Gerhard Stadelmaier war oberster Theaterkritiker der "FAZ", bevor er im vergangenen Jahr leise, für ihn ungewöhnlich leise, in den Ruhestand verschwand und einen Roman schrieb über die Redaktion der "Staatszeitung", die der "FAZ" ähnelt, und die "Verflüssigung der Zeitung", die an Qualität verliere und an Sprachkraft.
Gerhard Stadelmaier war und ist immer noch Vorbild für viele Feuilletonisten. Jan Küveler nennt ihn in der "Welt" einen der "begnadetsten Vertreter", lobt ihn für seine bildkräftige Sprache, für Formulierungen wie "hirnwütiger Quecksilberbubi" oder "zentnerschwere Langeweile".
Stadelmaier ist auch Professor für Theaterkritik. Er ist ein Star, auch wenn er nicht auf der Bühne spielt, sondern unter den Zuschauern sitzt. Er ist dreifach preisgekrönt:
Den "Hildegard-von-Bingen-Preis" bekam er, weil er ein "meinungsstarker Journalist" ist.
Den Riehl-Heyse-Preis bekam er für seine "leichte und doch gewichtige Sprache"; Wolfgang Schäuble lobte ihn dafür.
Die Henning-Kaufmann-Stiftung verlieh ihm vor einigen Wochen in Weimar den "Deutschen Sprachpreis"; die Stiftung kümmert sich um die "Pflege der Reinheit der deutschen Sprache".
Man könnte ihm auch einen Preis verleihen - für den längsten Satz, den wohl je ein Journalist geschrieben hat: 208 Wörter lang (nach der Word-Wörterzählung). Bewerbungen für noch längere Sätze sind ebenso willkommen wie ein Stifter für den Ewigkeits-Satz.
Am 17. Juni 2013 druckte die "FAZ" die Besprechung einer Trauerfeier im Stil einer Rezension: Walter Jens wurde in Tübingen zu Grabe getragen, und Gerhard Stadelmaier schrieb darüber. Da wenig gesprochen und viel Mozart gespielt wurde, schrieb der Kritiker über Jens' Beziehung zu Mozart und verlor sich dabei in einem Satz, eine Ewigkeit lang:
Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts "Requiem" (KV 626) Zwischentexte, Reflexionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das Jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur "Reqiem"-Musik seine "Requiem"-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler- und Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: "Liber scriptus proferetur" (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann "solvet saeclum in favilla" (das Weltall sich entzündet) und "quantus tremor est futurus" (ein Graus wird sein und Zagen).
Ein Satz, 208 Wörter und fast 1500 Zeichen! Der Satz taugt für jeden Volontärskurs: Wie zertrümmere ich einen Schachtelsatz? Wer findet den Hauptsatz (in der die Hauptsache stehen soll)? Bevor die Volontäre verzweifeln, sollte der Lehrer die Übung beenden und trösten: Der Satz ist nicht redigierbar.
Ob die Jury des "Deutschen Sprachpreises" diesen Satz meinte, als sie die "beispielhafte sprachliche Gestalt" von Stadelmaiers Texten rühmte und von einem "wahrhaft sprachmächtigen Publizisten" sprach?
In Stadelmaiers Rezension der Trauerfeier ist auch der folgende Satz mit nur 54 Wörtern zu lesen - ohne Semikolon und Doppelpunkt:
Der Rhetorikprofessor, Schriftsteller, Polemiker, republikanische Redner, Sich-überall-Einmischer, Pazifist, Praeceptor Germaniae, Akademiepräsident, Homo politicus, Essayist, Linker und Großaufklärungsgrundbesitzer scheint auf dem Zauberberg am Neckar, den er - eine Mischung aus Nathan der Weise, Vater Courage und wenigstens Worte, wenn schon nicht Wirklichkeiten verändernder Prospero - über Jahrzehnte beherrschte, doch irgendwie eine Figur respektvoll anerkannter Vergangenheit zu sein.
Auch dieser Satz taugt für den Volontärskurs. Mit geringer Anstrengung ist er zu redigieren:
Wer hat das Verb im Hauptsatz entdeckt? Es ist "scheint" - mittendrin, schlapp und unscheinbar muss es sich gegen starke Hauptwörter durchsetzen wie Polemiker, Linker und das 27-Buchstaben-Wort "Großaufklärungsgrundbesitzer", ein Kandidat für die Meisterschaft des längsten Wortes.
Wie lang darf eine Parenthese sein, also der Einschub von "eine Mischung" bis "Prospero"? Jeder Meister des guten Stils, von Martin Luther bis Wolf Schneider, befolgt diese Faustregel: So kurz wie möglich, höchstens acht Wörter. Der Hirnforscher Ernst Pöppel hat das Drei-Sekunden-Gesetz entdeckt: Unser Kurzeit-Gedächtnis speichert drei Sekunden lang, mehr nicht; was länger dauert, wird verworfen. Diese drei Sekunden gelten auch für eingeschobene Nebensätze und Parenthesen.
Warum hat sich kein Gegenleser an das Zertrümmern des Satzes gewagt?, werden die Volontäre fragen. Wer so fragt, verdient ein Lob.
Muss sich der Leser denn mühen, wenn der Autor verständlicher schreiben könnte? Es gibt keinen vernünftigen Grund - außer diesem: Ich will, dass der Leser sich müht! Ich will, dass er ehrfürchtig vor meinen gedrechselten Sätzen verharrt! Ich will anders sein als der Boulevard, als Brecht und Büchner.
Frank Hauke-Steller hat bei kress.de Stadelmaiers Buch "Umbruch" rezensiert: "Über die Unmöglichkeit, mit Gerhard Stadelmaier zu sprechen." Der Theaterkritiker rechnet in seinem Buch mit denen ab, die "kultursensible Sprachregelungen" verlangten, die sich wie "Mehltau über alle Denk- und Schreibkühnheiten" legten: Ob Stadelmaier, der kühne Kritiker, damit die Stilisten meint, die eine verständliche Sprache nutzen? Vielleicht sogar im Feuilleton?
Paul-Josef Raue (66) berät Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren, immer wieder überarbeitet, im Rowohlt-Verlag erscheint. Empfehlenswert nach Lektüre dieser Kolumne ist das Kapitel "Schreiben und Redigieren"; auf Seite 54 ist die Drei-Sekunden-Regel das Thema.
Raue war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main und Marburg. Er gründete in der DDR-Revolution mit der "Eisenacher Presse" die erste deutsch- deutsche Zeitung. Auf kress.de erschien die 20-teilige Serie "Journalismus der Zukunft". Sein Blog mit weit über tausend Einträgen: www.journalismus-handbuch.de
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