Für Chefredakteur Horst Seidenfaden "ein kleiner Schlüssel zum Paid Content": "HNA" bringt im Netz ein Sonntags-Lokalmagazin

 

"JOURNALISMUS!" Die Paul-Josef-Raue-Kolumne schaut in die Werkstatt der "HNA" aus Kassel, in der eine Sonntagszeitung entsteht. "Sieben" ist nicht die erste Sonntagszeitung, die nur im Netz erscheint. Sie wird keine siebte Ausgabe der Zeitung sein, sie denkt die Zeitung nicht einfach im Netz weiter, sondern wird ein Lokalmagazin neuer Prägung für neue Leser - mit langen Texten und exklusiven Kolumnen von lokalen Bloggern. Für Chefredakteur Horst Seidenfaden ist die Sonntagszeitung im Netz "ein kleiner Schlüssel zum Paid Content".

Wer an die Zukunft der Medien denkt, denkt online. Wer online denkt, ist jung, innovativ und beseelt von Gründergeist. Und die Alten, die noch alle Zeitalter miterlebt haben? Die den Bleisatz noch kennen, Klebeumbruch, grün flackernde Bildschirme und stets am Freitag zusammenbrechende Systeme? Das Alter schützt auch vor virtueller Torheit nicht.

Horst Seidenfaden ist seit Jahrzehnten dabei, einer der Alten aus der Bleisatz-Epoche, Chefredakteur der "HNA" in Kassel, der das Lokale auf die Titelseite brachte und so die Auflage stabilisierte - und nun Gründer einer Sonntagszeitung im Netz: "Sieben". Im Dezember wird sie das erste Mal erscheinen, ein Weihnachtsgeschenk weniger für die Leser als für junge Nicht-Leser, die auf ihrem Tablet die Faszination des Lokaljournalismus erleben sollen.

Die gut 130.000 Zeitungsabonnenten, ob auf Papier oder im Netz, wird Sieben offenbar nicht übermäßig beeindrucken. Sie reagierten in einem "User-Test" zurückhaltend, finden "Sieben" einfach nur nett, aber die siebte Ausgabe dürfte ihre Bindung an die Zeitung nicht stärken. Je weniger die Testleser regelmäßig Zeitung lesen, je weniger sie an das Zeitungs-Layout gewöhnt sind, desto begeisterter waren sie. So werden die "Digital-Only" zur lukrativen Zielgruppe, die sich durchaus für ein Abo, ähnlich wie bei Spotify oder Netflix, erwärmen können.

"Sieben" hat ein eigenes Design, das sich nicht an das "HNA"-Layout anlehnt - auch nicht an das der "Sonntags-Zeit", der ehemaligen siebten Ausgabe, die sich nicht rechnete und die der Verlag einstellte. Auch die Ressorts sind nicht die Ressorts der Zeitung, das Menü ist übersichtlich:

Neben Bloggern aus der Region, die Ratgeber-Themen liefern, gibt es Heimat / Welten mit Politik und Kultur / Leben mit Garten, Wohnen, Reisen / Klartext mit exklusiver und kluger Meinung von starken Kommentatoren. Aktuelle Nachrichten finden die Leser nicht, auch keine Sportergebnisse vom Wochenende; die finden die "HNA"-Leser weiter auf "hna.de" und "Kassel-Live".

Der Verzicht aufs Aktuelle fiel umso leichter, weil auch existierende Netz-Zeitungen am Sonntag nur mäßig erfolgreich sind. Deshalb stellt "Sieben" auch kein E-Paper her; es ist zu teuer in der Produktion, zudem sind keine Verlinkungen oder Einbindungen von Videos möglich.

Das Spezifische der "HNA", ihre eigentliche Stärke, bleibt auch die Stärke von Sieben: Das Lokale.  "Aus den Lokalausgaben fischen wir während der Produktionswoche die Themen heraus, die dann nicht im Blatt erscheinen dürfen", erläutert Horst Seidenfaden, der die Idee hatte. Online-Chef Jens Nähler setzt das Konzept um: "Wir füttern die Artikel an, etwa mit Videos und Bildergalerien."

Das sind mögliche Themen von "Sieben":

Porträts eines Discjockeys "Die Magie des Plattentellers", eines Extremläufers aus Baunatal oder eines Tätowierers aus Treysa; Recherchen wie "Was Verbraucher zu Bio lockt"; eine Bildergeschichte mit Fotos eines Paars aus Kaufungen, das durch Kanadas Natur gezogen war; eine Nachmach-Geschichte "So entsteht ein Schlüsseltäschchen in fünf  Schritten, aufgehängt an einer Patchwork-Gruppe.

Skurril und emotional und exklusiv sollen die lokalen Geschichten sein, also Geschichten mit Menschen, die Nachbarn der Leser sind. So arbeitet die Sieben-Redaktion auch mit einigen Bloggern aus der Region zusammen. "Die kennen wir", erklärt Online-Chef Jens Nähler, der auch Mitglied der Chefredaktion ist, "einige haben wir schon kontinuierlich im Blatt, auf hna.de oder in den sozialen Netzwerken." Die Blogger liefern Ratgeber-Themen wie Ernährung, Mode oder Fitness.

Die Lokalredakteure dürften nicht begeistert sein, wenn ihnen die besten Geschichten einfach weggenommen würden - selbst zu höherem Ruhm.  "Das würde auch nicht funktionieren", gibt der Chefredakteur zu. "Aber für die Lokalredakteure bedeutet das keine Zusatzarbeit, sondern nur eine Verzögerung: Sie dürfen die Themen zeitversetzt, also in den  Wochen nach der "Sieben"-Ausgabe,  im Lokalteil mitnehmen."

Der moderne Lokalteil serviert den Lesern nicht mehr nur aktuelle Berichte, Vereinsnachrichten und Service, sondern wird in den besten Zeitungen zum Magazin mit Reportagen, Porträts, Interviews, Umfragen, Analysen, Foren und Aktionen. So wird es für "Sieben" auch genügend Stoff aus den "HNA"-Lokalredaktionen geben, der ergänzt wird durch Videos und Diaschauen, Umfragen und Quiz.

Um die "Sieben"-Leser zu verführen, die siebte Ausgabe nicht nur am Wochenende aufzurufen, macht die Redaktion auch unter der Woche exklusiv kleine Angebote, die Lust zum Anklicken machen. Online-Chef Jens Nähler: "Wir fischen täglich aus dem Reservoir der lokalen Themen, beispielsweise am Montag, die besten Stücke heraus, veröffentlichen sie auf 'Sieben'. Erst einen Tag später erscheinen sie in der gedruckten Zeitung und auf 'hna.de'. So bleibt das Wochenend-Magazin über die Woche in Bewegung."

"Sieben" startet Anfang Dezember, wird bis Ostern Sieben kostenlos sein - verbunden mit dem Hinweis, dass es ab April denen 4,90 Euro  kosten wird, die es ausschließlich abonnieren wollen; für "HNA"-Abonnenten ist es inklusive.

Mit maximal zwei zusätzlichen Stellen in der Online-Redaktion will die Chefredaktion auskommen, wenn Sieben gelingt.

Und welche Strategie verfolgt nun die "HNA"? Online First? Print First? Online Only?

"Premium First" sagt Horst Seidenfaden.

INFO

Das sind nach Recherchen von Anja Pasquay  (BdZV) die Online-Sonntagszeitungen in Deutschland:

  • "RP plus" ("Rheinische Post", Düsseldorf, seit 2011)

  • "Digitale WAZ am Sonntag" (ähnlich "NRZ", "WP" und "WR", neu)

  • "Hellweger Anzeiger" (Unna, seit 2013, kooperiert mit "RN")

  • "Ruhr Nachrichten" (Dortmund, seit 2014)

  •  "Mittelbayerische Zeitung" (seit April 2016)

  •  "Schleswig-Holstein am Sonntag" (sh:z, Flensburg, digital und gedruckt)

  • "SZ am Sonntag" ("Saarbrücker Zeitung", seit 2014)

  • "Sonntag - Ihr neues Wochenende" (Madsack-Konzern, "HAZ" und "Neue Presse", auch für "Dresdner Neueste Nachrichten", "Leipziger Volkszeitung", "Märkische Allgemeine Zeitung")

Paul-Josef Raue (66) berät Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen. Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main und Marburg. Er gründete in der DDR-Revolution mit der "Eisenacher Presse" die erste deutsch- deutsche Zeitung. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren, immer wieder überarbeitet, im Rowohlt-Verlag erscheint. Auf kress.de erschien die 20-teilige Serie "Journalismus der Zukunft". Sein Blog mit weit über tausend Einträgen: www.journalismus-handbuch.de

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