"Die Entdeckung der Null ist eine der größten Errungenschaften" steht als Schlagzeile über der dritten, der "Thema"-Seite von "Tageblatt". Die kleine Lokalzeitung aus Luxemburg mit 20.000 Auflage fährt jeden Tag ein Thema über mehrere Seiten: "Zahlen" ist es an dem Tag, an dem die Null entdeckt wird; Themen an anderen Tagen sind ein Streit in der katholischen Kirche, der zum Bruch führt, oder das Gerangel um die Schulz-Nachfolge im EU-Parlament.
Das Thema des Tages fällt den Lesern sofort ins Auge: Die Titelseite füllt ein großes Bild in Poster-Manier; in der Randspalte stehen fünf Meldungen, die auf Artikel im Innenteil verweisen, unten auf der Seite steht ein flacher Mehrspalter. Mehr Grafik als Text - wie ein tägliches Magazin kommt die Zeitung daher, die zur Lokalzeitung des Jahres gekürt worden ist.
Ein Trend der vergangenen Jahre fällt in diesem Jahr besonders auf: Die Zeitung wird immer "magaziniger". Das schlägt sich auch in der Besetzung der Redaktion nieder: Von den vierzig Redakteuren des "Tageblatt" in Luxemburg sind zehn Fotografen und Layouter. Ähnlich organisiert sich die Redaktion der größten niederländischen Regionalzeitung "De Limburger" (Auflage 120.000), zur besten Regionalzeitung des Jahres gewählt: Von hundert Redakteuren sind ein Drittel Fotografen und Layouter. Skandinavische Zeitungen, bis hin zu kleinsten Lokalblättern, haben den Trend zur Grafik schon vor etlichen Jahren geprägt: Jede Zeitung ist ein bisschen Ikea.
In deutsche Redaktionen weht der Design-Trend noch wie ein Lüftchen. Die einzige deutsche Zeitung bei den vier Hauptpreisen ist das "Handelsblatt", die überregionale Zeitung des Jahres: Nicht einmal zehn Prozent der 200-köpfigen Redaktion sind Design-Kräfte wie Layouter, Bildredakteure und Infografiker.
Was bedeutet "magazinig":
1. Fast alles ist groß: Das Titelbild, auch beim Aufschlag der Sektionen oder Bücher, überhaupt die meisten Fotos, die Schlagzeilen oder ein Thema, geführt über eine Doppelseite.
2. Die Texte sind lang: Die Redaktion bringt nicht mehr viele Themen recht kurz, sondern wenige ganz groß, tief recherchiert, ausführlich analysiert, atemlos erzählt oder alles auf einmal. Manches Thema läuft über mehrere Seiten wie im "Stern" oder "Spiegel": Das E-Auto füllt vier Seiten in der Lokalzeitung aus Luxemburg; die Middelhoff-Story acht Seiten im Handelsblatt, andere Story gehen sogar über zwölf. Es ist die Renaissance des Journalismus.
3. Das Design macht Lust aufs Lesen. Wer den Leser in lange Texte entführen will, muss ihn verführen durch ein aufgeräumtes, klar gegliedertes und attraktives Layout. Je schwerer das Thema, umso leichter das Design. Lesen soll der Leser nicht als Arbeit empfinden.
4. Weißraum ist typisch für Zeitschriften und nun auch für Zeitungen. Früher dachten Leser bei weißem Raum, der Redaktion falle nichts mehr ein; auch Redakteure dachten so, einige denken so noch immer. Die "Schiebespalte" ist immer öfter zu sehen: Ein schmale Spalte zwischen den Textspalten, die entweder komplett weiß bleibt oder einen kleinen Zwischentitel enthält. Weißraum räumt auf, lenkt den Blick auf das Wichtige.
5. Alle Formen spielen mit. Früher gab es nur fett, normal oder kursiv, Foto, Text und Überschrift. Heute ist die Mischung bunt: Text, Infografik, Tabelle, Fotos, Zeitleisten usw.
Offenbar wird reichlich experimentiert, dem Leser einiges zugemutet. Das Axiom des Internets zieht in Zeitungsredaktionen ein: Probiere aus, höre dem Kunden zu, ändere schnell, was nicht gefällt, baue aus, was gelungen ist, und sei gewiss, nichts hält für die Ewigkeit
Manches bleibt jedoch fremd an, etwa das große Foto von "De Limburger", das die Redakteure täglich quer über den Namenszug auf der Titelseite der Tabloid-Zeitung legen.
Die Jury lobt diese Titelseite als "sehr modern" und begründet: "Es werden immer neue Layout-Varianten gewählt. Dadurch wird der Eindruck der Gleichförmigkeit vermieden." Nur: was ist der Unterschied zwischen "Gleichförmigkeit" und Verlässlichkeit? Will der Leser sich wirklich jeden Tag an Neues gewöhnen - oder eben nicht gewöhnen? Funktioniert das im Einzelverkauf - wie bei Boulevard-Zeitungen?
Oder schauen wir auf eine Interview-Seite der luxemburgischen Lokalzeitung, von der Jury gelobt: "Fragen und Antworten werden locker auf die Seite gestellt. Die Fragen sind größer gesetzt und werden als Gliederungselemente im Layout benutzt. Da es in dem Interview um Zahlen geht, werden sie als Auflockerungs-Elemente eingestreut." Dem Leser erscheint die Lockerheit auf den ersten Blick als Design-Chaos: Die Form triumphiert über den Inhalt und lässt Leser ratlos im Weißraum stehen. Ob manches Experiment einer Jury aus Top-Designern besser gefällt als den Lesern?
Diese und ähnliche Fragen können Chefredakteure und Art-Direktoren beim European Newspager Congress in Wien (13. - 15. Mai 2018, hier anmelden) beantworten, auf dem sie ihre preisgekrönten Zeitungen vorstellen.
Norbert Küpper hat die Einsendungen komplett gesichtet und nach der Jurysitzung diese Trends aufgelistet:
1. Die Samstags-Zeitung wird zur Wochenzeitung. Das bedeutet etwa bei der "Allgemeinen Zeitung" aus Mainz, dass jeder Lokalteil eine nahezu monothematische Startseite hat.
2. Titelseite als Poster. Mehr und mehr Zeitungen gehen dazu über, ein großes Aufmacher-Thema zu präsentieren. Zeitungen im Tabloid-Format tun sich leichter damit, wie etwa die "Kleine Zeitung" aus Graz, "Polska" aus Polen oder "Delovoy" aus St. Petersburg, die mit Spezialpreisen geehrt werden.
3. Professionelle "Snow-Fall"-Projekte, die mit diesem und anderen Online-Formaten experimentieren.
4. Textgetriebenen News-Apps. Hier werden vor allem lange Texte auf dem Smartphone angeboten. Hohe Nutzerzahlen zeigen den Erfolg.
5. Visueller Journalismus: Alternative Storyformen, visual Storytelling, Foto-Reportagen - all diese journalistischen Genres werden mehr und mehr in Print eingesetzt.
6. Datenjournalismus ist nur ein Trendchen, wird von wenigen genutzt, dafür aber professionell. Vorne sind die "Berliner Morgenpost" und der "Tages-Anzeiger".
7. Infografiken sind auch in Zentraleuropa häufiger. Die iberische Halbinsel und Griechenland waren in Europa Vorreiter bei doppelseitigen Infografiken. Immer häufiger sind sie in Dänemark, Großbritannien, den Benelux-Ländern und im deutschen Sprachraum zu entdecken.
DER WETTBEWERB: ZEITUNGEN UND ZAHLEN
185 Zeitungen haben in diesem Jahr teilgenommen. Es gibt seit Jahren eine leicht fallende Tendenz, weil nicht nur in Deutschland immer mehr Zeitungen kooperieren und weil Mantelredaktionen mehrere Zeitungen beliefern.
Erstmals dabei: Contacto, eine Zeitung in portugiesischer Sprache aus Luxemburg, die gleich einen Award für Typografie gewinnt. Teilgenommen haben auch Zeitungen aus Kasachstan und Aserbaidschan, ohne Award.
Neuer Preisträger: Develoy St. Petersburg, Russland, Auszeichnung sowohl Print wie Online
Deutsche Wochenzeitungen mit den meisten Awards: Die Zeit / Welt am Sonntag
Überregionale mit den meisten Awards: Süddeutsche Zeitung / Die Welt mit Welt Kompakt
Regionale mit den meisten Awards: Stuttgarter Zeitung + Stuttgarter Nachrichten / Hamburger Abendblatt / Berliner Morgenpost (Datenjournalismus) / Main-Post (Art-Director) / Rheinische Post
Lokale mit den meisten Awards: Mindener Tageblatt / Emder Zeitung / Pforzheimer Zeitung
INFO
Norbert Küpper ist einer der bedeutenden deutschen Zeitungs-Designer. In seinem Buch "Zeitungsdesign und Leseforschung" stellt er sechs aktuelle Neugestaltungen vor. Am Ende des Buches werden Ergebnisse seiner Blickaufzeichnungs-Forschungen präsentiert.
Das Jahrbuch "Zeitungsdesign 19", herausgegeben von Norbert Küpper, hat mit mehr als 1400 Abbildungen in diesem Jahr die Schwerpunkte: "Alternatives und visual Storytelling" sowie "Konzepte und Innovation (Print und Online)". Das Jahrbuch gibt es als DVD oder USB-Stick für 35 Euro. Das Buch wird Ende März fertig sein. Bestellungen, auch des Zeitungsdesign-Buchs, über die Website www.editorial-design.com
kress.de-Tipp: Beim ENC, dem "European NewspaperCongress", werden die Preise verliehen. Der größte Zeitungskongress Europas mit 500 Teilnehmern findet statt vom 13. bis 15. Mai 2018 in Wien. Anmeldungen sind noch möglich (und erwünscht). Website: www.newspaper-congress.eu
DER AUTOR
Paul-Josef Raue hat als Chefredakteur in seinen Redaktionen den Eingang als "Hall of Fame" gestaltet, in dem vor allem Dutzende von ENA-Urkunden hingen und Besuchern imponierten. Raue war 35 Jahre lang Chefredakteur, zuletzt in Erfurt, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main, Marburg und Eisenach. Zusammen mit Wolf Schneider gibt er das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus; sein neues Buch "Luthers Sprach-Lehre"" erschien 2017 im Klartext-Verlag. Sein Essay "Transmedialer Wandel und die German Angst" ist gerade erschienen in dem Band "Die neue Öffentlichkeit" (Verlag Springer VS). Wenn er nicht schreibt, berät Raue Verlage und Redaktionen, speziell Lokalredaktionen, und lehrt an Hochschulen in Trier und Berlin sowie in Salzgitter, wo seine Vorlesung über die "Renaissance von Zeitschriften" auch auf die hohe Bedeutung des Design eingeht.
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