Wenn die Auflage abstürzt, setzen sich Chefredaktion und Management zusammen, tauschen Vorwürfe aus wie Fußballspieler die Trikots - bis einer das Zauberwort sagt: Relaunch! Wenn die MA feststellt, dass immer wenige junge Leute die Zeitung lesen - ruft wieder einer das Zauberwort: Relaunch!
Da es um die Zukunft geht, spielt Geld meist keine Rolle. Wenn ein aushäusiger Designer verpflichtet wird, kommt der, falls er einen Guru-Status hat, mit Gefolge, er präsentiert viele Zeitungsseiten, bunt, luftig und anders: Ja, sagt er, so könnte auch Ihre Zeitung aussehen! Alle nicken, selbst der Chefredakteur, der seit Jahrzehnten dabei ist und die Zaubertricks kennt.
Alle, die Mutigen und Vorsichtigen, die Zauderer und Revolutionäre, versammeln sich hinter der Formel: "Neues wagen, ohne Bewährtes zu vernachlässigen." So formulierte Lars Oliver Hennemann den Relaunch im Sommer dieses Jahres, der Chefredakteur der "Echo"-Tageszeitungen im Rhein-Main-Gebiet.
Doch das neue Design ist nicht die Hauptsache eines Relaunchs. Die alte Weisheit, nach der die Form dem Inhalt folgen muss, bedeutet für eine Zeitung: Was ist die Stärke meiner Zeitung? Was muss ich verändern, um die Bedürfnisse meiner Leser zu befriedigen?
Dazu kommt eine neue Frage: Wo steht meine Zeitung in der Konkurrenz mit den Online-Medien, mit Smartphone und Tablet und Notebook?
Ein Relaunch ist mehr als ein luftiges Layout mit ein paar grafischen Spielereien. Ein Relaunch ist der Blick in die journalistische Zukunft, ausgehend von der Frage: Wo stehen wir?, hin zu der Frage: Wohin wollen wir? Die Antworten spiegeln sich im Relaunch. Ein Beispiel:
Die "Südwest-Presse" in Ulm mit gut 300.000 Auflage hat im Oktober ihr Aussehen wie auch ihre Struktur verändert, radikal sogar. Ein Jahrzehnt oder länger blieb die Zeitung ihrer Gestaltung treu, schwäbisch gelassen, man könnte sogar von einer gewissen Betulichkeit sprechen. Die Zeitung war wie ihre Leser.
Doch Vorsicht! Leser ändern sich, die Gesellschaft ändert sich - und Redaktionen sind klug, wenn sie nicht von ihrer eigenen Abneigung gegen Veränderungen ausgehen und daraus schließen: Die Leute schätzen nur das Bewährte, schätzen die Zeitung als ruhenden Pol in einer unruhigen Welt.
Doch die Leser ändern sich, auch in Schwaben: Sie brauchen die Zeitung nicht mehr, um Nachrichten zu lesen. Das Rennen um die Aktualität haben die Zeitungen zudem schon lange vor dem Internet verloren. Mitte der fünfziger Jahre fragte der "Holsteinische Courier" seine Leser, was sie von ihrer Zeitung verlangen, und druckte die Ergebnisse in einer vierseitigen Beilage. Ein Leser schrieb:
"Vieles, was im Courier über Politik steht, sind doch nur Nachrichten, die wir mindestens dreimal am Tag über den Rundfunk hören."
Sechzig Jahre später zieht über die Bürger ein unendliches Nachrichten-Gewitter hinweg: Sie lesen und hören unentwegt, was passiert ist, aber sie verstehen nicht, warum es passiert. Darauf reagiert die "Südwest Presse" und bringt auf jeder Seite meist einen großen Artikel, der die Oberfläche der Nachrichten verlässt und in die Tiefe taucht. Fast völlig verschwunden sind die Artikel mit 20 oder 30 Zeilen, die zu lang sind für eine Nachricht und zu kurz für eine Analyse.
"Wir müssen mehr Mut haben, eigene Schwerpunkte zu entwickeln. Der Leser honoriert das!", sagt Chefredakteur Ulrich Becker. "Ich höre nach dem Relaunch von den Lesern: Ich erfahre mehr als früher - oder: Das habe ich so nirgendwo anders gelesen."
Die Zeitung ähnelt plötzlich einer Wochenzeitung, die täglich erscheint; die Zeitung beweist, dass Redakteure die Welt erklären können, die große und die lokale. Die moderne Zeitung ist mehr als eine Nachrichten-Sammlung, sie wird journalistisch in dem Sinne, dass sie stärker recherchiert und den Platz schafft, um Recherchen auch zu präsentieren, opulent und ausführlich.
Ein Nachteil der reformbedürftigen "Südwest Presse" war die einzeilige Überschrift: Sie war kurz, fasste meist nur drei, vier Wörter, sie verführte den Redakteur zum Griff in die Textbaustein-Sammlung wie "Streit um..." oder ähnlichem mehr. Der Leser ärgerte sich, er konnte nicht erkennen, was ihn im Artikel erwartet; der Redakteur hätte sich auch ärgern müssen, denn der Leser, den die Überschrift nicht verführt, liest seinen Artikel nicht.
Die Gestaltung muss aber der Funktion folgen - wie im Relaunch: Die große, tiefschwarze Überschrift geht oft über zwei Zeilen, sie bietet genügend Raum für eine Inhaltsangabe, falls sich der Redakteur nicht in feuilletonistische Spielereien verlieren will. Die Überschrift nebst Unterzeile, die ausführlich ist wie ein Vorspann, hat ihre Funktion wieder erlangt: Den Leser zu informieren und zum Lesen zu verführen - oder zum Weiterblättern. Auf jeden Fall ärgert sich der Leser nicht mehr, wenn er erst im zweiten Absatz erfährt, dass ihn das Thema nicht interessiert.
Gerade im Lokalen haben kurze Meldungen, Service und Vereinsnachrichten noch einen hohen Wert für viele Leser. Das "Community-Building" ist kein Online-Privileg, es ist genau so wichtig in der Lokalzeitung. Diese Nachrichten stehen am Fuß der Seite, blattbreit und rubriziert.
Norbert Küpper, einer der erfahrenen und einflussreichen Zeitungs-Designer, stellt anerkennend fest: Man hat mit den Überschriften das enge Korsett endlich gelockert; aber er kritisiert die Meldungen am Fuß:
"Unten auf der Seite wird nichts Wichtiges mehr erwartet. Da sollte man eher eine größere mehrspaltige Überschrift als Blickfang platzieren. Es ist ja für die Redaktion auch ziemlich stupide, jeden Tag alle Meldungen auf die gleiche Höhe zu schreiben." Küpper verweist auf skandinavischen Zeitungen, die stilbildend in Europa sind: "Das ist man lockerer und würde die Meldungen unterschiedlich lang laufen lassen. Man nennt es auch Wäscheleinen-Umbruch. Oben stehen die Meldungen auf einer Linie, unten laufen sie unterschiedlich lang aus."
Offenbar verwirrte die Meldungsleiste am Fuß der Seiten auch einige Leser, berichtet Ulrich Becker, der Chefredakteur: "Nach vier Wochen dreht sich das, es kommen überwiegend positive Rückmeldungen. Schnell, überraschend, mit spielerischen Elementen, das sagen nun die Leser."
Schon immer war es Aufgabe der Tageszeitung, den Leser zu unterstützen, die Welt zu verstehen. Zu viele Redaktionen haben diese Aufgabe nicht mehr verstanden; dem Medien-Monopol der Zeitung haben sie es zu verdanken, dass Leser nicht schon früh scharenweise von dannen zogen. Im Online-Zeitalter führt das Defizit in eine Existenz-Krise.
So reagieren Redaktionen in einem Relaunch am besten auf die Krise:
1. Die Zeitung ist so übersichtlich wie der Küchenschrank ihrer Leser: Mit verbundenen Augen können morgens die Leser, noch schlaftrunken, ihren Kaffeebecher finden. So ordentlich muss auch eine Zeitung sein.
2. Die Zeitung ist der beste Welterkunder, gerade in unruhigen Zeiten, in denen die Welt in unser ruhiges Land einbricht. Wer die Welt verstehen will, muss die Zeitung lesen: Das ist der Auftrag an die Redakteure, im Mantel und erst recht im Lokalen.
3. Die Zeitung bildet die lokale Gemeinschaft und öffnet sich den Debatten, Ein- und Widersprüchen.
Im Südwesten ist der Relaunch offenbar gelungen: "Die Resonanz ist überwältigend gut", sagt Chefredakteur Becker, "wir haben keine zehn Kündigungen, in manchen Ausgaben null!" Allerdings haben sich mehrere hundert Leser in den Verlagen beschwert, die den Mantel aus Ulm beziehen: Sie mögen nicht die geschrumpfte, schwer zu lesende Schrift.
Das kleinere Format in den Partner-Verlagen verursacht die Schwierigkeiten: Die Seiten des größeren Rheinischen Formats aus Ulm werden in das kleinere Berliner Format umgewandelt. Die Südwest-Presse ist schon seit Jahrzehnten Lieferant für Zeitungen im Südwesten Baden-Württembergs, kennt die Probleme mit den kleinen Verlagen. Das Südwest-Modell, das beispielsweise auch die "Stuttgarter Nachrichten" betreiben, ist seit kurzem auch eingeplantes Geschäftsmodell der großen Konzerne wie Madsack und Funke, die mit ihren großen und teuren Zentralredaktionen nicht nur die eigenen Titel versorgen, sondern auch möglichst viele neue Kunden gewinnen wollen.
In Ulm mussten die Gestalter eingreifen, um die Schrift lesbarer machen.
Was Lesern gefällt, muss Politikern noch lange nicht gefallen. Freuen sich Leser über lange Texte, entdecken Politiker "Blabla oder sinnentstellende Verkürzungen". So polterte auf Facebook der Grünen-Politiker Boris Palmer, Oberbürgermeister in Tübingen,: "Mehr Luft und weniger Text". kress.de berichtete ausführlich.
Eine Redaktion kann dies als einen normalen Konflikt mit einem Mächtigen beiseitelegen: Der Oberbürgermeister war offenbar verärgert, weil er in einem Artikel über die Vergabe des Integrationspreises zu kurz kam. Stefan Lutz, Chefredakteur des konkurrierenden "Südkurier", vermutet denn auch, Tübingens Oberbürgermeister habe noch eine offene Rechnung begleichen wollen.
Gleichwohl hat der Ulmer Chefredakteur Palmer zu einer Blattkritik eingeladen. Palmer hat zugesagt.
Paul-Josef Raue (66) berät Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen. Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main, Marburg und Eisenach. Er hat an allen Orten reichlich Relaunch-Erfahrungen sammeln können. In Marburg führte der Relaunch mit "Lokalem nach vorn" sogar zu einer deutlichen Steigerung der Auflage; das war vor gut drei Jahrzehnten und wäre heute undenkbar. "JOURNALISMUS!" erscheint jeden Dienstag auf kress.de, wo auch Raues 20-teilige Serie "Journalismus der Zukunft" zu lesen ist. Sein Blog mit weit über tausend Einträgen: www.journalismus-handbuch.de
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