"Lügenpresse" ist kein ehrabschneidender Vorwurf mehr. Selbst Wohlmeinende kommentieren: "Da ist ja wohl was dran - oder?" Nach den Fälschungen in Reportagen von Claas Relotius würden ihn selbst Redakteure gerne nutzen, wenn er nicht von AfD und Pegida erfunden und verbreitet wäre. Selbst renommierte Journalisten schreiben lang und schlecht über die Medien, als habe Relotius in Tateinheit mit verschwörerischen "Schönschreibern" beim "Spiegel" den Untergang der Zunft eingeleitet.
Zeitungsverleger-Präsident und "Springer"-Chef Mathias Mathias Döpfner sieht das Grundvertrauen in Medien erschüttert und verlangt von der "Branche, etwas mehr Unabhängigkeit und Selbstkritik zu beweisen". So fragen die Bürger: Kann man den Journalisten noch vertrauen? Und um die Bürger geht es, die Journalisten den Verfassungsauftrag gegeben haben, objektiv zu informieren, die Mächtigen zu kontrollieren, die Wahrheit zu schreiben und nichts zu verschweigen, was der Wähler erfahren muss.
Dass Journalisten oft desinformieren, ist eine alte Klage: Sie hat den Aufstieg der 68er begleitet und begleitet heute den Aufstieg von Populisten. Vor dreißig Jahren schrieb Wolf Schneider sein Buch "Die tägliche Desinformation. Wie uns Massenmedien in die Irre führen." Es wurde gelobt, erlebte ein paar Auflagen, aber erzeugte keine Wellen - obwohl Schneider härter mit Journalisten ins Gericht ging als jeder Pegida-Redner heute.
Schneiders Analyse aus den siebziger Jahren kann man in Teilen lesen wie eine vorweggenommene Kritik am Fälscher Claas Relotius:
"Journalisten lügen, weil sie unter Erfolgszwang stehen und von ihren Chefs oder Auftraggebern unter Druck gesetzt werden, interessanter zu schreiben als die Konkurrenz. Sie lügen, weil sie nur Informationen verkaufen können, die andere nicht haben. Sie lügen, weil sie in der Redaktionshierarchie aufsteigen wollen, weil sie mit ihrer Geschichte auf der ersten Seite stehen wollen, weil sie den Pulitzerpreis bekommen wollen. Und sie schlittern in die Lüge hinein, weil sie mit Übertreibungen begonnen haben und das Übertriebene immer noch weiter gesteigert werden muss, damit es interessant bleibt."
Dies Schneider-Zitat wurde gerne von Verächtern des freien Journalismus genutzt wie von Udo Ulfkotte in seinem "So lügen Journalisten"-Buch; unterschlagen wird ebenso gerne Schneiders Feststellung: Trotzdem "gehören wir zu den bestinformierten Ländern der Erde." Ein Bestseller gelang dem Ex-FAZ-Redakteur Ulfkotte in den achtziger Jahren mit seinem Buch "Gekaufte Journalisten": Es raste in den Verkaufslisten nach oben, obwohl es im Vergleich zu Schneiders Buch eine Sammlung von Verschwörungs-Theorien und Un- und Halbwahrheiten war. Als Ulfkottes Buch erschien, hatte sich der Wind schon gedreht. Warum?
Journalisten und ihre Verlage hatten durch das Internet ihr Monopol verloren, Nachrichten zu verbreiten, Themen zu setzen und Meinungen zu formulieren. Im Netz kann jeder schreiben, was er will, und er kann, mit ein wenig Geschick, viele Menschen erreichen, ohne Millionen in eine Druckmaschine zu investieren.
Der Frühling der sozialen Netzwerke wärmte die Herzen: Jeder schreibt für jeden, und so kommt die Wahrheit ans Licht einer befreiten Welt. Das Netz ist das Netz der Wahrheit! Christoph Keese erzählt in seinem neuen Buch "Disrupt yourself" von einer Diskussion vor zwanzig Jahren. Er hat mit anderen die Financial Times Deutschland gegründet und wird von Bloggern zu einem Kongress über die "Medien der Zukunft" eingeladen. In einem voll besetzten Berliner Saal schlägt ihm eine feindselige Stimmung entgegen: "Nachrichten müssen aus dem Klammergriff der kleinen Kaste von Journalisten befreit werden. Es ist Zeit für mehr Demokratie", sagt einer. "Journalisten sind Torhüter, die keiner mehr braucht", sagt ein anderer. Als Keese den Wert des klassischen Journalismus verteidigt, lachen ihn Hunderte von Zuhörern aus. Eine Zuhörerin meldet sich: "Sie merken gar nicht, was sich um Sie herum alles verändert. Die Welt braucht sie nicht mehr." Sie beendet eine kurze Debatte mit Keese mit dem Satz: "Blogs kommen der Wahrheit viel näher als Redaktionen." Das Gegenteil ist eingetreten.
Noch nie waren so viele Unwahrheiten, Gerüchte und Verleumdungen in der Welt wie heute, die auch Wahlen und Wähler manipulieren; der mächtigste Mann der Welt nutzt das Netz für seine Lügen, die 57 Millionen Menschen abonniert haben, Roboter und Bots beeinflussen die öffentliche Meinung, und ein Schulbub hackt das Netz, dringt in das Privatleben von Politikern ein und verwirrt eine große Nation über Tage hinweg. Und in dem Chaos hat sich Pegida eingenistet und mit anderen Journalisten den Boden unter den Füßen weggezogen: Vertrauen - das war einmal.
Die Bloggerin sagte vor zwanzig Jahren: "Die Welt braucht sie nicht mehr" und zeigte auf die Journalisten. Zwanzig Jahre später braucht die Welt Journalisten dringender als je zuvor. Die Bürger wissen nicht mehr, was ist wahr und was eine Lüge; sie wissen nicht mehr, was ist wichtig und was unwichtig, sie wissen nicht mehr, wem sie vertrauen können.
Wissen sie es wirklich nicht mehr? Welchen Institutionen vertrauen denn noch die Bürger? Eine internationale Umfrage, der "Global Trust Report", brachte 2017 dieses Ergebnis: Vorne mit 85 Prozent liegt die Polizei, ziemlich weit unten mit 45 Prozent liegen die Medien. Nur - wen meinen die Leute, wenn sie nach "den Medien" gefragt werden?
Wenn Interviewer differenzierter fragen, schneiden Zeitungen deutlich besser ab als etwa die sozialen Netzwerke oder der Boulevard. Die "Forschungsgruppe Wahlen" fragte 2017 in einer repräsentativen Umfrage die Bürger: Vertrauen sie ihren Lokal- und Regionalzeitungen? Erstaunlich ist das Ergebnis nicht:
Regionale Tageszeitungen bekommen das größte Vertrauen. Auf einer Skala - von plus 5 für exzellent bis minus 5 für katastrophal - stehen die Regionalzeitungen mit 2,4 an erster Stelle; es folgen die nationalen Zeitungen (2,2), Magazine wie der "Spiegel" (2,1) und das Fernsehen (1,9). Die sozialen Netzwerke liegen im Frostbereich der Skala bei minus 1,5.
Überraschend ist das Ergebnis bei den digitalen Ureinwohnern: Sie bewerten die Zeitungen, die regionalen wie die nationalen, mit 2,5 noch besser als die analoge Generation; auch die sozialen Netzwerke schneiden bei den jungen Leuten mit minus 1,5 so schlecht ab wie bei den Älteren. Über die 16- bis 29-Jährigen urteilt die "Forschungsgruppe Wahlen": "Sie haben ein relativ großes Vertrauen in die Qualitätsmedien und eine größere Skepsis gegenüber den Boulevardmedien und auch gegenüber den sozialen Medien."
Offene, liberale Gesellschaften leben vom Vertrauen der Bürger in ihre Medien. In relativ kurzer Zeit haben die meisten den sozialen Netzen und fragwürdigen Bloggern das Vertrauen wieder entzogen und sind zurückgekehrt zu den Marken, die sie kennen.
Auch wenn die Fälschungen des Claas Relotius schwer wiegen, so werden sie das Vertrauen der Bürger aus drei Gründen nicht grundlegend erschüttern:
1. Der "Spiegel", in dem die meisten Fälschungen erschienen, hat seinen Redakteur nach einigen Irrläufen selbst entlarvt, darüber ausführlich berichtet, den zuständigen Dokumentaristen in die Altersteilzeit geschickt und zwei designierte Chefredakteure in eine Warteschleife; über die Konsequenzen aus der Affäre will der "Spiegel" mit Hilfe von unabhängigen Profis ausführlich berichten.
2. Relotius hat durchweg Reportagen gefälscht, die außerhalb von Deutschland spielen. Keine Wahl ist bei uns manipuliert worden, kein Politiker beschädigt, kein Bürger verletzt. Da Relotius' Recherchen im Ausland stattfanden, tatsächlich und angeblich, blieben die Fälschungen wohl lange unentdeckt.
3. Im Lokalen sind Fälschungen so gut wie unmöglich; zumindest werden sie von den Lesern schnell enttarnt. "Jede Ungenauigkeit, jedes verdichtete Zitat, jede unklare Beschreibung fällt auf - weil die Menschen, über die wir berichten, hier leben und es sofort zurückspielen", schreibt Hannah Suppa, Chefredakteurin der Märkischen Allgemeinen, in einem Kommentar zur Relotius-Affäre. Sie ist skeptisch gegenüber Erzähl-Formaten im Journalismus: "Die Medienbranche hat die Erzählung zuletzt immer häufiger zum Qualitätskriterium stilisiert." Dagegen meint Stefan Boes, Autor des Echtzeit-Blogs: "Wer behauptet, die Wirklichkeit präsentiere sich selten als Geschichte, dem empfehle ich ein Praktikum bei einer Lokalzeitung. Überall wo Menschen sind, gibt es gute Geschichten."
Die Menschen mögen Reportagen, sie mögen Geschichten - aber wahr müssen sie sein, unbedingt.
Info
Wolf Schneiders "Die tägliche Desinformation" ist nur noch antiquarisch (für wenige Euro) zu bekommen.
Christoph Keeses "Disrupt yourself" erscheint im Penguin-Verlag (288 Seiten, 22 Euro)
Der Autor
Paul-Josef Raue war Laudator für die Relotius-Reportage aus dem Nordirak beim Peter-Scholl-Latour-Preis 2018; davon berichtete er im Dezember in dieser Kolumne. Raue war 35 Jahre lang Chefredakteur in Erfurt, Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main, Marburg und Eisenach. Mit Wolf Schneider gibt er bei Rowohlt das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus. Im Klartext-Verlag erscheint seine Biografie des Genossenschafts-Gründers Friedrich-Wilhelm Raiffeisen: "Ein Leben für eine gerechte Gesellschaft". Zuvor erschienen "Die unvollendete Revolution" über die deutsch-deutsche Geschichte und "Luthers Sprach-Lehre". Wenn er nicht schreibt, berät Raue Verlage und Redaktionen und lehrt an einigen Hochschulen.
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