"Ein guter Tatort ist einer, in dem der Kommissar gute Fragen stellt", lobte ein Kritiker den ersten TV-Tatort vor einem halben Jahrhundert. "Wo waren Sie gestern zwischen 11 und 12?", ist eine Frage, die ein TV-Kommissar, gefühlt, mehr als tausend Mal gestellt hat. Es ist keine gute Frage, die weder überraschend ist, noch eine ehrliche oder gar kluge Antwort provoziert.
In einem guten Interview kommt es auch auf die Fragen an: Sind sie gut, wird das Interview gut selbst bei einem schwierigen Gast - oder gerade wenn der Gast widerborstig, frech, einsilbig oder zu nett ist. Sind die Fragen schwach, wird auch das Interview schwach - erst recht wenn der Gast meint, die Schwäche des Journalisten ausnutzen zu können.
Wie kann ein Interview misslingen? Das ist die Analyse eines Scheiterns:
1. Was die Überschrift verspricht, muss der Text halten
"Wir zeigen, dass es geht", lautet die Überschrift, sie ist ein Zitat Ramelows. Ein "Cicero"-Leser weiß wahrscheinlich, dass es um die rot-rot-grüne Regierung in Thüringen geht. Die Überschrift macht ihn neugierig, er will erfahren: Was geht? Welche Projekte laufen? Welche nicht - und warum?
Er wird keine ausreichende Antwort bekommen: Der Redakteur fragt nicht hartnäckig, der Politiker speist die Leser mit einer Seid-nett-zueinander-Floskel ab: "Alle drei Parteien müssen sich gleich ernst nehmen." Und er ergänzt: "Keine Koch- und Kellnerspiele spielen."
Da drängt sich dem Leser die Frage auf: Gibt es keinen Kanzler, keinen Koch mehr? Darf Gabriel, so er Kanzler wäre, keine Richtlinien mehr vorgeben? Der Redakteur fragt nicht.
2. Der Redakteur muss nachhaken
In einer rot-rot-grünen Koalition müssen die drei Parteien "eine andere politische Kultur leben", sagt Ramelow. Immer wenn Politiker von "Kultur" sprechen, müssen Journalisten aufhorchen: Was meint er? Kultur ist wie ein Beutel, in dem man alles packen kann. Das hilft nur die banale Frage: Was ist eine andere politische Kultur? Der Redakteur fragt nicht.
3. Auf eine geschlossene Frage verlangt der Leser eine eindeutige Antwort
"Ist Rot-Rot-Grün in Thüringen ein Modell für den Bund?" Mit dieser Frage eröffnet Christoph Seils das Interview. Der Leser will ein "Ja" hören, ein "Nein" oder schlimmstenfalls ein "Ich weiß es nicht"; er will nicht aus einer längeren Antwort selbst das Ja oder Nein enträtseln. Ramelow mag keine geschlossene Fragen, er antwortet nicht, er lässt den Leser rätseln und sagt: "Wir zeigen, dass es geht." Der Redakteur lässt es durchgehen.
4. Ein Interview braucht einen roten Faden, eine Ordnung
Das Interview in einem Magazin ist das Gegenteil einer Talkshow, in der es wild hin-und hergeht. Ein gedrucktes Interview ist Literatur, ist gezielte Manipulation, von beiden Seiten autorisiert. Wenn es sich liest wie ein Gespräch, das keinen roten Faden hat, verliert der Leser die Orientierung - wie im Ramelow-Interview. Im ersten Drittel ist Rot-Rot-Grün das Thema, dann wieder im zweiten Drittel und am Ende noch einmal - ohne dass das entscheidende Thema ein Abschluss findet und Ramelow gefordert wird.
5. Der Leser liest zuerst nur die Fragen: Die müssen genau sein, verständlich und attraktiv
Leserforschungen zeigen: Nicht die Antworten reizen zum Lesen, sondern die Fragen. So nehmen sich Redaktionen, die ihre Fragen fett drucken, nicht zu wichtig, sondern sie reagieren auf das Verhalten der meisten Leser: Diese Frage könnte ich auch stellen; die Antwort auf diese Frage will ich wissen; wie kann man nur so unverschämt fragen usw.
Wer in Fragen gerne Pronomen, also Fürwörter, wie "dabei" oder "das" nutzt, erreicht nur den Leser, der Satz für Satz das komplette Interview liest. Wer Fragen wie Zwischentitel liest, um bei einer interessanten Frage einzusteigen, der weiß nicht, worauf sich die Pronomen beziehen wie in der Frage "Was heißt das für den Bund?" oder "Was konkret soll sie garantieren?"
6. Der Journalist darf provozieren, darf des Teufels Advokat sein, aber er sollte seine Meinung hinterm Berg halten
"Noch arbeiten sich SPD und Linke in der Bundespolitik aneinander ab...", wirft der Journalist ein, wird zum Stichwort-Geber und bekommt eine beliebige Antwort. Beim MDR-Hörfunk moderiert eine Redakteurin, die in einem Interview gern ihre Meinung formuliert und am Ende fragt: "Oder?"
Ein Interview ist kein Kommentar, die Meinung des Journalisten spielt keine Rolle: Der Gast steht im Zentrum.
Rund ein Drittel der Fragen im Ramelow-Interview sind keine Fragen, sondern Einwürfe wie "Jetzt mal wieder zum vergangenen Herbst" oder "Zurück zur Bundeswehr..." oder Kommentare, suggestiv formuliert wie "Sie können doch nicht leugnen, dass die Zuwanderungswelle zu Konflikten führt". Gar keine Fragen sind in einem Interview die schlechtesten Fragen.
7. Ein Schachtelsatz wirft Leser aus dem Text raus - und verleitet den Gast zum Schwadronieren
"Es geht doch nicht um ein paar Demonstranten, die sich am Tag der Einheit danebenbenommen haben, sondern um die vielen, die angesichts einer Millionen Flüchtlinge, die seit vergangenem Jahr nach Deutschland gekommen sind, zutiefst verunsichert sind." Das ist keine Antwort von Ramelow, sondern eine komplette "Frage" des Interviewers: Mindestens ein Relativsatz zu viel.
8. Ross und Reiter nennen - darauf muss ein Journalist bestehen
"Ich höre von konservativen Politikern jetzt immer wieder, das christlich-jüdische Abendland sei bedroht", sagt Ramelow. Welche Politiker meint er? Der Redakteur fragt nicht. Als Beweis für das Abendland führt Ramelow eine koschere Thüringer Bratwurst an. Was hat die mit dem Abendland zu tun? Der Redakteur fragt nicht.
9. Der Redakteur führt das Gespräch und lässt nicht zu, dass sich der Gast davon redet
Wenn Fragen unangenehm werden, brechen Gäste gern aus. Ramelow greift den Interviewer an: "Sie verabsolutieren mir zu viel. Als wenn Sie genau wüssten, wer da zu uns kommt", provoziert Ramelow den Redakteur, der nach der Integration gefragt hatte. Wie wird ein Journalist damit fertig? Er muss klar machen, dass der Gast ausweicht; er muss im Auftrag der Leser reagieren: "Antworten Sie bitte auf die Frage!" Er kann nicht mit einer fast beleidigend wirkenden Aussage reagieren: "Sie können doch nicht leugnen..."
Als Ramelow wieder ausbricht, rechtfertigt sich der Journalist erneut: "Ich rede über die Debatten, die wir in Deutschland seit Herbst führen." Und Ramelow bricht weiter aus, spricht von den Hugenotten, von Polen in Deutschland - und deutschen Auswanderern nach Amerika. Das Gespräch bricht langsam zusammen.
10. "Ich stelle hier die Fragen!", unterbricht der Kommissar das Verhör. Das gilt auch im Interview
"Ich weiß nicht, was Sie meinen", maßregelt Ramelow den Redakteur, als der Gabriels Bedenken zur rot-rot-grünen Option erwähnt. Der Redakteur reagiert nicht.
Nach der nächsten Frage hat Ramelow überhaupt keine Lust mehr, direkt zu antworten. Er formuliert seine eigenen Fragen und Antworten: "Da bin ich wieder bei dem Thema, das mich umtreibt." Eine Frage weiter hat Ramelow endgültig den Respekt vor dem Journalisten verloren: "Sie machen schon wieder einen Denkfehler" - dabei hat der Journalist nur eine klare Frage gestellt. Und so geht es weiter: "Was meinen Sie genau?" fragt Ramelow. Oder er reagiert auf eine Frage mit dem Hinweis: "Wir sollten zunächst über unsere Werte sprechen", wechselt das Thema und übernimmt die Regie.
Das Interview treibt auf einen seltsamen Höhepunkt zu. Ramelow rechnet mit den Journalisten in toto ab:
"Solange wir das nicht machen (= über Werte sprechen), halten uns Journalisten weiterhin Stöckchen hin, über die wir dann springen. Und hinterher lesen wir in der Zeitung, wie doof wir sind."
Ein Kinderspiel: Über Stöckchen springen? Die Stöckchen - das sind unbequeme Fragen von Journalisten, das ist die Kontrolle der Mächtigen im Auftrag der Bürger. Soll ein Journalist solch eine Schelte, von Ramelow harmloser formuliert als Pegidas "Lügenpresse", unwiderfragt in einem Interview stehenlassen?
Was zum Teufel hat die "Cicero"-Redaktion getrieben, solch ein chaotisches Interview zu schreiben? Sollte das Interview wie ein psychologisches Kammerspiel daherkommen und den linken Politiker entlarven? Es ist missglückt.
Was zum Teufel hat Bodo Ramelow getrieben, solch ein Interview zu autorisieren? Wollte er die rechten Redakteure entlarven und vorführen? Es ist missglückt.
Ein Leser kommentierte online, Ramelow gebe sich "so zahm, so weichgespült und ach so demokratisch". So kann man das Interview auch lesen, vielleicht.
Paul-Josef Raue (66) berät Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen. Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main und Marburg. Er gründete in der DDR-Revolution mit der "Eisenacher Presse" die erste deutsch- deutsche Zeitung. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren, immer wieder überarbeitet, im Rowohlt-Verlag erscheint. Auf kress.de erschien die 20-teilige Serie "Journalismus der Zukunft". Sein Blog mit weit über tausend Einträgen: www.journalismus-handbuch.de
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