"Das ist das Gute, wenn man beim Gehen redet: Es kommt nicht auf die Geschwindigkeit an. Die Gedanken suchen sich ihr eigenes Tempo. Auch das Schweigen ist viel besser auszuhalten." So schreibt der Journalist, der ein Philosoph ist, am vorletzten Tag seiner Wanderung, als er am nördlichen Rand von Gütersloh Gerlind trifft mit einem kleinen Hund an der Leine.
Der Zufall steht im Zentrum der Recherche: Jürgen Wiebicke, der Reporter, weiß nicht, wen er trifft. Er weiß nur: Ich will zuhören und herausbekommen, wie die Menschen in diesen unruhigen Zeiten denken und fühlen, was ihnen wichtig ist in ihrem Leben.
Auf gut dreihundert Seiten zeigt Wiebicke, was Journalismus prägt: Die Neugierde, das Schauen ohne Scheuklappen, der Blick auf das Andere, die Unterscheidung von Sache und Nebensache, die Kunst des Erzählens - und die Fähigkeit, zu beobachten und analysieren. Gerade diese Fähigkeit, die der eines Ethnologen ähnelt, fällt vielen Journalisten schwer, die sich in den Mittelpunkt stellen und vieles an sich messen.
Wiebicke kann sich davon nicht völlig befreien, es gibt einige Passagen im Kommentar-Modus geschrieben, in denen er versucht, seine Sicht auf die Welt dem Leser aufzudrängen. Doch an vielen Stellen beschreibt er den Zwiespalt: "Ich gehöre dazu, und ich gehöre nicht dazu."
Als er, der Skeptiker, im Wallfahrtsort Kevelaer einer Gruppe holländischer Pilger zuschaut, übermannt ihn eine sentimentale Stimmung: "Es regt sich ein religiöses Gefühl, und trotzdem bin ich gleich wieder im Modus des distanzierten Beobachters. Verwirrend, das alles, aber ganz bestimmt der falsche Augenblick, um es verstehen zu wollen... Dabei ist mir das, was an diesem Ort geschieht, vollkommen fremd."
Der Journalist ist, wenn er wirklich Journalist ist, ein Skeptiker. Wiebicke sucht den Trost bei Philosophen, deren Antworten er kennt und die er reihenweise zitieren kann - wie Kierkegaard, der sagte: Man muss in den Glauben springen, um die Einwände im Namen der Rationalität hinter sich lassen zu können. "Aber ich bin kein Springer, ich bin Zweifler", schreibt Wiebicke. Das ist die journalistische Haltung. "Wer den Zweifel nicht kennt und ehrt, ist in meinen Augen ein Dummkopf." Als er in einem Krankenhaus bei einem Arzt das "Charisma der Gelassenheit" entdeckt, beschreibt er zwei Tugenden, die auch die herausragenden eines Journalisten sein sollten:
"Gut zuhören können und trotzdem bereit sein, in Krisensituationen, wenn auch sanft, die Führung zu übernehmen." Ärzte müssen damit fertig werden, dass Patienten sich auf Augenhöhe mit ihnen bewegen wollen - mit einem zusammen gegoogelten Halbwissen; das wird begleitet von einer "ideologisch aufgeladenen Vorstellung von Patientenautonomie". Weniger starke Charaktere bekommen Angst vor der Verantwortung, schreibt Wiebicke.
Wer rund fünfhundert Radio-Stunden mit Philosophen verbracht hat, kennt alle Themen, alle Zweifel, alle Lehren, alle Ideologien. Der Philosoph als Journalist will wandernd erfahren, was faul ist an unserem Lebensstil: "Berührung mit Asphalt kann der Philosophie nicht schaden. Man lernt immer am meisten, wenn man sich als Fragender durch die Welt bewegt." So klopft sein philosophisches Wissen immer wieder an, wenn er beispielsweise durch die Tomaten- und Blumenfelder des Niederrheins wandert und mit der radikal veränderten Existenz eines Bauern konfrontiert wird und dem ebenso veränderten Verhalten der Verbraucher. Da trifft sich Athen mit dem Niederrhein:
"Wer es sich leisten kann, wird wählerisch und integriert den korrekten Konsum in ein Lebenskonzept, das sowieso sehr stark um Wohlstand und Shopping herum zentriert ist. Das mag Subpolitik sein... Echte Politik lebt aber davon, dass sich Bürger in einer Arena mit anderen Bürgern treffen, um zusammen ihre Gemeinwesen zu gestalten. Die analoge Versammlungsdemokratie, das berühmte Bohren dicker Bretter, ist allerdings viel mühsamer als die Verbraucherdemokratie im Supermarkt."
Jürgen Wiebicke brach in Köln, seiner Heimatstadt, ohne Plan auf, wanderte bis zu holländischen Grenze, weiter ins Münsterland, nach Dortmund und in den östlichen Teil des Ruhrgebiets; die Wanderung endet in Ostwestfalen, in Bielefeld. Er traf Flüchtlinge in einer Turnhalle, einen Ex-Schützenkönig bei einem Schützenfest, einen VW-Manager im Kloster, einen Priester in einem Hindu-Tempel, einen Arzt auf einer Palliativ-Station und einen in einer Nervenklinik, Schweinemäster, Schiffer-Nomaden und Dutzende mehr.
Wiebickes Methode ist die des Sokrates, ist die eines Journalisten, der seine Leser respektiert: "Meine Richtung ist nicht, etwas in Leute reinzukriegen, sondern etwas aus ihnen herauszuholen." Er schreibt im Ich-, im Tagebuch-Modus; unterwegs notiert er in einer Kladde seine Eindrücke. Zwischendurch verzweifelt er im Regen, steigt in einen Bus und guckt Krimis in einem billigen Hotel: "Ich war aus dem Rhythmus, hatte das Gefühl, übervoll mit Eindrücken zu sein und kein Auge mehr für die kleinen Dinge des Alltags zu haben. Man versteht nicht mehr, was einen hinausgetrieben hat."
Einige Treffen hat der Wanderer vorher organisiert wie das mit dem Erzieher eines Heims, der "seine verwilderten Kinder als Spiegel einer Gesellschaft sieht, in der die Egozentrik wuchert". Am tiefsten berühren die kleinen zufälligen Treffen: Die Geschichte vom Flaschensammler und der Rundgang durch den Schlachthof, die Tötung und Verarbeitung von Schweinen begleitend, sind große Reportagen.
Nebenbei wird die Wanderung durch die deutsche Provinz zu einem Plädoyer für das Lokale. Für Franz Müntefering, den der Reporter in Herne trifft, wird die Kommune, werden die kleinen Einheiten an Gewicht gewinnen und die Kernfrage zu beantworten sein: Wie funktioniert die Stadt?
Am Ende erzählt Gerlind in Gütersloh von ihrer dementen Mutter und von ihrem Schwiegersohn, der für den Tod von sechs Menschen mitverantwortlich ist - und bringt Jürgen Wiebicke ins Staunen, mit welcher Gelassenheit sie die schreckliche Geschichte erzählt. Als der Reporter sie nach ihrem Leben fragt, breitet sie die Arme aus und antwortet: "Alles auszubalancieren".
Info
Jürgen Wiebickes Buch "Zu Fuß durch ein nervöses Land" erscheint bei Kiepenheuer & Witsch (323 Seiten, 19.99 Euro). In demselben Verlag: "Dürfen wir bleiben, wie wir sind? Gegen die Perfektionierung des Menschen - eine philosophische Intervention " (2013, 240 Seiten, 14.99 Euro); gerade erschienen ist laut Verlagsangaben das Taschenbuch "Zehn Regeln für Demokratie-Retter" (112 Seiten, 5 Euro)
In der WDR-Mediathek sind viele Sendungen des "Philosophischen Radio" abrufbar.
Der Autor
Paul-Josef Raue war selber wandernder Reporter - entlang der l400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze. Daraus entstanden einige Serien in der Braunschweiger Zeitung und der Thüringer Allgemeine sowie zwei Bücher im Klartext-Verlag: Grenzwanderung (2010) und Thüringer Grenz-Wege (2011). Raue arbeitete 35 Jahre lang als Chefredakteur von Lokal- und Regionalzeitungen, zuletzt in Thüringen, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main und Marburg. Er gründete in der DDR-Revolution mit der "Eisenacher Presse" die erste deutsch- deutsche Zeitung. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren, immer wieder überarbeitet, im Rowohlt-Verlag erscheint. Auf "kress.de" erschien die zwanzigteilige Serie "Journalismus der Zukunft". Sein Blog mit weit über tausend Einträgen: www.journalismus-handbuch.de. Er berät heute Verlage, Redaktionen und speziell Lokalredaktionen und unterrichtet an Hochschulen.
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