#ENC18: Was Gabor Steingart unter echter Lesernähe versteht

 

Als "nachdenklicher Vordenker" wurde er auf dem European Newspaper Congress angekündigt. Und dem wurde der ehemalige Chefredakteur und Geschäftsführer sowie immer noch Anteilseigner am "Handelsblatt" sehr gerecht. Gabor Steingart sprach den Chefredakteurskollegen ins Gewissen und plädierte für radikale Lesernähe. "Das Publikum enfernt sich von alten Gewohnheiten und von den alten Gewalten", sagte er.

"Wir haben es zu tun mit einer Selbstertüchtigung des Bürgertums", so der meinungsstarke Journalist, der in veränderter Form sein "Morning Briefing" aus dem "Handelsblatt" fortsetzen wird. "Die Menschen wollen sich selbst spüren und wollen selber die Instrumente der Macht in den Händen halten."

Selbst nachdenklich gemacht über das Vorbeireden und -schreiben an den klassischen Zielgruppen in den deutschen Medien hatte Steingart offenbar eine Begegnung mit dem höchst umstrittenen Ex-Trump-Wahlkampfstrategen Stephan Bannon, der den heutigen US-Präsidenten dazu brachte, die einzelnen Amerikaner direkt und unverblümt anzusprechen - und keine klassische Zielgruppen-Kampagne zu führen.

"Ich kann nur raten, das Gespräch mit dem Publikum zu suchen", so Steingart in Wien. "Die Bürger wollen selbst eine eigene Macht sein." Daher auch die grassierende Kritik an den etablierten Häusern und die fortschreitende Abwendung von Massenmedien, die von vermeintlich allzu selbstherrlichen Chefredakteuren geprägt sind.

"Das Bürgertum hat eine Revolution gestartet, die nur deswegen nicht Revolution heißt, weil sie so leise abläuft", beschrieb Gabor Steingart die Tendenz, dass sich immer mehr Menschen auch in Deutschland über soziale Medien und eigene Kanäle jenseits der etablierten Medienquellen selbst verständigen. Als Beispiel führte er nicht nur politische Diskurse an, sondern auch die praktische Lebenswelt. "Die Lebensmittelindustrie wird vor unseren Augen umerzogen", so Steingart über Bemühungen, Bio-Lebensmittel, vegetarische und vegane Ernährungsformen sowie den Kampf gegen den Zucker durchzusetzen.

"Es ist eine Leserrevolution im Gange", sagte Steingart. Und die habe nicht allein mit den technischen Neuerungen wie Facebook oder Twitter zu tun. "Die Technik ermächtigt die Leute erst, ihre Power in richtige Meinungsmacht umzusetzen", so der Journalist. "Normale Leserinnen und Leser wollen nicht die Untertanen sein", sagte Steingart. "Sie wollen, dass man sie als Menschen und Partner sieht - und nicht als Zielgruppe."

Daraus ergab sich für Gabor Steingart ein Appell an die führenden Medienschaffenden. Seine Botschaft an Chefredakteure lautete: "Sei respektlos gegenüber der Macht", so der Abendredner in Wien. "Sei aber auch neugierig, was deine Leser so denken", so Steingart. "Lerne das Zuhören und lerne, deine Leser ernst zu nehmen."

Wenn man sich mit den Lesern auf "eine moderne Partnerschaft" einlasse, so Steingart, "dann stehen uns die besten Zeiten noch bevor". Wie in seinen berühmten "Morning Briefings" durfte dann ein Albert-Camus-Zitat zur Abrundung nicht fehlen, in dem davor gewarnt wird, Menschen hinterher zu laufen, die vielleicht gar nicht führen. "Lauf doch einfach neben mir und sei mein Freund."

kress.de-Tipp: Beim European Newspaper Congress 2018 vom 13. bis 15. Mai in Wien tauschen 500 Chefredakteure und Medienmanager ihre besten Konzepte aus, berichten über erfolgreiche Cases und diskutieren über Werte und Verantwortung. Zu den Fotos und Videos. Der European Newspaper Congress wird vom Medienfachverlag Johann Oberauer, der Stadt Wien und Norbert Küpper, Zeitungsdesigner in Deutschland, veranstaltet.

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