Eine Woche vor dem 1. Advent twitterte der Politikchef des "Handelsblatt": "Weihnachten ade. Die Verbotspartei schlägt wieder zu. Der brave @ToniHofreiter will brennende Kerzen und damit den Adventskranz verbieten. Die Deutsche Umwelthilfe klagt bestimmt bald ein Kerzenv..."

Dem NRW-Ministerpräsident gefällt die Nachricht, er retweetet: "Jetzt drehen die Grünen durch..."

Politikchef und Ministerpräsident haben eine recht plump formulierte Nachricht nicht als Satire verstanden, sondern sie in eine echte Nachricht verwandelt, offenbar einer politischen Abneigung folgend. Was hatten sie gelesen?

Der "berliner express" schrieb im Netz: "Die Grünen fordern ein Verbot von brennenden Kerzen in Innenräumen. Die Stickoxidbelastung würde über den Höchstwert steigen. Auch Adventskränze haben künftig keinen Platz mehr in den Wohnzimmern... 'An den Straßen gilt ein Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft, in Büros ein Grenzwert von 60', so der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter zur Nachrichtenagentur fna. ,Da kann es doch nicht sein, dass eine einzelne durchschnittliche Kerze 120 Mikrogramm an Stickoxiden produziert.' Hofreiter empfehle deshalb die Nutzung von elektrischen Adventskränzen, die mit Ökostrom betrieben und energiesparende LED-Lampen verwenden würden."

Mit geringem Recherche-Aufwand hätte man herausfinden können, dass der "berliner-express.com" eine Satire-Seite ist. Lars Wienand, Recherche-Chef bei "t-online", warnt, die Seite sollte bei Lesern die Alarmglocken schrillen lassen: "Das selbst ernannte Satireportal mit Briefkastenadresse auf den Seychellen wird von einem österreichischem Chefredakteur auf den Philippinen betrieben, der Verbindungen zu russischen Staatsmedien hat - und keine Scheu vor Fake News. Mit seinen vordergründig satirischen Falschmeldungen ist er stellenweise extrem erfolgreich."  Der Polit-Satire-Auftritt ist in der Tat erfolgreich, wenn es ihm gelingt, den Politikchef des "Handelsblatt" hinters Adventslicht zu führen und einen Ministerpräsidenten.

Wäre es nicht sinnvoll, Redakteure würden am Wochenende das Smartphone ruhen lassen? Vielleicht sogar komplett aufs Twittern außerhalb der Redaktion verzichten? Also nicht Trumps Beispiel zu folgen, der den größten Schaden twitternd auf seinem Golfplatz anrichtet? Twitternde Redakteure schliddern in ein Dilemma: Sie wollen das Recht nutzen, ihre persönliche Meinung zu äußern, weil der Meinungsfreiheit-Artikel im Grundgesetz für alle, als auch für Redakteure gilt.

Für Redakteure ist der persönliche Twitter- oder Facebook-Auftritt ein Forum, auf dem sie lockerer schreiben können als in der Zeitung; sie stufen ihn meist herab als "privat unterwegs". Nur - können sich Redakteure spalten in einen privaten und einen öffentlichen Bürger? Dieselbe Frage stellen sich alle, die öffentlich eine herausgehobene Stellung einnehmen: Bundeskanzlerin, Politiker, Manager von Unternehmen, Funktionäre vom Gewerkschaftssekretär bis zum Bischof und DFB-Nationaltrainer.

Welcher Smartphone-Nutzer soll und kann verstehen, dass ein Redakteur privat anders tickt als auf den gedruckten Seiten oder im Online-Auftritt der Redaktion? Ein Redakteur wird stets mit seinem Medium identifiziert, ob er will oder nicht. Doch  Twitter & Co sind verführerisch: Ein Redakteur haut schnell eine Meinung hinaus, die er im geschützten Nachrichten-Raum einem Gegenleser gezeigt hätte; er verbreitet schneller eine Nachricht, ohne ihre Richtigkeit recherchiert zu haben; er reiht sich aus einer Laune heraus in eine Kampagne ein, ohne ausreichend die Wirkung zu bedenken. Da wird schnell der kleine Trump in einem Redakteur lebendig: Schreibe ohne genau zu denken! Poste ohne lange zu überlegen!  

Allerdings lohnt es sich, in den sozialen Netzen auch mal zu experimentieren. Die "New York Times"-Redakteurin Margot Sanger-Katz ermuntert dazu: "Du kannst Fragen über Dinge stellen, die du nicht weißt, kleine Witze machen, Überraschung ausdrücken, die Arbeit anderer teilen, etc. Ich finde Twitter nützlich, um mit Experten und Lesern ins Gespräch zu kommen und Ideen weniger formal und mit weniger Sicherheit auszuprobieren als in einem Artikel. Ich bin mir aber immer bewusst, dass jeder meiner Tweets an anderer Stelle als die Aussagen einer Times-Reporterin zitiert werden kann."

Spätestens wenn ein Redakteur falsche Informationen in die Welt setzt, ohne gründlich recherchiert zu haben, missbraucht er das Vertrauen seiner Leser - ob in seiner Zeitung, seinem Magazin, seiner TV-Sendung oder "privat" im Netz. Zudem entdeckt ein Nutzer die Trennung von "privat" und "öffentlich" auch nur, wer er das Kleingedruckte im persönlichen Profil liest und einordnet; das dürften wenige sein.

Die Chefredaktion der New York Times erließ als eine der ersten Zeitungen Regeln für den Umgang mit den sozialen Netzen - aus gutem Grund. Peter Baker, Chefkorrespondent im Weißen Haus, schrieb 2017 über die "aufgeladene Lage" nach diversen Angriffen von Trump gegen die "New York Times": "Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Tweets über Präsident Trump von unseren Reportern und Redakteuren als eine Erklärung der New York Times als Institution angesehen werden. Das Weiße Haus macht keinen Unterschied."

Die Redakteure in New York mussten Abschied nehmen von persönlichen Tweets, auch wenn es ihnen schwer fällt. In der Regeln heißt es: "Während du vielleicht denkst, dass deine Facebook-Seite, dein Twitter-Feed, Instagram, Snapchat oder andere Sozial- Media-Konten private Zonen sind, getrennt von deiner Rolle bei The Times, ist in der Tat alles, was wir online veröffentlichen oder mögen, bis zu einem gewissen Grad öffentlich. Und alles, was wir in der Öffentlichkeit tun, wird wahrscheinlich mit der Times in Verbindung gebracht."    

Der Politik-Redakteur und Pulitzer-Preisträger Nicholas Confessore ergänzt: "Die Times wird für alles, was auf meinem Feed erscheint, verantwortlich gemacht. Tatsächlich interpretiert der Gelegenheitsleser meine Berichte als eine Erweiterung unserer digitalen Plattformen. Ich denke, wir alle bei der Times sollten dies als Preis für unsere Beschäftigung bei einer großen Medieninstitution akzeptieren. Und um ehrlich zu sein, in dem Maße, wie mein Twitter-Account einflussreich oder weit verbreitet ist, liegt es hauptsächlich daran, dass ich bei der Times angestellt bin."

Redakteure können und sollen sich nicht aus den sozialen Netzen raushalten: Sie  müssen darin Themen entdecken, recherchieren und eigene Nachrichten verbreiten. Wer sich souverän im Netz  bewegen will, kann leicht das Dilemma lösen: Er schreibt dort nach den Regeln, die er auch als Redakteur für die gedruckten Seiten achtet. Für einen Journalisten gibt es keine gespaltene Professionalität.

Der Politik-Chef des "Handelsblatt"  beendete seine Twitter-Panne vorbildlich: "Ich muss mich bei @ToniHofreiter entschuldigen. Ich bin auf eine Satireseite reingefallen. Zur Strafe gibt's für mich ein Wochenende Twitter-Verbot." Allerdings hat er am folgenden Sonntag gleich ein halbes Dutzend Tweets gepostet, darunter den von FDP-Chef Christian Lindner: "Vielen Dank an den @BVB für die Berufung in den #Wirtschaftsrat - ist mir eine Ehre! CL." Das war offenbar keine Satire.

Info

Neun wichtige Regeln der "New York Times" für Redakteure in den sozialen Netzen:

  1. In Social-Media-Posts dürfen Times-Journalisten keine parteiischen Meinungen äußern, politische Ansichten vertreten, Kandidaten unterstützen, beleidigende Kommentare abgeben oder etwas anderes tun, das den journalistischen Ruf der Zeitung untergräbt.

  2. Vermeide es, privaten und "geheimen" Gruppen auf Facebook und anderen Plattformen beizutreten, die eine parteiische Ausrichtung haben könnten.

  3. Sieh davon ab, dich für parteiische Veranstaltungen in Social  Media zu registrieren. Trittst du diesen Gruppen zu Berichtszwecken bei, achte darauf, was du veröffentlichst.

  4. Behandle andere in Social Media immer mit Respekt! Wenn ein Leser deinen Beitrag kritisiert, erwähne nicht, dass er deinen Artikel nicht sorgfältig gelesen hat.

  5. Wenn die Kritik besonders aggressiv oder rücksichtslos ist, ist es wahrscheinlich am besten, nicht zu antworten.

  6. Sei transparent! Wenn du einen Fehler oder etwas Unangemessenes getwittert hast und den Tweet löschen möchtest, stelle sicher, dass du die Löschung in einem nachfolgenden Tweet schnell bestätigst.

  7. Wenn du auf andere Quellen verweist, achte darauf, viele Standpunkte widerzuspiegeln. Die konsequente Verknüpfung mit nur einer Seite einer Debatte kann den Eindruck erwecken, dass du Partei ergreifst.

  8. Sei vorsichtig, wenn du provokante Geschichten von anderen Organisationen teilst, die die "Times" noch nicht bestätigt hat.

  9. Wir wollen Exklusivartikel in der Regel zuerst auf unseren eigenen Plattformen veröffentlichen, nicht auf Social Media; aber es kann Fälle geben, in denen es Sinn macht, zuerst auf Social Media zu posten.

Der Autor

Paul-Josef Raue leitete über 35 Jahre als Chefredakteur große Regionalzeitungen, zuletzt in Erfurt, davor in Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main, Marburg und Eisenach. Mit Wolf Schneider gibt er bei Rowohlt das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus; dort ist im Kapitel "Was Journalisten von Bloggern lernen können" zu lesen: "Etwas als Erster zu bekommen, das sei leicht - es korrekt zu haben, sei teuer." Gerade erscheint im Klartext-Verlag Raues Biografie des Genossenschafts-Gründers: "F. W. Raiffeisen: Ein Leben für eine gerechte Gesellschaft".  Im vorigen Jahr erschien "Luthers Stil-Lehre", eine Stilfibel für Journalisten. Wenn er nicht schreibt, berät Raue Verlage und Redaktionen, speziell Lokalredaktionen, und lehrt an verschiedenen Hochschulen.

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