Zum Abschied eines großen Reporters: Wie Cordt Schnibbens Karriere begann

 

JOURNALISMUS! Wenn Chefredakteure einen Reporter zum Abschied ehren, greifen auch sie gerne in die Kiste abgenutzter Formeln: "Cordt Schnibben ist ein großer Reporter und Lehrmeister", schreibt "Spiegel"-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer in der aktuellen Ausgabe, "der 'Spiegel' ist ihm dankbar." Die Journalisten-Generation der Spät-Achtundsechzigern tritt ab. Paul-Josef Raue schaut in seiner Kolumne auf die Anfänge von Cordt Schnibbens Karriere zurück, die - wie bei einigen der Großen im Journalismus - in Wolf Schneiders Hamburger Journalistenschule beginnt, die heute den Namen Henri Nannens trägt.

Die Karriere des großen Reporters beginnt mit einem Postboten in Zeiten, als die Post noch frühmorgens klingelte. Cordt Schnibben, ein 29 Jahre alter Werbetexter in Frankfurt, hat sich bei Wolf Schneiders Journalistenschule beworben, schafft den Sprung unter die besten Hundert, fährt zur dreitägigen Aufnahmeprüfung nach Hamburg, in der - so Wolf Schneider - aus Tausenden die Größten herausgesiebt werden und wartet am 22.  November 1981 auf den Eilboten:

"Es ist sechs Uhr morgens. Ich stehe am Fenster. Ich warte auf ein gelbes Auto. In Hamburg haben sie mir gesagt, wenn ich die Prüfung bestanden hätte, käme die Zusage frühmorgens. Per Eilboten. Die Absage käme mit der normalen Post. Der Mann mit der hohen Stirn und dem fletschenden Lächeln hat mir nicht gesagt, was frühmorgens heißt. Sechs Uhr? Sieben Uhr? Acht Uhr?

Ich stehe am Fenster. Ich schaue auf die Straße. Ich warte auf ein gelbes Auto... Um 7 Uhr 39 klingelt der  Postbote und schwenkt einen Eilbrief."

Gut zwanzig Jahre später, berühmt und mit etlichen Preisen ausgezeichnet, erzählt Schnibben so vom holprigen Start seiner Karriere. Seinen Albtraum erzählt er auch (in der Leseprobe im Anhang dieser Kolumne): Wie hätte sich sein Leben verlaufen? Wie seine Karriere, wenn der Postbote nicht geklingelt hätte?

Journalisten müssen nicht zu Psychiatern oder in Beratungsstellen laufen, um ihren Alb, ihr Trauma, ihre Trauerarbeit oder ähnliches mehr zu bewältigen: Sie schreiben sie in Geschichten auf, einige machen es regelmäßig und nennen sie Kolumnen.

In Wolf Schneiders Kaderschmiede, der Hamburger Journalistenschule von Gruner+Jahr, beginnt Cordt Schnibbens Karriere wie auch die von anderen großen Journalisten: Mathias Müller von Blumencron, Christoph Keese, Nikolaus Blome, Jan Feischhauer, Peter Kloeppel und aus dem berüchtigten ersten Lehrgang Peter-Matthias Gaede und Gabriele Fischer. Cordt Schnibben kommt aus dem dritten Lehrgang.

Mit Wolf Schneider bleibt er verbunden. Der zitiert Schnibbens Postboten-Geschichte in seiner Autobiografie seines "langen, wunderlichen Lebens". Im dritten Jahrgang stört auch nicht mehr eine Schüler-Riege, von Schneider als Neo-Marxisten tituliert. Allerdings erinnert sich auch noch Hanne Tügel, heute "GEO"-Redakteurin, an Cordt Schnibben als "Marxjünger"; die beiden treffen sich im dritten Lehrgang der Schule. Doch die verspäteten Achtundsechziger sind milde geworden:

"Marxjünger wie Schnibben, Gaede und Schaper hatten schnell gemerkt", so Hanne Tügel, "dass sie doch nicht zum Proletariat taugten und zu Schneiderjüngern mutierten." Auch Schneider ist dankbar: Als Cordt Schnibben 1987 beim Publizistik-Preis in Klagenfurt zwei seiner Reportagen aus der "Zeit" vorliest, lobt ihn Schneider in der Jury: "Staatsbürgerlich und journalistisch außerordentlich wertvoll."

Kurz darauf stellt der "Spiegel" Cordt Schnibben ein, dort bleibt er und schreibt 1997: "Die Bewegung der 68er war ein erfolgreiches Innovationsprogramm eines Kapitalismus, der an Hierarchie, Bürokratie und Spießigkeit zu ersticken drohte." Das Zitat gefällt Wolf Schneider so gut, dass er es in seinem Buch "Die Gruner+Jahr Story" wiedergibt - im Kapitel "Was ist geblieben von den 68ern?"

Cordt Schnibben wird zu einem von Schneiders Lieblingsschülern, der sogar in seinen Sprachbüchern als vorbildlich zitiert wird neben Dostojewski und Schopenhauer. In "Deutsch fürs Leben" nimmt Schneider den Beginn einer von Schnibbens "Spiegel"-Reportagen als Muster, wie man den Leser mit den ersten Sätzen fängt, "ihn zum Zeugen des Ringens um die Gliederung des Stoffs macht":

"Zu erzählen ist eine hässliche, verschlungene, lange Geschichte. Sie beginnt im Jahr 1956. Wann sie enden wird, weiß niemand... Drei US-Präsidenten sind in die Geschichte ebenso verwickelt wie 35.000 amerikanische Kriegsveteranen und 1500 deutsche Arbeiter; vor allem aber sieben Chemie-Firmen aus zwei Ländern... Zu erzählen ist die seltsame Karriere der giftigsten Chemikalie, die Menschen je geschaffen haben."

Der Kreis schließt sich: Mit einer Dioxin-Geschichte im aktuellen Magazin (45/2017) endet auch Schnibbens Laufbahn als angestellter "Spiegel"-Reporter. Chefredakteur Klaus Brinkbäumer schreibt im Newsletter "Zur Lage":

"Als der junge SPIEGEL-Reporter Schnibben 1991 über das Gift Dioxin schrieb, das überall auf der Welt für Krankheiten, Todesfälle, Totgeburten und Erbschäden verantwortlich ist, meinte SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein, dass er selten ,einen derart aufrührenden Bericht gelesen' habe; Augstein prophezeite, das Thema betreffe ,die Zukunft der Menschheit'. Nun steht Dioxin in Paris vor Gericht, weil die 76-jährige Vietnamesin Tran To Nga 26 Chemieunternehmen verklagt hat. Tran To Nga, die Heldin dieses Dramas, hat Krebs."

Der letzte Satz von Schnibben als "Spiegel"-Reporter ist - in der Dioxin-Reportage - die Frage seines Journalistenlebens:

"Warum machen Menschen - auf der Jagd nach Wachstum und Gewinn - immer wieder denselben Fehler."

Leseprobe

Dies ist die komplette Rede, die Cordt Schnibben 2004 beim Festakt zum 25. Geburtstag der Henri-Nannen-Journalisten-Schule gehalten hat:

Ich habe einen Albtraum

Ich habe einen Albtraum. Es ist sechs Uhr morgens. Ich stehe am Fenster. Ich bin nackt. Im Zimmer ist es kalt. Es ist Winter. Die Wohnung hat keine Heizung, nur Kohleöfen.

Die Wohnung ist in Frankfurt, in der Teichstraße. Sie gehört einem Ehepaar. Ich bin der Untermieter. Ich bewohne ein Zimmer.

Es ist der 22. November 1981. Ich stehe am Fenster. Ich schaue auf die Straße. Ich warte auf ein gelbes Auto. In Hamburg haben sie mir gesagt, wenn ich die Prüfung bestanden hätte, käme die Zusage frühmorgens. Per Eilboten. Die Absage käme mit der normalen Post. Der Mann mit der hohen Stirn und dem fletschenden Lächeln hat mir nicht gesagt, was frühmorgens heißt. Sechs Uhr? Sieben Uhr? Acht Uhr?

Ich stehe am Fenster. Ich schaue auf die Straße. Ich warte auf ein gelbes Auto. Es ist neun Uhr. Ich ziehe mich an. Ich gehe zur Arbeit. Ich werde kein Journalist werden. Ich bin schon 29 Jahre alt. Ich bin zu alt. Ich muss Werbetexter bleiben.

Ich arbeite in einer Frankfurter Werbeagentur. Ich schreibe Anzeigen für Duschdas. Für Ferrero Küsschen. Für Hansamed Wunddesinfektionsspray.

Im Jahr darauf gewinne ich den ersten "Goldenen Löwen" bei den Werbefestspielen in Cannes. Ich werde Kreativ-Direktor. Ich schlafe mit ganz vielen Grafikerinnen. Ich gewinne den nächsten Löwen. Ich fahre einen Jaguar. Ich fliege in die Karibik. Dreharbeiten. Für Baccardi. Ich schlafe mit ganz vielen Models.

Die Head-Hunter sind hinter mir her. Ich werde International Group Head. Bei Young & Rubicam. In Los Angeles. Ich lebe in Kalifornien. Ich drehe Werbespots. Für Coca-Cola. Für Oil of Olaz. Ich treffe Cameron Diaz. Ich schreibe ein Drehbuch für sie. Sie heiratet mich. Ich bekomme den "Oscar". Ich bin reich. Ich nehme Kokain. Mir geht es gut. Die Sonne scheint. Ich schlafe mit ganz vielen Journalistinnen.

Ich schreibe meinen ersten Roman. Er wird in zwanzig Sprachen übersetzt. Ich schreibe meinen zweiten Roman. Er wird in dreißig Sprachen übersetzt. Ich bekomme den Nobelpreis. Ich bin unglaublich reich. Ich kaufe den "SPIEGEL". Ich kaufe die "Zeit". Ich soll Bürgermeister von Hamburg werden.

Es klingelt. Ich schaue aus dem Fenster. Vor der Tür steht ein Postbote. Es ist 7 Uhr 39. Er schwenkt einen Eilbrief. Ich hasse Sie, Wolf Schneider. Was für ein schönes Leben hätte ich haben können. Schließt alle Journalistenschulen.

Elf Jahre später schreibt Cordt Schnibben zum 90. Geburtstag von Wolf Schneider "Der Albtraum, neue Version" mit einem anderen Schluss:

"Ich danke Ihnen, lieber Wolf Schneider."

DER AUTOR

Paul-Josef Raue war - wie Schnibben - Zögling von Wolf Schneider in der Hamburger-Journalistenschule. Danach war Raue 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Erfurt, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main, Marburg und Eisenach. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus, das seit zwanzig Jahren, immer wieder überarbeitet, im Rowohlt-Verlag erscheint. Raues neues Buch "Luthers Sprach-Lehre" erscheint im Klartext-Verlag. Wenn er nicht schreibt, berät Raue Verlage und Redaktionen, speziell Lokalredaktionen, und lehrt an Hochschulen in Trier und Berlin.

Ihre Kommentare
Kopf

Wolfgang Baumann

07.11.2017
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Eine Frage bleibt dann doch: Warum wartete Cordt Schnibben an einem Sonntag auf den Eilboten? Und warum wollte er an einem Sonntag zur Arbeit gehen, wenn es nicht geklappt hätte?


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