Zeitungen: Wovor Sigmar Gabriel warnt

 

"Zeitungen sind ein unverzichtbarer Bestandteil unserer freien Gesellschaft. Ich würde sie komplett von der Mehrwertsteuer befreien", sagt Ex-Außenminister Sigmar Gabriel in einem Interview mit Paul-Josef Raue. Den Rückzug aus ländlichen Regionen hielte er für einen verhängnisvollen Fehler.

Große Redaktionen ticken ähnlich wie große Parteien: Die meisten Politiker fangen unten an, in den Orts- oder Jugendverbänden, und träumen von der großen Karriere in Düsseldorf, Kiel oder Berlin oder Brüssel. Gerhard Schröder, der früh am Tor des Kanzleramts rüttelte, ist das Vorbild: Erst im Ortsverein Plakate kleben, später in Berlin das Land und die Welt verändern.

Dem entsprechen die Träume mancher Redakteure, die im Lokalen anfangen und als Korrespondent in  Berlin oder Washington die Welt erklären und ein Stück verändern wollen. Das Kommunale und das Lokale gelten als gute Startposition für eine Karriere, die weit nach oben führen kann. Selten findet man  bei den Mächtigen, ob in Politik oder Medien, noch eine Sehnsucht nach den Marktplätzen in der Provinz, nach dem spontanen Gespräch mit den einfachen Bürgern.

"Gabriels Traum? Bürgermeister von Goslar", titelte Rainer Sliepen, Mitarbeiter der "Wolfenbütteler Zeitung", seinen Bericht über einen Auftritt des Ex-Außenministers. Das Lob der Kommunalpolitik erstaunte den lokalen Journalisten ebenso wie die Zuhörer eines 90-minütigen Gesprächs im Lessingtheater, "das aus allen Nähten platzte".  Der Sehnsuchts-Bürgermeister von Goslar bekam langen Szenen-Applaus, mehr als nach seinen Anekdoten über Rotwein-Treffen mit Kanzlerin Merkel, einer Tee-Zeremonie im heimischen Wintergarten mit dem türkischen Außenminister oder über die Verantwortung Europas für die Welt.

"In meinem Leben war das Außenministerium das Interessanteste gewesen, das Schönste war eigentlich die Kommunalpolitik", erzählte Gabriel. "Dort merkt man sofort: Funktioniert es oder funktioniert es nicht - im Gegensatz zur Landes- und Bundespolitik, wo es ewig dauert, bis sie etwas umsetzen. In der  Kommunalpolitik können sie nicht sagen: Jetzt gründen wir mal einen Arbeitskreis und treffen uns in drei Jahren wieder. Die Leute wollen, dass sie das jetzt machen und hauen sie an, wenn sie das nächste Mal über den Marktplatz gehen."

Gabriel berichtete aus den frühen Jahren als Goslarer Kommunalpolitiker, wie ihn das Elend der Obdachlosen gerührt und er in kurzer Zeit fast alle in Wohnungen und in Arbeit gebracht hatte. "Das ist das Beste, die Lust daran, etwas zu verändern." Nach dem "Wolfenbütteler Dialog" fragte ich Gabriel in einem kurzen Interview, das wir per Mail führten:

Wenn Sie als Journalist arbeiten würden: Lieber als Chefredakteur? Als Auslands-Korrespondent? Oder als Lokalchef?

Sigmar Gabriel: Als jüngerer Redakteur würde ich bestimmt lieber ins Ausland gehen. Und zwar alle paar Jahre in ein anderes Land. Und bestimmt würde ich mit der Zeit meine Heimat immer mehr vermissen und am Ende meines Berufslebens gern in einer Lokalzeitung arbeiten.  Das Große und das Kleine ist im Leben wichtig. Im wahren Leben ist es sicher eher umgekehrt.

Es gibt Planspiele bei Verlagen, die Zeitung in ländlichen Regionen nicht mehr auszutragen, sondern allein digital anzubieten. Welche Folgen hätte ein solcher Rückzug für die Gesellschaft und die Demokratie in den Städten und Dörfern?

Ich würde das für einen verhängnisvollen Fehler halten. Und zwar sowohl aus Sicht der Verlage, wie aus Sicht der Leser und auch mit Blick auf unsere Demokratie. Wo Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen sich vor Ort zurückgezogen und zentralisiert haben, wurden sie am Ende schwächer und nicht stärker.
Es werden dann im wahrsten Sinne des Wortes "Allerwelts-Zeitungen". Es fehlt dann ein wesentliches Differenzierungsmerkmal. Die Zeitung wird austauschbar, egal ob auf Papier oder Online. Für die Leserinnen und Leser fehlt dann die Information über die Orte, an denen sie leben. Was passiert in der Stadt? Welche Kulturangebote gibt es? Wie sieht es an Schulen und in Kindergärten aus? Wo finden sich Menschen mit gemeinsamen Interessen zusammen? Das und vieles mehr sind doch wichtig, zu erfahren.

Und für die Demokratie wird es besonders kritisch: wo erfahre ich dann eigentlich etwas über das politische Geschehen, die unterschiedlichen Auffassungen der Parteien und ihrer Vertreterinnen und Vertreter vor Ort? Wo soll ich meine Meinung für die kommende Kommunal- und Landtagswahl bilden?

Thüringens Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne) erinnert an die vor dreißig Jahren erkämpfte Meinungsfreiheit und die Rolle der Presse als "notwendigen Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält".  Was kommt auf den Osten zu, wenn die Lokalzeitungen verschwinden?

Die freie Presse ist gewiss nicht der einzige "Kitt", der die Gesellschaft zusammen hält, aber ein ganz wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil davon. Wo die Lokalberichterstattung fehlt, wird der Raum frei für Desinformation und Propaganda. Es fehlt dann nicht nur an Wissen, sondern oft auch an Gewissen.

Rundfunk und Fernsehen verfügen über Milliarden schwere Etats, aber haben im Lokalen keine Redaktionen. Dagegen müssen sich Zeitungen selber finanzieren.  Was muss passieren, wenn Verlage die Zustellung nicht mehr bezahlen können oder wollen und die Druckmaschinen stoppen?

Ich würde z.B. die Zeitungen komplett von der Mehrwertsteuer befreien. Sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil unserer freien Gesellschaft.

Fällt das Medien-System im digitalen Zeitalter langsam aus der Zeit: Einerseits öffentlich-rechtliches Fernsehen, andererseits  privatwirtschaftliche Zeitungen?

Das glaube ich nicht. Beide Systeme müssen sich auch auf den neuen Kanälen tummeln und dürfen die digitalen Marktplätze nicht vernachlässigen. Das tun sie aber nach meinem Gefühl auch nicht. Es ist eher die Frage, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich noch ausreichend von den privaten Sendern unterscheidet. Auf allen Kanälen finden sich ständig Wiederholungen und ein ähnliches Angebot. Ich weiß nicht, wie viele Tatorte und regionale Krimis es pro Woche eigentlich noch geben soll? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nicht auch andere interessante und lohnenswerte TV-Angebote gibt.

Das 90-Minuten-Gespräch beim "Wolfenbütteler Dialog" beendet Sigmar Gabriel entspannt: Es war schön "nicht mehr nur über die 10, 15 Prozent Spinner zu reden". Beifall. "Wenn Du morgens die Zeitung liest und trittst dann aus der Haustür, triffst Du lauter normale Leute. Denen müssen wir Mut machen." Langer Beifall.

Info

Um alle Spekulationen zu erschweren, Gabriel wolle wirklich Bürgermeister in Goslar werden: Der Amtsinhaber, Mitglied der CDU, ist bis 2022 gewählt. Da Gabriel im Herbst 60 Jahre alt wird, wäre er 2022 dann  63 Jahre alt. Theoretisch kann jeder bis zum 65. Geburtstag für fünf Jahre gewählt werden.

Der Autor

Paul-Josef Raue moderierte das Gespräch mit Sigmar Gabriel beim "Wolfenbütteler Dialog", der vier Mal pro Spielzeit mit wechselnden Gästen im Lessing-Theater stattfindet. Raue war 35 Jahre lang Chefredakteur in Erfurt, Braunschweig, Magdeburg, Frankfurt/Main, Marburg  und Eisenach. Mit Wolf Schneider gibt er bei Rowohlt das Standard-Werk "Das neue Handbuch des Journalismus" heraus.  Im Klartext-Verlag erscheint seine Biografie des Genossenschafts-Gründers Friedrich-Wilhelm Raiffeisen: "Ein Leben für eine gerechte Gesellschaft". Zuvor erschienen "Die unvollendete Revolution" über die deutsch-deutsche Geschichte und  "Luthers Sprach-Lehre". Wenn er nicht schreibt, berät Raue Verlage und Redaktionen und lehrt an einigen Hochschulen.

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