Das Verhältnis von Wissenschaft und Journalismus war und ist in Deutschland weder eng noch innig. Das sei kein Problem, sondern eine Chance, glaubt der Trierer Medienprofessor Hans-Jürgen Bucher: "Journalisten und Medienwissenschaftler müssen in zwei verschiedenen Welten leben, sonst heben sich die wechselseitige Kritik und Befruchtung auf." So stünden Journalisten in der Regel unter dem Druck der Aktualität, während Wissenschaft an langfristigen Erkenntnissen interessiert sein müsse.
Bucher hält auch wenig davon, Journalisten an Universitäten auszubilden: "Universitäten können nicht ein Volontariat ersetzen, und sie sind auch keine Fachhochschulen für die Berufsausbildung." Auch seien die USA, wo er als Gastprofessor lehrte, nicht unbedingt ein Vorbild: Der Praxisorientierung falle häufig die theoretische Reflexion zum Opfer. Den Unterschied zwischen den beiden Systemen hätten deutsche Forscher wie Emil Dovifat schon in den zwanziger Jahren beschrieben.
Deutschland hat laut Bucher eine eigene Journalismus-Kultur. Es ist ein Vorteil, dass viele Wege in den Journalismus führen: "Die Anforderungen in den verschiedenen Redaktionen sind so unterschiedlich, dass es falsch wäre, den Berufszugang auf ein Modell zu beschränken. Der Redakteur bei der 'Zeit' braucht andere Qualifikationen als ein Lokaljournalist oder der Video-Reporter für ein Online-Magazin." Es gebe allerdings einen großen Nachteil in Deutschland: Mit der Ausbildung ende die Bereitschaft von Journalisten, lernen zu wollen. Bucher lehrte vor seiner Universitäts-Karriere am Haus Busch, in den achtziger- und neunziger Jahren eine der führenden Journalisten-Schulen:
"Ich weiß aus eigener Erfahrung: Kaum ein Berufsstand ist so weiterbildungsresistent wie Journalisten. Würde sich das ändern, hätte das gravierende Auswirkungen auf die Qualität der verschiedenen Medienangebote." Hans-Jürgen Bucher ist einer der wenigen Professoren, der aus dem Journalismus, auch dem Lokaljournalismus kommt: Er wollte zuerst Sportlehrer werden, aber ging nach dem Referendariat in die Wissenschaft, promovierte und lehrte am Haus Busch. Warum volontierte er dann noch?
"Ich wollte - neben meiner Neugier - wissen, ob meine Ideen für einen guten Journalismus auch praxistauglich sind. Ich hatte während meiner Promotion ein Praktikum beim ,Schwäbischen Tagblatt' in Tübingen absolviert und dabei ein Volontariats-Angebot erhalten, das der Chefredakteur mir für einige Zeit offen gehalten hat. Ich habe das Angebot dann aufgegriffen, da das ,Schwäbische Tagblatt' als eine der innovativsten und besten Lokalzeitungen in Deutschland galt - die "taz" beschrieb sie als, "eine journalistische Blüte im Sumpf einer von kleinmütigen und buchhalterischen Verlegern beherrschten Zeitungslandschaft'".
Schon früh beschäftigte sich Bucher mit dem Online-Journalismus; er nutzte sein Interesse am "Text-Design", das ihn schon in der Vor-Internet-Ära gereizt hatte: Es basiert auf der Idee, dass Form und Inhalt auch im Journalismus zusammen gehören.
"Design ist nicht Verpackung, sondern Teil des Journalismus", stellt Bucher fest, "gerade im Internet ist Design der Schlüssel zum Inhalt." Von Beginn an gab es in Trier die Ausweitung zu einer "Print- und Online-Professur". Die Trierer Medienwissenschaft war, so Bucher, einer der ersten universitären Studiengänge, in denen das Internet zum festen Bestandteil des Curriculums und auch der Forschung gehörte.
Die Digitalisierung faszinierte Bucher nicht nur im Journalismus, sondern auch in der Wissenschaft. So wie sich die Kommunikation in der Gesellschaft verändert, so wandelt sich parallel auch die Wissenschaftskommunikation. Für ihn und andere Professoren war deshalb die Digitalisierung eine zentrale Frage der Forschung: Kann sie zu einer Demokratisierung im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit beitragen?
So entstand beispielhaft die Idee zur "Twitterwall": Das ist ein großer Bildschirm im Hörsaal, auf dem Tweets erscheinen - von Studenten während der Vorlesung geschrieben, Fragen also und Anmerkungen. "Dass die Tweets manchmal auch für Kneipenverabredungen, Liebeserklärungen und schräge Kommentare genutzt werden, muss man im bestimmten Rahmen aushalten", fügt Bucher, ein wenig schmunzelnd, hinzu.
Mit der Twitterwall wollte Bucher die Vorlesung verändern, ein Format, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und den Zuhörern kaum Mitwirkung ermöglicht. "Die Twitterwall sollte diese an sich überholte Vermittlungsform, den Kapazitätsproblemen der Universitäten geschuldet, dialogisch aufbrechen und den Zuhörern mehr direkte Teilhabe ermöglichen. In meinen Vorlesungen ist sie zu einem festen Bestandteil geworden, der sich schon deshalb bewährt hat, weil nicht nur die Tweets sondern auch die mündlichen Redebeiträge zu einer deutlich dialogischeren Situation beigetragen haben."
"Qualität im Journalismus definieren zu wollen gleicht dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln", meint Professoren-Kollege Stephan Ruß-Mohl. Gibt es wirklich keine Regeln? Doch, es gibt einen festen Anker in dieser Debatte, sagt Bucher. "Die zentrale Funktion des Journalismus ist es, eine öffentliche Meinungsbildung mit rationalen und argumentativen Mittel zu fördern. Daraus lassen sich eine ganze Reihe sogenannten Funktionsnormen ableiten, die auch in verschiedenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts formuliert sind."
Das sind die goldenen Regeln der Qualität:
Die Berichterstattung muss wahrheitsgemäß sein, um eine Meinungsbildung der Bürger zu ermöglichen.
Sie muss die relevanten Themen so aufgreifen, dass sie informativ für die Bürger sind - was nur mit einer tiefen Recherche zu leisten ist.
Sie muss so verständlich und attraktiv gestaltet und formuliert sein, dass die Leser sie akzeptieren.
Mit dem Internet kommt eine neue Qualitäts-Regel hinzu: Journalisten vermitteln zwischen den Communities und versachlichen "populistische Emotionalisierungen durch Aufklärung". Das ist notwendig, weil die Bürger viel mehr lesen und beurteilen müssen. "Damit das nicht zur Bildung abgeschlossener Filterblasen führt, in denen jeder nur noch das rezipiert, was zu seiner Weltsicht passt", muss der Journalismus moderieren und sortieren - in wahr und falsch, wichtig und weniger wichtig.
In einer Studie hat Bucher mit seinen Kollegen verglichen: Wie unterscheiden sich die Leser auf Papier und am Bildschirm:
Der Anteil der "Intensivleser", die also mehr als fünfzig Prozent ihre Nutzungszeit mit Lesen - und nicht mit Scannen und Suchen - verbringen, ist in der gedruckten Ausgabe deutlich höher als in der App, bei der die "Anleser" dominieren.
In der gedruckten Ausgabe werden Texte auch intensiver und ausführlicher gelesen.
In der App werden mehr Beiträge angeschaut: 80 Prozent im Vergleich zu 56 Prozent in der Printausgabe.
Weder Intensivleser noch Anleser haben eine Vorliebe fürs Bunte. Die Befürchtung, Online-Nutzung sei unterhaltungsorientiert, wird von der Studie widerlegt.
Und die Zukunft der Medienwissenschaft im Internet-Zeitalter? "Sie muss Datenjournalismus und den Social-Media-Journalismus in den Blick nehmen, die großen, unstrukturierten Datenmengen der sozialen Medien bewältigen, sie muss mit anderen Disziplinen kooperieren. Wir planen dies in Trier mit den Digital Humanities, das sind die digitalen Geisteswissenschaften, und der Computerlinguistik, der Informatik und der Simulationsforschung, der Soziologie und nicht zuletzt auch mit den Bildwissenschaften."
Quelle
Das komplette Interview ist in zwei Teilen im Blog journalismus-handbuch.de erschienen.
Der Autor
Paul-Josef Raue erarbeitete mit Studenten und Prof. Bucher im Wintersemester ein Online-Magazin zu "20 Jahre Medienwissenschaften in Trier". Er war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Erfurt, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main, Marburg und Eisenach. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus; sein neues Buch "Luthers Sprach-Lehre" erschien 2017 im Klartext-Verlag. Wenn er nicht schreibt, berät Raue Verlage und Redaktionen, speziell Lokalredaktionen, und lehrt an verschiedenen Hochschulen.
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