Bevor jemand den schönen ersten Satz finden möchte, sollte er wissen, was an seiner Geschichte stimmt oder nicht stimmt

 

Relotius und die Folgen: Warum die Schönschreiberei des "Spiegel" sich seinen Fake-Star-Reporter selbst erschaffen hat. Ein Kommentar von "Wirtschaftsjournalist"-Chefredakteur Wolfgang Messner.

Wie das schon losgeht. Dieser lakonische Ton und wie das alles sitzt und passt. Jedes Zitat: fast zu wahr, um schön zu sein. So ist das immer bei ihm. Auch in der Geschichte "Ein Kinderspiel" über den syrischen Jungen, der angeblich den Bürgerkrieg ausgelöst hat und für die der - so viel Zeit muss sein - mutmaßliche Fake-Autor Claas Relotius noch am 3. Dezember den Deutschen Reporterpreis bekommen hat. Zum vierten Mal schon. Und das mit gerade 33 Jahren. Neben all den anderen Ehrungen, die der Reporter gesammelt hat und die er nun wohl alle schnell zurückgeben sollte, bevor sie ihm aberkannt werden. Mir haben, offen gestanden, die Geschichten des Claas Relotius nie wirklich gefallen. Ich habe sie kaum oder nur widerwillig gelesen. Es war mir alles zu gefällig, zu erwartbar, geradezu langweilig perfekt.

Das hätte mich misstrauisch machen müssen. Denn die Wirklichkeit ist selten schwarz-weiß und oft hat man auch als Journalist Pech und trifft nur selten jemanden wirklich Interessanten. Anders bei Relotius, dem Glückskind, dem immer alles meisterhaft zu gelingen schien. Vielleicht habe ich seine Geschichten oft deshalb desinteressiert überblättert. Auf die Idee, dass alles oder das meiste erfunden sein könnte, wäre ich aber nie gekommen.

"Jahrelang", so heißt es erst am 3. Dezember in der Begründung der Reporterpreis-Jury, "hat Claas Relotius, gemeinsam mit syrischen Mitarbeitern, ihm hinterher gespürt und ihn dann per Handy interviewt". Er habe einen Text geschrieben "von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert". Die Begründung ist mittlerweile gelöscht. Überhaupt hat das Reporterforum die ganze Kategorie Reportage vom Netz genommen. Mit dem vielfach Gefeierten will man offenkundig nichts mehr zu tun haben. Nebenbei: Welche Konsequenzen die Journalistenjurys aus dem Betrug ziehen, dazu ist es bisher auffällig ruhig.

Der "Spiegel" dagegen flüchtete nach vorn. Ullrich Fichtner, der designierte Co-Chefredakteur des "Spiegel", schrieb eine ellenlange Aufarbeitung. Dort heißt es: "Es ist nur, leider, wie so viele andere Arbeiten aus Relotius' Manufaktur, ein fantasievolles Machwerk. Schwer zu sagen, wie sich hier die Fakten von der Fantasie trennen lassen, schwer, die Fragen danach zu beantworten, mit wem Relotius eigentlich Kontakt hatte, wie oft, wie intensiv, wie eigentlich übersetzt wurde, wie all diese Handy-Verbindungen überhaupt rein technisch möglich gewesen sein sollen."

Fichtner ist zurecht vorgeworfen worden, dass er in seinem in Pathos badenden Stück eine scheinbare Aufarbeitung im gefühligen Reportagestil im altbekannten Edelfeder-Sound angestimmt hat, auf den der "Spiegel" seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten abonniert ist. Es ist diese Tonlage und diese Stimmigkeit dieser Geschichten, derer sich auch Relotius bedient hatte. Es ist der Beat, der die Preisjurys der Republik juppig machte. Und es ist genau der Stoff, aus dem die Journalistenpreise gemacht sind, die Relotius und seine "Spiegel"-Kollegen jahrelang abgeräumt haben.

Dass nun mit Relotius der Ausgezeichnetste von ihnen als Betrüger entlarvt worden ist, zeigt die Perversion dieses Verfahrens. Er ist eben nicht der negative Einzelfall zu dem ihn die Apologeten des selbstverliebten Schönschreiber-Autorenkults machen wollen. Geradezu verräterisch klingt, wie beim "Spiegel" Bald-Chef Fichtner, der Noch-Vize-Chef Kurbjuweit oder Ex-Reporter Schnibben auf die Bescheidenheit und angeblichen schweizerischen Qualitäten des mutmaßlichen Betrügers verweisen. Geradeso, als ob sie nicht fassen und von ihrem Credo der durchgestylten Groß-Reportage nicht lassen können.

Wenn denn alles so stimmt, wie es vom "Spiegel" dargestellt wird, - und so viel Zeit muss sein: das wissen wir heute nicht mit Gewissheit - ist Relotius auch nicht der faule Apfel, der aus dem Korb der ansonsten sauber und ehrlich arbeitenden Journalisten herausfällt, sondern er stellt vielmehr den perfiden Gipfel einer immer mehr auf Ästhetisierung des Berichtsgegenstands und Verdichtung der Wirklichkeit zielenden Deutungs- und Darstellungsform von Wirklichkeit dar. Es ist eine Entwicklung, in der der "Spiegel" stilbildend war, auch weil er sich dem lange versagte. Bis heute hat diese "Spiegel"-Schreibe eine Infektion ausgelöst, die vor Magazinen und den großen Blätter wie der "Süddeutschen" und "Frankfurter Allgemeinen" nicht haltmachte bis sie sich zu den letzten Regional- und bis zur Lokalzeitungen ausgebreitet hatte.

Herangezüchtet wurden diese Attitüden schon zu jenen Zeiten, als die Fichtners dieser Welt ihre Ausbildung gerade erst begonnen hatten. In den Eliteklassen der bundesdeutschen Journalistenschulen wurde - von Reportergrößen der "Süddeutschen", "Stern" oder "Spiegel" - hauptsächlich die Kunst des Schreibens vermittelt. Wer findet den schönsten ersten Satz, wem gelingt der beste Übergang, wer hat das perfekte Zitat, wer den rundesten Schluss? Hauptsache stylisch. Stil über alles. Reporter zu werden, war das höchste. Rechercheur kam irgendwann dahinter.

Im besten Fall aber besteht im Journalismus darin, herauszufinden, was passiert und zu prüfen, ob das gesellschaftlich relevant ist. Was sich hinter PR, Werbung und Propaganda verbirgt. Was die Wahrheit ist. Anders als etwa in den USA aber wird hierzulande in der Journalistenausbildung die Recherche viel zu wenig und zu oberflächlich unterrichtet. Das erscheint noch zweifelhafter in Zeiten, in denen die digitale Technik in der Recherche eine unfassbare Fülle an neuen Anforderungen stellt und Chancen bietet, Sachverhalte zu ermitteln, die zu früheren Zeiten verborgen geblieben wären.

Dass nun ausgerechnet der "Spiegel" vom dem nach den "Hitler-Tagebüchern" wohl größte Medienskandal heimgesucht wird, darf nicht verwundern. Geradezu seuchenartig hat sich in dem Blatt in den vergangen Jahren der Subjektivismus in Form von Ich-Geschichten, Ausarbeitung persönlicher Erlebnisse und privater Katastrophen wie Scheidungen und dergleichen mehr ausgebreitet. Diese Geschichten mussten vielfach als Surrogat und Platzhalter für jene großen Dossiers, Hintergrundgeschichten und Investigativrecherchen einspringen, für die der "Spiegel" seinen Ruf erworben hat, die es aber nun schon länger immer weniger gibt.

Das hat dem "Spiegel" seinen Markenkern - das Geschäft mit Neuigkeiten - zusehends verwässert. Dem Trio um Chefredakteur Stefan Klusmann stellt sich die Aufgabe, neben der ohnehin schon herausfordernden Fusion von Print und Online, aus dem Magazin wieder ein Nachrichtenmagazin zu machen.

Doch nicht allein der "Spiegel" ist gefordert, in der ganzen Branche muss ein Umdenken einsetzen. Es ist notwendig, zu erkennen, dass die schöne Verpackung einer News nichts ist. Bevor mal wieder jemand den schönen ersten Satz finden möchte, sollte er wissen, was an seiner Geschichte stimmt oder nicht stimmt.

Wenn der Fall Relotius ein Gutes hat, dann, dass er zeigt, wie wichtig Recherche ist. Dass sie die Grundlage ist, worauf alles fußt. Das, was vor allem anderen kommt. Dafür müssen die Verlage und die Rundfunkanstalten endlich bereit sein, in Recherche auszubilden. In den Journalistenschulen, den Universitäten und den Ausbildungsstätten der Volontäre müssen die Lehrpläne umgeschrieben werden. Es ist Zeit, wenn wir nicht den nächsten Relotius heranwachsen sehen wollen.

Zum Autor: Wolfgang Messner ist Chefredakteur des Wirtschaftsjournalist, der wie kress.de im Medienfachverlag Oberauer erscheint, sowie der Gründer und Geschäftsführer von ProRecherche, einer  gemeinnützigen Lehrredaktion für investigative Recherche.

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H.Georg Eiker

H.Georg Eiker

Eiker - Coaching & Strategische Politikberatung - Medientraining
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22.12.2018
!

When Hybris & Narzissmus meets "Zeitgeist", unterfüttert mit dem Konzept des Gesinnungsjournalismus für die "Gute Sache", dann kommt "so etwas" folgerichtig &zwangsläufig dabei heraus.
H.Georg Eiker


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