Sie werden gelächelt haben, ganz sicher, eine Mischung aus Mitleid, Bedauern, leiser Sympathie und branchentypischer Arroganz, aber ernst nehmen? Niemand hat 2016 auf ein Magazin wie "Socrates" gewartet, am allerwenigsten die saturierten wie krisengeplagten Großverlage. Ein intellektuelles Sportmagazin? Von Türken? In Deutschland? Ausgerechnet. Und das ist sicher nur die harmlose Fassung.
Dazu in einem extrem schwierigen Segment: Sport- und Fitnessmagazine sind in den vergangenen Jahren überwiegend zu reinen Nischenprodukten degeneriert, mit überschaubaren Gewinnen und volatiler Qualität. Ansätze für größere Titel hat es immer wieder gegeben - und wurden immer wieder begraben, zuletzt "No Sports". Ausnahme: "11 Freunde". Und wer sich sportlich selbst in die Pflicht nehmen will, steht ratlos am Kiosk: viel Fitness, aber wenig Fun.
Dabei kann "Socrates" in der Türkei auf eine große Erfolgsgeschichte verweisen. Von Start weg entwickelte sich das Blatt zur erfolgreichsten Sportzeitschrift des Landes. Verleger Can Öz, Jahrgang 1980, leitet den Istanbuler Literaturverlag "Can Yayinlari", übersetzte Jane Austen und Paul Auster ins Türkische und träumte schon länger von einem Monatsmagazin, das Sport und Kultur verbinden sollte. Aber Träume sind Schäume, gerade in der heutigen Türkei, kulturelle wie journalistische, vor allem aber politische. Weshalb sich Öz aber nicht scheute, 2013 die Proteste im Istanbuler Gezi-Park gegen Erdogan mitzuverantworten und im Nachgang regierungskritische Autoren wie den ehemaligen "Cumhurriyet"-Chefredakteur Can Dündar zu verlegen.
Das mag aus deutscher Sicht wie Folklore erscheinen, erklärt aber, warum Öz, ein stiller Zeitgenosse in einer kakophonischen Medienlandschaft, keine Herausforderung scheut, schon gar nicht ein publizistisches Abenteuer im Ausland. Die deutsche Redaktion sitzt in München und wer sich fragt, was die seit dem Start so gemacht hat, der höre sich zum Beispiel unter deutschen Profi-Fußballern um. Es war kein Zufall, dass Nationalspieler Jerome Boateng sein "Ich-möchte-endlich-weg-von-den-Bayern"-Interview in "Socrates" platzierte - und nicht in "Bild".
Kompetent, seriös, mit Tiefgang, ohne Kabinenmief oder basisdemokratischer Fan-Perspektive (wie man es in "11 Freunde" öfter findet) - das kommt bei den Sportlern an, und wichtiger: bei deren Managern.
Die Auflage wächst, wenn auch langsam, ebenso die Umsätze, man sei aber mit der Entwicklung "sehr zufrieden", heißt es aus dem Verlag. Natürlich, Potentiale seien noch etliche vorhanden, deswegen also ein Facelift, optisch wie inhaltlich.
"Socrates" geht auch diesmal, wie schon seit der ersten Ausgabe, volles Risiko und setzt auf eine Illustration. Sicher, diese Lösung gilt als Kiosk-Killer, nicht ohne Grund, aber man könnte auch in diesem Fall die Frage stellen, ob ein spitzes, monatliches Qualitätsmagazin, zumal für eine männliche Zielgruppe, nicht auf anderen Kanälen vertrieben werden sollte. Und damit ist nicht der Buchhandel gemeint.
Die gesamte Aufmachung ist hochwertig und edel, der Druck - auf haptisch sehr angenehmen Papier - schmeichelt Auge und Fingerspitzen, graphisch ist alles am richtigen Platz, und doch: lauter könnte dieses Cover sein, emotionaler - und damit selbstbewusster. Das ändert auch nicht das Motiv von Löw und Kollegen, die ihre Emotionen (oder Frust) in die Welt hinausschreien.
Die Typo ist fein, aber etwas verhalten, was beim Magazin-Titel beginnt, über eine fast unleserliche Unterzeile weitergeht und bei einem Button endet, der mehr verbirgt als hervorhebt. Auch wenn Farbe verwendet wurde: das Cover wirkt monochrom, edel, fast wie ein Kunstwerk. Und vielleicht ist das auch die wichtigste Botschaft an potentielle Leser: Sammelt mich!
Im Fußball, so sagte einst Jean-Paul Sartre, verkompliziere sich alles dadurch, dass die gegnerische Mannschaft anwesend sei. Das gilt vor allem bei Weltmeisterschaften, was "Socrates" zum Anlass nimmt, ein gesamtes Heft der WM in Russland zu widmen. Hinter die Kulissen wolle man schauen, "andere Geschichten" erzählen, so Chefredakteur Demireli und, um es vorwegzunehmen:
Das ist auch gelungen. Eine, zum Teil schwer zu bändigende, Flut an Personen, Porträts, Interviews und Kolumnen buhlt um die Gunst des Lesers, dass es einem manchmal schwindelt. Dabei beweist die Redaktion oft ein gutes Timing für die richtige Story. Die Shootingstars Timo Werner und Corentin Tolisso stellen sich ebenso den Fragen, wie die Nationaltrainer von Frankreich und Island. Dazu Reports, Hintergründe und Historisches, ohne in die Nostalgiefalle zu tappen. Was möglicherweise die größte Herausforderung war. Sollen andere das "Wunder von Bern", diesen nationalen Gründungsmythos feiern als ständige Wiederkehr des ewig Gleichen - in "Socrates" machen sich Cem Özdemir und Moritz Rinke lieber ihre Gedanken über das zwiespältige "Wir sind wieder wer"-Gefühl. Und wer immer noch glaubt, dass Fußball nur die schönste Nebensache der Welt ist, der kann sich gerne den Report über FIFA-Boss Gianni Infantino durchlesen (das ist der Mann, der bei der WM-Eröffnungsfeier zwischen Scheich bin Salman und Wladimir Putin saß). Was an Camus Satz erinnert, dass er alles, was er über Moral wisse, auf dem Fußballplatz gelernt habe.
Allein: Ordnung täte gut. Dem Heft fehlt eine klare Struktur, was helfen würde, die Inhalte zu gewichten und besser aufzubereiten. Auch die journalistischen Formen kämen stärker zur Geltung. Und: Es fehlen kleine Rubriken, starke Einzelseiten, die das Ganze luftiger und lesbarer machen. Und: Humor. Denn natürlich ist Fußball eine ernste Sache, allerdings sind bei weitem nicht alle Protagonisten Philosophen in kurzen Hosen.
Selten dürfte mit Getty-Fotos so kreativ umgegangen worden sein, vor allem in dieser Masse. Dank Artdirektor Hüseyin Sandik spielt "Socrates" optisch - ja, soviel Phrase darf sein - in der Champions League. Moderne Farbwahl, schattierte, gezeichnete Porträts, klarer Artikel-Aufbau, grosszügige Aufmachung - das ganze Heft ist aus einem Guss. Das muss man erstmal hinkriegen. Natürlich kann man so sehr elegant kaschieren, dass kein Budget für teure Eigenproduktionen vorhanden ist.
Aber: Man sollte zu diesem Thema einmal über den Tellerrand schauen und aktuelle Fotostrecken anderer Magazine begutachten. Auch hier gilt: Geld schießt nicht immer Tore.
Die Typo-Größe hätte ein bis anderthalb Punkte größer ausfallen dürfen, auch Überschriften, die Vorspänne sowieso. Und irgendwann kann auch die beste Grafik nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Aufbau Lücken und Schwächen aufweist.
Wieso bei der eigentlich gelungenen Betrachtung aller von Deutschen gewonnenen Weltmeisterschaften ausgerechnet die letzte fehlt, erschließt sich nicht. Auch die Schwerpunkte "Centre Court" und "Liebesgrüße aus Moskau" hätten sich optisch besser abgrenzen lassen.
Was tatsächlich fehlt: eine opulente Bildstrecke, die Ruhe ins Heft gebracht hätte. So wirken einige Geschichten redundant, trotz guten Inhalts. Dafür glänzen die Info-Grafiken, der beigelegte Spielplan sowieso. Kein kleiner Trost.
Sport und Sprache - ein sehr weites Feld. "Socrates" entscheidet sich für den sachlichen Weg, was grundsätzlich eine sichere Bank sein kann, allerdings auch die Gefahr birgt manchmal dröge und langweilig zu sein. Zwar werden zum Beispiel bei Überschriften witzige Wortspiele vermieden, dafür ist die gesamte Ansprache unaufgeregt und frei von Superlativen. Das Niveau hat sich gegenüber der ersten Ausgabe zwar sehr gesteigert, allerdings vermisst man zeitweilig einen starken Textchef, der regulierend eingreift und dem ganzen Heft einen eigenen Sound verleiht. Das würde dem Heft noch mehr Haltung geben. Auch die zahlreichen und teilweise überraschenden Autoren und Kolumnisten (unter anderem Thomas Kistner/SZ, Moritz Rinke, Andreas Görlitz) würden besser glänzen.
Wichtig für die Zukunft wären eigene Reportagen, die das aktuelle Lebensgefühl stärker ins Heft transportieren. Die Wahrheit liegt bekanntlich auf dem Platz und der ist in jedem Fall draußen, außerhalb der Redaktionsräume.
"Socrates" wagt was, Konzept und Umsetzung ragen weit aus der Masse üblicher Magazin-Gestaltung hervor. Die Macher von "Socrates" verstehen ihr Handwerk; es macht Spaß darin zu blättern, Geschichten zu entdecken, IQ und EQ kommen gleichermaßen auf ihre Kosten. Natürlich kann man das Projekt - ein Mix aus Sport- und Gesellschaftsmagazin, lifestylig aufgemacht - zu ambitioniert finden, zu spitz, zu intellektuell. Letzteres ist übrigens eine sehr deutsche Sichtweise: während in Ländern wie Frankreich, England, Italien oder Spanien das Wort "intellektuell" eine Auszeichnung ist, wird es in Deutschland meistens negativ verwendet. Was sehr viel mit der Nazi-Zeit zu tun hat, einer emigrierten oder ermordeten Intelligenzia und der Verdrängung nach dem Krieg. Deutschland, das Land der Dichter und Henker.
Was das alles mit "Socrates" zu tun hat? Nichts - und doch viel. Dass es in diesen aufgeregten Zeiten ausgerechnet ein türkischer Verleger schafft in Deutschland ein relevantes Magazin herauszubringen, ist ein Zeichen. Für mehr Mut und Haltung, gegen Lethargie und Anpassung.
So, wie der Namensgeber des Magazins: Socrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira, ein begnadeter Fußballer, politisch und sozial hochengagiert. Einer, der seinen Sport als Hochamt begriff, ein Identitätsstifter, sich aber nie als Projektionsfläche der Mächtigen sah.
Und am Ende immer froh war, wenn es hieß: Aus. Aus. Aus. Das Spiel ist aus.
Verleger und Geschäftsführer von "Socrates" ist Can Öz, der 2017 in die kress Hall of Future aufgenommen wurde. Herausgeber und Chefredakteur des Hefts ist Fatih Demireli, zur Chefredaktion gehören außerdem Banu Yelkovan (Chefin vom Dienst) und Felix Seidel (Leiter Kommunikation). Bestandteil der Redaktion sind Sebastian Hahn, Furkan Karasoy, Cem Pekdoğru, Ozan Can Sülüm und Oliver Wittenburg. Art Director ist Hüseyin Sandık, Director Sales & Business Development Güliz Aslan. Die Anzeigenvermarktung liegt bei Gruner und Jahr: Director Brand Sales ist Jan-Eric Korte, Key Account Manager sind Clemens Rother und Nicolas Jorczik. Für den Vertrieb ist die DPV Deutscher Pressevertrieb zuständig, gedruckt wird bei Westermann Druck in Braunschweig. Die Druckauflage beträgt laut Verlag 51.000 Exemplare.
Zum Autor: José Redondo-Vega formte als langjähriger Chefredakteur die Zeitschrift "GQ" zu einer 360-Grad-Marke. Davor entwickelte und leitete er den Online-Auftritt von "Vanity Fair" und war Chefredakteur vom "kressreport". Zurzeit berät er Verlage und Unternehmen.
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