In diesem Wochen zeigen sich Feuilletonisten besorgt um die deutschen Eliten. Während Jens Jessen Kritik an ihnen in der "Zeit" als "klassisch faschistisch" brandmarkt, zieht Alan Posener eine Linie von der heutigen Eliten-Verachtung bis zur Vernichtung der Juden. Bekanntlich sind Nazi-Vergleiche im Augenblick en vogue. Dagegen klingt Rainer Hank mit seiner Warnung vor einem antielitären Bashing-Wettstreit fast noch zivil. Mit dem unscharfen Begriff der Eliten meinen sie im Grunde alle, die Verantwortung in Politik, Wirtschaft, Publizistik und anderen Bereichen der Gesellschaft tragen.
Ohne Zweifel trifft ihre Warnung vor den totalitären und demokratiefeindlichen Zügen der anti-elitären Angriffe zu. Aber sie dient hier zugleich dazu, jedes Hinterfragen der Eliten abzublocken: "Der Aufstieg der Populisten hat zu einer bedenklichen Reaktion in Kreisen der sogenannten Elite geführt. Viele schlagen sich auf die Brust und machen sich Vorwürfe. Man habe zu wenig Rücksicht auf die "Abgehängten" genommen. Man habe die Sorgen und Nöte der einfachen Leute angesichts der Globalisierung nicht ernst genug genommen... Das ist, mit Verlaub, Unsinn," schreibt Posener und begründet am Beispiel der Judenverfolgung, dass selbstkritisches Verhalten damals wie heute nichts nütze. Er denunziert derlei als "weinerliche Selbstkritik".
Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein - die biblische Weisheit Jesu verleugnend schmeißen sie heftig. Doch auf wen? So unscharf der Begriff der Eliten bleibt, so unscharf ist auch, wen sie denn mit ihren Warnungen meinen: Pegida-Demonstranten, AfD-Wähler oder nur deren Parteigänger, Martin Schulz oder überhaupt die kleinen Leute, die Verkäufer, Polizisten, Angestellten und Arbeiter. Oder meinen sie alle, die derzeit versuchen, Gehör zu erlangen?
Die Unschärfe rührt auch daher, dass es in der Gesellschaft kein festes Bild mehr von den kleinen Leuten gibt. Spätestens jetzt ist der Verlust unübersehbar geworden, der durch die Zerstörung der klassischen Arbeiterorganisationen eingetreten ist. Bis in die 1970er Jahre hinein gab es in Deutschland ein ziemlich dichtes Geflecht von gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen und anderen aus der Arbeiterbewegung entstandenen Organisationen, Konsum- und Wohnungsbaugenossenschaften, Schrebergärtenvereine, Naturfreunde, Arbeiterwohlfahrt, die Bank für Gemeinwirtschaft oder die Neue Heimat, um nur einige zu nennen. Bestimmte Zeitungen galten als ihr Sprachrohr. Unternehmen wie Bayer Leverkusen schufen als Arbeitgeber eine ähnliche lokale Community vom eigenen Kaufhaus bis hin zu den verschiedenen Sportverbänden.
Das alles war mehr als eine soziale Rückversicherung. Hier fanden die kleinen Leute Aufmerksamkeit, Respekt und Anlässe, stolz auf sich und das errungene zu sein. Sie waren sie selbst und sich dessen bewusst, wie es Stefan Zweig so schön beschreibt. Mit ihren eigenen Verbänden und Vereinen integrierten sie sich in der Gesellschaft und bildeten damit ein geistiges Rückgrat für das deutsche Wirtschaftswunder. Aufmerksamkeit und Zuwendung sind eben seit jeher hohe Güter und keine Erfindung von Facebook. Schon vor den Likes spielen sie eine zentrale Rolle für die Menschen und ihre Haltung zum Gemeinwesen.
Den Verfall dieser Ordnung führt Didier Eribon in seinem berührenden autobiografischen Essay "Rückkehr nach Reims" vor allem auf den weltweiten neoliberalen Vormarsch zurück und greift damit zu kurz. Tatsächlich gibt es ein ganzes Bündel von Ursachen dafür: Allem voran schrumpft die traditionelle Arbeiterschaft, aus der heraus sich diese Strukturen einst entwickelt hatten, rapide, in einigen Bereichen ist sie längst implodiert.
Mit dem Antritt der ersten sozial-liberalen Bundesregierung 1969 wurde das schon vorhandene soziale Netz noch fester geknüpft, so dass manche Hilfsorganisationen ihre Existenzberechtigung verloren; das Vertrauen in den Staat wuchs. Und schließlich wurden einige große "Arbeiterfirmen" wie die Neue Heimat durch den Hochmut und Größenwahn ihrer meist aus der Arbeiterbewegung stammenden Manager vernichtet.
Die Strukturen zerfielen, die kleinen Leute blieben.
Doch nun mussten sie feststellen, dass sie in der schönen neuen Medienwelt mit ihren Themen, Ängsten und Fragen nicht erwünscht sind. Zumindest nicht als Subjekt. Grundsätzlich werden sie nicht als Gäste in den illustren Kreis der Marathon-Diskutanten von Talkshows geladen, sondern finden allenfalls als Einspielfilm oder vorgelesene Facebook-Posts ("Unser Zuschauer....") statt. Im guten Fall sind sie Gegenstand patriarchalischer Zuwendung der Besserwissenden.
Es gibt kein politisches TV-Format mit ihnen, obwohl sie die öffentlich-rechtlichen Sender durch ihre Beiträge und die privaten Sender durch ihre Einschaltquoten wesentlich finanzieren. Lediglich als Freaks in Gerichtsshows oder als Dödel in Ratgebersendungen werden sie zugelassen.
Ihr Alltag ist im Zweifel elitärer Verachtung Preis gegeben, die sich im Schimpfwort "Proll" verdichtet. Sie essen zu viel, trinken sowieso zu viel, fahren Dieselautos, erfreuen sich an der Größe des Schnitzel oder des All-You-Can-Eat-Angebots und rauchen zu alledem noch.
Es gibt wenige mediale Ausnahmen: Jim Jarmusch gewährt in seinem poetischen Film "Paterson" über einen dichtenden Busfahrer einen unverhofften Einblick in die Alltagshoffnungen, Träume und vor allem ihre unstillbare Sehnsucht, sich auszudrücken - allerdings ist das ein Film für Programmkinos.
Die bescheidenen Hoffnungen der kleinen Leute konkurrieren mit einem grün-ökologisch gestimmten Grundton der Eliten, die ihre kulturelle Hegemonie entfalten konnten. Das wurde ihnen dadurch erleichtert, dass sie den Anspruch erheben, keinerlei Partikularinteressen einzelner Schichten zu vertreten. Denn die neuen Eliten berufen sich auf das Gemeinwohl. Mit ihrem Kampf um die Existenz des Planeten haben sie eine ziemlich erfolgreiche Keule entwickelt. Jeder neue Fahrradweg rettet die Welt.
Stefan Laurin spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem "Klassenkampf, der von einer autoritär-ökologisch geprägten Mittel- und Oberschicht geführt wird. Der Neoprotestantismus duldet keinen Widerspruch, seine schärfsten Waffen sind die brutale Abwertung aller anderen Lebensweisen und ein bislang nicht dagewesenen Kulturkolonialismus."
Wohlgemerkt geht es nicht darum, die Notwendigkeit ökologischer Politik zu bestreiten, sondern darum, die Widersprüche nicht länger zu verdrängen und die Betroffenen in diesem Prozess mit ihren Ängsten Ernst zu nehmen. Dazu würde - und es mag banal klingen - gehören, in Zeitungen nicht nur mit unverhohlener Sympathie über die Umwidmung von Fahrstreifen zu Fahrradwegen zu berichten, sondern auch über die Sorgen einer übergewichtigen 76-jährigen Rentnerin, die ihr altes Dieselauto nicht gegen einen neuen Wagen eintauschen kann und das Fahrverbot fürchtet.
Die Aufforderung von Winfried Kretschmann an die Betroffenen, sich "intelligente Lösungen" zu überlegen, reicht nicht. Und im Zweifel wird immer noch mehr über den Zustand von Flüchtlingsheimen als den der Toiletten und Turnhallen in Gesamtschulen berichtet.
Martin Schulz hat, obwohl politisch in EU-Apparaten sozialisiert, nach AfD und Pegida die Unruhe in der Gesellschaft verspürt und versucht, sie aufzugreifen. Immerhin finden 55 Prozent der Bundesbürger nach der letzten ZDF-Umfrage vom 9. März 2017, dass es in Deutschland ungerecht bis sehr ungerecht zugeht, der Unwillen hat sich in der Gesellschaft also weit über die kleinen Leute hinaus ausgeweitet und ist mehrheitsfähig geworden.
Ob die von Schulz bislang präsentierten Vorschläge den Menschen in der Sache helfen, kann getrost bezweifelt werden. Aber es ermutigt, wie leicht es ihm gelingt, Stimmungen auf sich zu ziehen. Denn es zeigt, dass sich die Radikalisierung anders als in den USA noch nicht so verfestigt hat, dass den herkömmlichen Parteien nicht doch eine Wende gelänge.
Das wäre gar nicht so sehr wegen der Höhe des AfD-Anteils bei der nächsten Bundestagswahl von Bedeutung, sondern vielmehr, weil allen Industriegesellschaften Erschütterungen durch einen noch nie gekannten Verlust von Arbeit infolge der digitalen Revolution ins Haus stehen.
Auch hier sind es zuerst die kleinen Leute, um die es geht, andere werden in die Arbeitslosigkeit folgen. Eine gewaltige Anstrengung, die bei allen unterschiedlichen Interessen und nicht zu verleugnenden Gegensätzen ein bestimmtes Maß an Zusammenhalt in der Gesellschaft braucht. Dazu beizutragen, die Schwerpunkte entsprechend zu setzen, bei der Rettung der Welt nicht die westlichen Gesellschaften zu vergessen, das ist die eigentliche Herausforderung an die Eliten unserer Zeit.
Überraschenderweise zeigt ein Blick nach Frankreich, also in die Nation der verkrusteten Eliten, wie es gehen könnte: Niemand weiß, ob Emmanuel Macron Frankreich regieren wird und es dann auch noch kann. Aber Macron demonstriert, dass sich ein elitärer Anspruch mit Zuwendung und Respekt gegenüber den kleinen Leute verbinden lässt. Macron wird am Donnerstag dieser Woche Zeit haben, seine Gedanken in Deutschland vorzustellen. Er spricht am 16. März gemeinsam mit Außenminister Sigmar Gabriel und dem Philosophen Jürgen Habermas in Berlin zur Frage "Welche Zukunft für Europa?".
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