So funktioniert Propaganda seit Hunderten von Jahren: Schlüsselwörter penetrant wiederholen und damit in die Köpfe pressen. Ganz gleich, ob richtig oder falsch, Fakt oder Fake. Menschen glauben das, was sie glauben sollen und wollen. Wenn das Medium dann auch noch ein soziales Netzwerk ist und die Propagandisten und ihre Opfer Mitglieder derselben Community sind oder sogar (Achtung, Schlüsselwort!) Friends, ist das alles noch einfacher. Und blitzschnell.
Das Propagandaschlüsselwort: islamistischer Terror
Publizieren oder posten Sie doch sofort nach jedem schweren Unglück oder unklaren Ereignis, dass es keine Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund gibt, insbesondere absolut keine Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund - oder aber noch besser: dass ein islamistische Hintergrund nicht ausgeschlossen werden kann. Nach jedem schweren Verkehrsunfall (bei rund 220.000 Verkehrsunfällen pro Jahr), bei jedem schrecklichen Flugzeugabsturz (bei rund 70 Flugzeugunfällen pro Jahr) oder bei jedem herrenlosen Koffer (auf einem der rund 5.400 deutschen Bahnhöfe). Beim dritten Mal sitzt das Wort drin im Hirn, mitten im Angst- oder Wutzentrum: islamistischer Terror.
So muss bald jeder bei jeglicher Störung unseres doch einigermaßen funktionierenden Gemeinwesens und unseres immer noch recht friedlichen Alltags von islamistischem Terror ausgehen. Vielleicht noch mit einer Portion Flüchtling kräftig gewürzt. Das ist wunderbar emotional und liegt im Trend: tiefste Gefühle, entfachen und schüren. Das bringt schon seit vielen Jahrzehnten gute Auflage und neuerdings Abermillionen von Klicks und Likes.
Hundertmal mehr Tote im Straßenverkehr als durch islamistischen Terror
Statistisch ist das alles blanker Unsinn und gehört damit auch zu den Fake-News. Es gibt in Deutschland mit rund 3.500 Verkehrstoten jährlich wohl hundertmal mehr Tote wegen gewissenloser Besoffener, rücksichtsloser Raser und bekloppter Handy-User als es Tote wegen islamistischer Anschläge gibt.
Auch innerhalb der Terror- oder Anschlagsstatistik wäre es durchaus vernünftig, sich ein wenig zu erinnern: 77 Menschen hat der schwedische, rechtsradikale Amokläufer Anders Behring Breivik im Jahr 2011 niedergemetzelt, 15 Menschen hat der wohl völlig unpolitische Amokläufer von Winnenden 2009 in der Albertville-Realschule getötet, 16 Menschen hat ein anderer Amokschütze im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 2002 auf dem Gewissen.
Wegen seiner Depressionen hat Andreas Lubitz, ein deutscher (und wohl auch katholischer) Pilot einer deutschen Fluggesellschaft im März 2015 einen Airbus mit 150 Menschen gegen eine Felswand prallen lassen. Verantwortungslose Idioten haben in diesem Dezember vergessen ein Flugzeug voll aufzutanken und so 71 Menschen in Kolumbien ums Leben gebracht. In Bad Aibling hat im Februar ein Fahrdienstleiter lieber aufs sein Handyspiel geachtet als auf die Anzeigen der Weichenanlage im Bahn-Stellwerk und so 12 Menschen in den Tod geschickt.
Einem islamistischen oder anderen Gewaltakt zum Opfer zu fallen ist wohl ähnlich unwahrscheinlich, wie vom Blitz getroffen zu werden. Und ob nun ein Terroranschlag von rechts, links, Ost oder West kommt, unter einem Kreuz oder einem Halbmond steht, das kann, ja das muss für uns zunächst einmal alles gleichermaßen schrecklich sein. Mörder ist erst einmal Mörder.
Tot ist tot - dem Opfer kann das Motiv egal sein
Und tot ist erst einmal tot. Vielleicht sollte man die Toten - ganz nüchtern und emotionslos - auch erst einmal nur im Ergebnis betrachten: Ist es für den Toten und letztlich auch für deren Angehörigen im Ergebnis nicht völlig egal, aufgrund welchen furchtbaren Ereignisses sie ums Leben gekommen sind? Motive und Hintergründe spielen für diesen nackten Fakt zunächst keine Rolle. Ob mich ein Lkw überrollt, weil der Fahrer betrunken war, gesimst hat oder ein Terrorist war, ist mir jedenfalls im Ergebnis egal.
Anis Amri, der den Lkw in den Berliner Weihnachtsmarkt lenkte, hätte statistisch viel, viel eher ein alkolisierter, rasender oder whatsappender Idiot gewesen sein müssen. War er aber nicht - klar! Das soll hier auch nicht verharmlost werden. Darum müssen die zuständigen Experten die Motive und Hintergründe gründlich erforschen und Präventionsmaßnahmen in aller Ruhe beschließen. Aber bitte nicht die Community in wenigen Minuten.
Schwupps und Klick, das Volk hat entschieden
Gleich Lösungen zu posten und allem Schuldige zu präsentieren, an denen die Community ihre Betroffenheit mit Wut und Hass abarbeiten kann, ist sehr praktisch für die, die in der Trauer- und Wutphase der ersten Tage die Community zu Entscheidungen bringen will. Sofort mal eine Umfrage in die Welt setzen, schnell mal klicken und liken lassen, solange das Wutfeuer noch brennt. Schwupps - und das Volk hat entschieden. Übrigens auch darüber, wer sofort nach so einer furchbaren Tat ein Bundesverdienstkreuz zu bekommen hat. Klick.
Wut und Hass? Wir sind - Gott sei Dank - noch eine Gesellschaft, die auf christlichen Grundwerten aufgebaut ist und sich durch unchristliches Verhalten nicht zerstören, nicht einmal spalten lassen darf. Das ist seit zig Jahren das Motto, nach dem wir als Gesellschaft immer "gut gefahren" sind. Nicht "Auge um Auge" steht ganz oben auf unserer Werteskala, sondern Liebe und Verzeihen - ohne jetzt hier allzu pathetisch und nachweihnachtlich werden zu wollen. "Liebet Eure Feinde" und "Fürchtet Euch nicht" ist besser als schlagt alle tot vor Angst. Vor allem, wenn man gar nicht so genau weiß, wer der Feind genau ist und wo er überhaupt sitzt.
Zum Fakt-Checking gehört auch Fake-Checking
Und nun wieder zu uns Journalisten und Journalistinnen, die wir ja hoffentlich noch immer irgenwie Meinungsmacher sind oder sein sollen in Zeiten von Facebook, Twitter und Konsorten. Selbstverständich müssen wir möglichst objektiv und distanziert über Anschläge berichten und kommentieren. Selbstverständlich müssen wir Wahrheit von Dichtung unterscheiden für unsere Leser, Zuschauerinnen und Zuhörer. Selbstverständlich ist das unsere ureigenste Aufgabe. Unsere Verfassung hat die Pressefreiheit und Meinungsfreiheit nicht deshalb als einen der höchsten Werte festgeschrieben, damit wir Fake-News, Hetze und groben Unfug weiterverbreiten, die über die "sozialen Medien" auf uns einprasseln.
Wir brauchen keinen Antipropaganda-Minister
Wieso bedarf es also eines Abwehrzentrums gegen Fake-News und Desinformation, einer "Aufklärungsbehörde", die nun beim Bundesinnenminister eingerichtet werden soll? (Wenn man einem "Spiegel"-Bericht zu angeblichen, internen Papieren Glauben schenken mag. Die BMI-Pressestelle spricht nur davon, dass im BMI das Thema Kampf gegen Desinformation öfter intern besprochen worden sei.) Menschen über die Verbreitung von Schwachsinn zu unterrichten, das dürfen wir uns keinesfalls aus der Hand nehmen lassen. Das ist zunächst einmal unsere Aufgabe, die Aufgabe der Presse. Wir entsorgen die FakeAlien.
Wir sollen dem Staat auf die Finger schauen. Wenn wir es dem Staat allein überlassen, Falsches vom Richtigen zu unterscheiden, dann haben wir Zensur - wenn auch noch so gut gemeint und wenn auch aus noch so ehrbarem Grund initiiert. Wäre schön, wenn wir auf einen Antipropaganda-Minister verzichten könnten. Ich glaube, das sieht Thomas de Maizière selbst auch so.
Fake-Checking und Fakt-Checking
Ja, wir Journalisten müssen Dichtung und Wahrheit für die Leser, unsere User auseinanderfummeln. Sogenannte Netz-"Reporter" sollten aufklären über den vernetzten Schwachsinn, statt wie bisher irgendwelches Getwittere und Geposte irgendwelcher völlig unbekannter Menschen nachzuerzählen, deren bloßes Herumhängen oder Chillen im Netz sie offenbar schon Minuten nach einem komplexen Ereignis zu Wortführern und Meinungsexperten für die vielschichtigsten Themen macht. Wir müssen Wortführer und Meinungsexperten sein - bei allen Fehlern, die auch wir täglich machen.
Der Teufel ruft die Feuerwehr
Nun hat Facebook selbst die Sache in die Hand genommen und will das Berliner Redaktionsbüro Correctiv mit der Korrektur von Fake-News auf Facebook beauftragen. Der Höllenfürst ruft selbst die Feuerwehr. Bevor de Maizière sie schickt? Kann das überhaupt funktionieren, vor allem wegen der Masse, die es zu bewältigen gibt? "Menschen melden Fake-News bei Facebook, in dem sie auf einen Knopf drücken. Wenn ein gewisser - noch zu bestimmender - Wert überschritten ist, schauen wir, ob es stimmt", sagt David Schraven, Geschäftsführer von Correctiv. Das immerhin ein Anfang. Doch auch alle Redaktionen sollten Feuerwehr sein.
Kürzlich schrieb ein bekannter Journalist in einem bekannten Medium: Politiker sollen uns nicht vorschreiben, wie wir nach einem Terroranschlag zu denken, zu fühlen und zu sprechen haben. Vorschreiben? Ist denn jeder Vorschlag oder Einwurf gleich ein "Vorschreiben". Im Brandfall heißt das Motto ja auch vor allem "Ruhe bewahren", ohne dass jemand sich darüber mokiert bevormundet zu werden. Auch das ist unsere Aufgabe als Journalisten: "Ruhe bewahren!"
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