Das Wahlergebnis in Sachsen: Kritik am Qualitätsjournalismus

 

Eine tiefgehende Analyse des Bundestagswahlergebnisses in Sachsen hat Konrad Woede vorgenommen. Er kommt dabei zum Teil zu gravierend anderen Ergebnissen als zahlreiche Medien und die von ihnen beauftragten Meinungsforschungsinstituten. Woede geht bei seinen Vergleichen bis zum Resultat der Volkskammerwahl von 1990 zurück. Seit den 1970er Jahren unterzieht der Studiendirektor a.D. die Medienberichte zu den Wahlergebnissen einer kritischen Reflexion. kress.de hat mit dem ehemaligen sozialdemokratischen Mitglied des Mainzer Stadtrates und heute Parteilosen gesprochen.

kress.de: Sachsen gilt seit der Wiedervereinigung als Vorzeigeland unter den fünf neuen Bundesländern: Geringe Arbeitslosigkeit, gutes Bildungssystem wie die Pisa-Ergebnisse zeigen. Und trotzdem haben dort die CDU seit der Volkskammerwahl 1990 und die SPD seit der Bundestagswahl 1998 jeweils zwei Drittel ihrer Wähler verloren. Ist das nicht ein Widerspruch?

Konrad Woede: Ja, und in diesem Widerspruch liegt ein Teil der realistischen Deutung der Wahlergebnisse. Es kommt nicht nur auf die Arbeitslosenquote, sondern auch darauf an, wie die geleistete Arbeit wertgeschätzt wird, ob man sich z.B. als "Aufstocker" in die Rolle eines Bettlers gedrängt fühlt. Da hat die Politik nach der Wende falsche Versprechen gemacht.

kress.de: Und was ist mit dem gut laufenden Bildungssystem?

Konrad Woede: Das ist auch ambivalent. Die Pisa-Ergebnisse zeigen den Erfolg im Vergleich mit anderen Ländern. Über die seelische Befindlichkeit der Schüler z.B. infolge von Leistungsstress sagen sie nichts aus - auch nichts über andere Kompetenzen, die die Schulabgänger im Berufsleben brauchen. Die Frage ist doch, ob durch das "gute Bildungssystem" eine Verbesserung der Lebenssituation der Bevölkerung im Osten spürbar geworden ist. Die frühe Selektion der Kinder beim Übergang in die weiterführenden Schulen und durch das vorgezogene Abitur nach 12 Jahren trägt nicht gerade zur Hebung des Glücksindex' in Sachsen bei.

kress.de: Sie schreiben von "einer immer größer werdenden Distanzierung vieler Menschen gegenüber ... den Meldungen der oft im Besitz westdeutscher Medienverlage befindlichen Zeitungen". Spielen die Besitzverhältnisse in Sachen Glaubwürdigkeit wirklich eine Rolle?

Konrad Woede: Wenn die Besitzverhältnisse objektiv keine Rolle spielten, hätte man ja nach der Wende die ehemaligen Eigentumsverhältnisse im Osten so belassen können. Zweifelsfrei gibt es kritische Köpfe unter den Journalisten, die ihre Aufgabe als Vierte Gewalt wahrnehmen. Die Frage ist, wie weit die "Schere im Kopf" wirksam wird, wenn man dort seinen Arbeitsplatz behalten will oder gar durch eigene Recherchen gegen den Mainstream aufklären will. Angesichts des Zwangs zum Sparen bei den meisten Printmedien gerät die Qualität von Meldungen leicht unter die Räder. Bei der Leserinterpretation der Texte spielen die Besitzverhältnisse eine Rolle. Und die Reproduktion vorherrschender Meinungen trägt bei Menschen, die sich durch die politisch-ökonomischen Verhältnisse ausgegrenzt fühlen, nicht dazu bei, Vertrauen in unser politisches System und die Medien zu gewinnen.

kress.de: Welche Rolle hat die "erniedrigende Berichterstattung" der Qualitätsmedien - von der ein Wissenschaftler spricht, den Sie zitieren - über die Ostdeutschen gespielt?

Konrad Woede: Nicht nur der in England lehrende Historiker Szejnmann, den Sie ansprechen, hat darauf hingewiesen. In einem "Spiegel"-Artikel vom 23. November zitieren die Autoren die sächsische Integrationsministerin über die Befindlichkeit der Ostdeutschen so: Folge der "Wendeerfahrungen" sei ein "weit verbreitetes Gefühl von Kränkung, Demütigung und Zorn". Meines Erachtens war das eines der besonders wirksamen Motive auch für bürgerliche Kreise im Osten, die AfD zu wählen.

kress.de: Nur noch 28 Prozent aller Wahlberechtigten in Sachsen wählten zuletzt die beiden Volksparteien - ist deswegen im Freistaat die Demokratie in Gefahr?

Konrad Woede: Vorerst kaum. Sollte die AfD in den kommenden Wahlen weiter reüssieren, könnte sich das schnell ändern. Wenn z.B. die CDU mit Hilfe der AfD weiter in Richtung "marktgerechte Demokratie" marschiert, die den Begriff Demokratie zwar noch verwendet, inhaltlich aber mit demokratiefeindlichen Aspekten der Marktakzeptanz füllt und Zielsetzungen der "sozialen Marktwirtschaft" völlig in den Hintergrund treten lässt. Und der immense Verlust an Glaubwürdigkeit der Volksparteien führte offenbar bei nicht wenigen zu einem Verlust des Vertrauens in das Funktionieren unseres sozial-politischen Systems.

kress.de: Wenn Sie die Zahlen mit der Bundesebene vergleichen, zeigt Sachsen dann einen gewissen Trend auf? Ist das Bundesland vielleicht sogar Trendsetter?

Konrad Woede: Da lässt sich nur spekulieren. Auch das wird sich bei kommenden Wahlen zeigen. Im Mai 2018 stehen in Schleswig-Holstein Kommunalwahlen an, im Herbst werden die Landtage in Bayern und Hessen gewählt, und 2019 folgen Wahlen in Sachsen.

kress.de: Ihre Basisgrundlage ist die Volkskammerwahl 1990. Damals trat die CDU dort mit der DSU und dem DA als "Allianz für Deutschland" an. Zumindest die DSU galt als rechtskonservativ. Müssten Sie dann nicht heute die Ergebnisse von CDU und AfD addieren, um seriös vergleichen zu können?

Konrad Woede: Rechnerisch kann man das so betrachten, politisch allerdings zurzeit nicht. Bisher ist die CDU mit der AfD nicht gemeinsam wie 1990 mit der DSU als "Allianz" in den Wahlkampf gezogen. Die meisten Anhänger und Mitglieder der CDU betrachten die AfD wohl eher als politischen Gegner. Die addierten Ergebnisse der beiden Parteien in Sachsen ergeben aber tatsächlich eine absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Bisher halte ich die Aussicht auf eine solche Koalition nicht für realistisch. Die Union möchte die AfD durch eine sich stärker nach "rechts" orientierende Politik von der politischen Bildfläche vertreiben. Die AfD andererseits würde sich zur Zeit unglaubwürdig machen und hat noch nicht zu einer konstanten politischen Linie gefunden.

kress.de: Sie haben auch die Rhetorik der "Allianz für Deutschland" anhand von Wahlplakaten untersucht. Unterscheidet sich die Wortwahl überhaupt von dem, was heute die AfD fordert?

Konrad Woede: Die Antwort lautet: Kaum. Die Begriffe "Heimat" und "Vaterland" spielten damals und spielen auch heute eine bedeutende, verräterische und folgenschwere Rolle.

kress.de: Nach der Bundestagswahl gab es viele Analysen in den Medien, die das Erstarken der AfD und die Verluste von Union und SPD erklärt haben. Hat Ihnen dabei etwas gefehlt?

Konrad Woede: Vor allem hat mich empört, dass die Rolle der ärmeren Bevölkerung in ihrem Wahlverhalten unter den Tisch gekehrt wurde. In der ARD wurde verkündet, die Arbeitslosigkeit und die Probleme des Arbeitsmarkts hätten für den Wahlausgang keine wesentliche Rolle gespielt. Selbst die Bertelsmann-Stiftung verbreitet seit Jahren die Information, dass in Stimmbezirken mit Wahlberechtigten, die in prekären Verhältnissen leben, die Wahlbeteiligung gering ist. Das galt zumindest bisher. In Sachsen und Teilen der neuen Länder ist das bei der letzten Wahl anders gewesen, die z.B. rund um Dresden zu sehr hohen Wahlbeteiligungen und zu sensationellen Erfolgen der AfD geführt haben.

kress.de: Wie seriös haben am Wahlabend die von ARD und ZDF beauftragten Meinungsforschungsinstitute die Wählerwanderung von Union und SPD zur AfD erklärt?

Konrad Woede: Ich beobachte seit Jahren mit wachsender Skepsis die Zahlen, die über Wählerbewegungen verkündet werden. Diese Angaben sind zum Teil höchst fragwürdig, spielen aber im politischen Geschäft eine zentrale Rolle und entwickeln oft eine richtungweisende Bedeutung für die Führungskräfte der Parteien. Ein Beispiel für die wenig überzeugende Vertrauenswürdigkeit mancher Aussagen: Einerseits hieß es, Arbeitslosigkeit und die Probleme des Arbeitsmarkts hätten für den Wahlausgang keine wesentliche Rolle gespielt. Andererseits wurde berichtet, die zunehmende Spaltung der Gesellschaft mache vielen große Sorgen. Das ist ein Widerspruch, der am Wahlabend nicht aufgelöst wurde, sondern einfach so stehen blieb. Da kann sich jeder raussuchen, was ihm in den Kram passt.

kress.de: Sie schreiben aber, "besonders bürgerliche Kreise" hätten im Osten die AfD gewählt, und auch in wohlhabenden Wahlkreisen habe die Partei stark zugelegt. Das unterscheidet sich von vielen Analysen. Wie kommen Sie darauf? Ist die AfD nicht die Partei der Abgehängten?

Konrad Woede: Ich habe das anhand der Wahlergebnisse in den wohlhabenden Wahlkreisen Sachsens belegt. Anders ist nämlich der Erfolg der AfD im Osten kaum erklärbar. Nach Fertigstellung meiner Arbeit sprach ich dann zufällig mit einem Bremer Taxifahrer. Und der erzählte mir zu meiner Überraschung, die meisten seiner Kunden berichteten stolz, sie hätten die AfD gewählt. Da Leute, die in prekären Verhältnissen leben, in der Regel wohl eher nicht in ein Taxi steigen, ist anzunehmen, dass der Großteil der von dem Taxifahrer zitierten Fahrgäste eher dem Mittelstand oder der sich zur Oberschicht zählenden Bevölkerung zuzurechnen ist. Das ist eine Einzelbeobachtung, die jeder Repräsentativität entbehrt. Aber sie scheint mir ein beachtenswertes Indiz zu sein.

kress.de: Sie ziehen auch Vergleiche zur Entwicklung in der Weimarer Republik, deren parlamentarische Demokratie 1933 zerbrach. Gibt es Parallelen? Droht der Bundesrepublik etwas Ähnliches?

Konrad Woede: Meines Erachtens gibt es eine Kontinuität zwischen der "liberal" genannten radikalen "Mitte"-Politik der bürgerlichen Parteien in der Zeit vor dem Naziregime und der neoliberalen Politik der vergangenen Jahrzehnte. Der Zusammenbruch der Wählerpotentiale der Volksparteien CDU seit 1990 und der SPD seit 1998 in Sachsen und nunmehr auch in der übrigen Bundesrepublik hängt damit ursächlich zusammen. Natürlich gibt es wesentliche strukturelle und mentale Unterschiede beim Vergleich der Vornazizeit mit der gegenwärtigen politischen Situation. Die AfD mit ihren einerseits rechtslastigen und andererseits radikal neoliberalen Flügeln ist sicherlich nur bedingt mit der DNVP oder der NSDAP gleichzusetzen, doch kann aus einer Verbindung solcher Kräfte mit den neoliberalen Flügeln anderer Parteien schnell eine Situation erwachsen, die zu einer neuen Diktatur führt, zu einer Diktatur der globalisierten Märkte.

kress.de: Eine Diktatur?

Konrad Woede: Am Ende meiner Analyse habe ich auf die die Finanzwirtschaft seit einiger Zeit dominierende Rolle der Vermögensverwalter hingewiesen mit dem besonderen Hinweis auf das stille Wirken von BlackRock. Die erfahrene Ohnmacht der Menschen gegenüber den Global Playern befördert die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Meines Erachtens droht unserer Gesellschaft und besonders den ärmeren Teilen der Bevölkerung in absehbarer Zeit nicht nur von der AfD ein Umschlagen in neue und andersartige diktatorische Strukturen, als sie durch Hitler und die NSDAP entstanden sind.

kress.de: Was bedeutet das?

Konrad Woede: Wie ich glaube nachgewiesen zu haben, handelt es sich bei der gegenwärtigen politischen Situation um mehr als eine vorübergehende Krise des Parlamentarismus. Ausdruck dieser Krise ist z.B., dass die FDP als Vertreter der Besserverdienenden sich nicht an einer möglichen bürgerlichen Regierung mit Union und Grünen beteiligt. Wichtiger ist ihr vielleicht die weitere Destabilisierung der bundesrepublikanischen Demokratie, die als Führungsmacht in Europa die Möglichkeit hätte, der Macht der Großkonzerne entgegen zu treten. Die Analyse der Wahlergebnisse in Sachsen zur Zeit der Weimarer Republik und der Jahre seit 1989/90 haben mich zu dieser in meiner Wahlanalyse dargestellten und auch für mich unerfreulichen Zukunftsperspektive geführt.

kress.de-Tipp: Die Studie von Konrad Woede "Der Absturz" ist unter folgendem Link abrufbar:

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