nicht 1933, wie im Buch geschildert, sondern erst ein Jahr später in die SA eingetreten. Claßen griff zu einem Trick, wenn es überhaupt einer war: Wenn der alte SA-Mann vor Gericht zöge, würde seine Vergangenheit zum großen öffentlichen Thema, würden viele darüber schreiben und einen gehörigen Wirbel erzeugen. "Kann das im Interesse Ihres Mandanten sein?" Der Prozess fand nicht statt.

Der Klartext-Verlag reüssierte, aber: "Wir hatten immer ein schlechtes Gewissen, wenn wir viel Geld verdienten. Und wir verdienten zehn, fünfzehn Jahre wirklich gutes Geld." In den Jahren hatte Klartext den Fußball entdeckt, dem auch ein Linker im Revier huldigte: Als Borussia Dortmund zweimal Deutscher Meister wurde, bekamen Fußball-Bücher Bestseller-Status. "Wir hätten in dieser Zeit Geld auf die Seite legen müssen. Es war eine Dummheit, dies nicht zu tun", sagt Claßen heute. Der linke Verleger lernte den Kapitalismus kennen und musste, als das Geschäft nicht mehr so gut lief, in den neunziger Jahren die Belegschaft reduzieren.

Als der Fußball nicht mehr so gut zu vermarkten war, ersann Claßen die nächste Erfolgsstory: Regionale Bücher gemeinsam mit der größten Regionalzeitung Deutschlands, der "WAZ". Er dürfte als der deutsche Pionier von "Zeitung und Buch" gelten: Schon in den neunziger Jahren packte er Serien der "WAZ", Kolumnen und Chroniken zwischen zwei Buchdeckel.

2006 brachte er eine Reihe mit den besten Büchern und Filmen aus Nordrhein-Westfalen auf den Markt, zusammen mit dem WDR, der "Tatort"-Folgen und Dokumentarfilme auf DVD beisteuerte. Aber das waren andere Zeiten: Die "WAZ" hatte eine Millionen-Auflage und in allen Städten noch eine Geschäftsstelle, wo die Bücher und Filme für Umsatz sorgten; fast eine halbe Million Medien verkaufte Klartext mit "Wir in Nordrhein-Westfalen".

In Italien war wohl die Idee entstanden, Bücher als Zugabe der Zeitung beizulegen, um die Auflagen zu steigern - von Zeitung wie vom Buch. Die "Süddeutsche Zeitung" griff die Idee kurz nach der Jahrtausendwende auf, besorgte sich die Lizenzen aus Italien und brachte die "100 großen Romane des 20. Jahrhunderts" auf den Markt, anspruchsvoll, preiswert und repräsentativ im Bücherregal oder barocken Bücherschrank. In der Münchner Redaktion gab es Debatten, ob man die Idee des Verlags nicht einfach ignorieren sollte: Zeitung ist Geist, Buchverkauf ist Geschäft, dazwischen sei eine Mauer.

"Patentexte" nannte man, durchaus zweideutig, die Artikel, die zu den Büchern im Feuilleton erschienen; für einige Redakteure verlor in diesen Wochen das "SZ"-Feuilleton seine Unschuld.

Claßen war derweil schon wieder mit seinem Verlag umgezogen. Er mochte die leer stehenden Industrie-Monumente: Erst die alte Lastwagen-Fabrik von Krupp, dann 2003 die Steiger-Kaue der Zeche Fritz hart an der Stadtgrenze zu Gelsenkirchen. "Das war schon programmatisch", sagt Claßen. Der dritte Umzug vor einige Monaten war auch Programm, aber ein anderes: Der Funke-Konzern holte Klartext heim in die Zentrale mitten in der Stadt.

Zu Funke, damals noch der "WAZ"-Konzern, kam Claßen vor neun Jahren. Der alte Klassenfeind bot am meisten, zudem gab es mit der Redaktion erfolgreiche Kooperationen - und die Gesellschafter stimmten zu. "Wir waren nicht finanziell am Ende, im Gegenteil. Ich dachte an die Zeit, wenn ich in Rente gehe; ich wollte den Verlag dafür präparieren."

Claßen blieb seiner Verleger-Maxime treu: keine Hierarchien, schnelle Entscheidungen und auch mal ein Experiment. So dehnte er sein Programm erfolgreich ins Braunschweiger Land aus, nach Thüringen, wo er die mittlerweile 25-bändige "Thüringen-Bibliothek" gründete. Zu den Fachbüchern zur Zeitgeschichte - als wichtigem Teil des Verlagsprogramms - gesellten sich zahlreiche Publikationen zur Eisenbahngeschichte - Früchte einer Kooperation mit der VG Bahn, ebenfalls ein Tochterunternehmen der Funke Mediengruppe.

Klartext behielt im Konzern einen gewissen Freiraum, auch wenn Claßen schon Unterschiede zu einigen Managern erkennen konnte: "Heute gucken manche nur noch aufs Geld, Publizisten haben es schwer gegenüber den Betriebswirten. Die Spielräume sind enger geworden."

So fühlte er sich am wohlsten, wenn er mit dem Fahrrad vom südlichen Stadtrand zum nördlichen fuhr und sich in seiner Zeche sicher fühlte. Die Kartons für den Umzug in die Zentrale musste er nicht mehr packen. In diesen Tagen zieht er sich, ein wenig früher als geplant, aus dem Verlag zurück - nach 3.400 Büchern, die er verlegt hat.

Ein Buch wird er, der gelernte Historiker, aber noch schreiben. Nein, keine Memoiren, sondern eine Mischung aus den großen Themen seines Lebens: Krieg und Frieden, Fußball, Kohlenpott und Geschichte.

Wann stieg der Fußball zu einer Macht auf, der die Massen fasziniert? Das war, so Claßens Recherche, im Ersten Weltkrieg: Wenn sich die Soldaten aus den Schützengräben für einige Wochen in die Etappe zurückzogen, spielten sie unentwegt Fußball oder schauten den anderen zu. Kamen vor dem Krieg hundert Zuschauer, waren es nach dem Krieg Tausende im Ruhrgebiet; hatte der DFB 1914 gerade mal 150.000 Mitglieder, so waren es sechs Jahre später fünfmal so viele.

Das Buch wird sein Buch. Sein Lebenswerk - so könne man es mit ein wenig Pathos nennen. Aber Pathos mag er nicht, der ewige Skeptiker.

Paul-Josef Raue arbeitete in Braunschweig und Thüringen ein gutes Jahrzehnt lang mit Claßen zusammen und gab zwei Dutzend Bücher im Klartext-Verlag heraus. Vor drei Jahren eröffneten Claßen und Raue "Die Bibliothek des Journalismus" mit dem Interview-Buch "Hans Hoffmeister: Harmonie ist mir suspekt"; fünf Bände sind erschienen, einige Projekte waren geplant. Im vergangenen Jahr erschien bei Klartext Raues Geschichtsbuch "Die unvollendete Revolution. Ost und West - Die Geschichte einer schwierigen Beziehung". Beide schätzen die Geschichte, vor allem die lokale, und beiden mögen die Menschen, ihr Leben und ihre Geschichten - die, aufregend erzählt, gut in die Zeitung und zwischen zwei Buchdeckel passen. 

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