Die Magazin-Redakteurin hat sehr schöne Gummibäume, der Kollege aus der Politik einen beeindruckenden Kachelofen, und wirklich alle Kinder sind ganz bezaubernd. Nie war sich die Redaktion von ZEIT ONLINE so nah wie in den vergangenen Tagen: Jeden Morgen, Mittag und Abend sehen wir uns in unseren Küchen, Wohn- und Schlafzimmern. Noch nie waren wir uns bei der Arbeit so fern, denn wir blicken, wie viele derzeit, nur noch per Videokonferenz (siehe Bildergalerie) in das Leben der anderen.
Bereits am 11. März haben wir unsere Redaktion ins Homeoffice verlegt, 12 Tage vor dem nun geltenden Kontaktverbot. Hundert Schreibtische in unserem Newsroom sind leer (siehe Bildergalerie). Derweil hat sich die Reichweite von ZEIT ONLINE vervielfacht: Fast sieben Millionen tägliche Besuche verzeichneten wir schon, in ruhigeren Zeiten waren es zwei bis drei. Auch die verkaufte Kiosk-Auflage der gedruckten ZEIT könnte sich nach erster Einschätzung fast verdoppelt haben.
Wir arbeiten nicht in Krankenhäusern und Arztpraxen, wir betreiben keine Supermärkte, wir sind keine Polizisten und Feuerwehrfrauen, wir stellen keine Waren her und liefern auch nichts aus - all jenen, die den aktuellen Notbetrieb unserer Gesellschaft aufrechterhalten und dabei ihre eigene Gesundheit riskieren, gilt unser größter Respekt.
Aber auch aktuelle Informationen und deren fundierte Einschätzung sind essenziell für das Funktionieren unseres Gemeinwesens. Sie sind so gefragt wie noch nie in der Historie der deutschen Onlinemedien. Unsere Aufgabe ist es, unsere Leserinnen und Leser so gut wie irgend möglich zu informieren. Geht das unter den aktuellen Umständen? Und wie?
Läuft alles?
Unsere mit Abstand größte professionelle Sorge hat sich bisher nicht bestätigt: Die Technik funktioniert. Der anspruchsvolle Umzug nach Hause von fast 200 Kolleginnen und Kollegen in der Onlineredaktion und im digitalen Verlag hat viel besser geklappt als befürchtet. Die Arbeit im Redaktionssystem von ZEIT ONLINE, in dem unsere Beiträge entstehen, läuft von zu Hause aus fast genauso gut. Bereits Anfang März, als die heutige Situation noch schwer vorstellbar war, hatten wir uns gefragt, was im Falle einer Pandemie theoretisch auf uns zukäme, unsere Technik hat daraufhin die Infrastruktur sanft umgestellt und ausgebaut.
Den eigentlichen Redaktionsbetrieb organisieren wir schon einige Jahre mit der Kollaborations-Software Slack. Sie hat in vielen Fällen längst den Gang durch den Newsroom zum Tisch der Kollegin ersetzt - und trägt heute entscheidend dazu bei, dass trotz Isolation kaum zusätzliches Chaos entsteht.
Die Homepage koordinieren wir nun aus dem Homeoffice, ebenso unser permanentes Corona-Liveblog, gemeinsame Medizin-Recherchen und Datenvisualisierungen, aktuelle Video-, Podcast- und Fotoproduktionen, Reportagen, FAQs, Flyer und Leitfäden. Die vielen hilfsbereiten Print-Kolleginnen, die sich bei den beanspruchten Onlinern meldeten, wurden ad hoc in den digitalen Alltag integriert und arbeiten nun von Ferne mit. Der Arbeitsort spielt spätestens jetzt keine Rolle mehr. Auch die Zusammenarbeit mit unserem Verlag läuft gut. Seit nun alle, wirklich alle per Slack und Video erreichbar sind, hat sich die Diskussionskultur in unserem traditionell debattenfreudigen Haus hie und da sogar noch einmal verbessert.
Die Ressort- und Gremiensitzungen, auch unsere großen gemeinsamen Konferenzen mit 50, 60 Teilnehmenden gibt es weiterhin - jetzt finden sie in Video-Konferenzsystemen (siehe Bildergalerie) mit Namen wie Starleaf oder Zoom statt und laufen erstaunlich flüssig, obwohl ganz Deutschland derzeit zu Hause streamt. Auch das hatten wir nicht für möglich gehalten.
Schließlich: Auch unsere Print-Redaktion und der ZEIT-Verlag haben ihre Arbeit ins Homeoffice verlagert, soweit es irgend möglich ist. Nur noch wenige Kolleginnen und Kollegen kommen für das Nötigste etwa ins Hamburger Helmut-Schmidt-Haus und beachten beim Blattmachen die empfohlenen Sicherheitsmaßnahmen.
Wie berichten wir über die Ausnahmesituation?
Unser größtes Problem bei unserer Arbeit ist also derzeit noch nicht die aktuelle Lage selbst - eher vielleicht, wie wir angemessen über sie berichten. Die Ausbreitung eines Virus ist nicht exakt vorhersagbar. Auch deshalb kann sich selbst die Experten-Einschätzung der Lage innerhalb kurzer Zeit ändern - für die Leserinnen und Leser minutenaktueller Medien ist das auf den ersten Blick verwirrend. Derlei Verwirrung spielt Pseudo-Experten, Populisten und Propagandisten in die Hände. Deren größten Unsinn versuchen wir immer wieder zu korrigieren.
Auch deshalb hat sich unsere meinungsfreudige Onlineredaktion in diesen Zeiten etwas Zurückhaltung verordnet und sucht weniger nach originellen Standpunkten als nach Erkenntnis und Evidenz. Alle Beiträge unseres Wissen-Ressorts etwa sind trotz des erheblich höheren Zeitdrucks, wie sonst auch, durch zahlreiche Gespräche mit den führenden Experten, durch wissenschaftliche Quellen (die wir stets nennen) und mehrfache interne Prüfungen abgesichert.
Manchmal ist die Kommunikation der Fachgremien und Organisationen so unübersichtlich und der Wissensstand so kompliziert, dass wir länger als nur ein oder zwei Stunden brauchen, um zu reagieren, und dann weiter ausholen müssen - wie etwa im Fall der vermeintlichen und tatsächlichen Schädlichkeit von Ibuprofen für Patientinnen und Patienten mit Corona-Diagnose oder einem angeblich unendlichen Ausnahmezustand.
In Zeiten, in denen Millionen von Menschen aus dem Alltag in eine häusliche Isolation von unklarer Dauer wechseln, ist es außerdem wahrscheinlich, dass Behörden und Regierungen die Ziele ihres Handelns gelegentlich nur stückweise kommunizieren, um keine Panik auszulösen. Journalistinnen und Journalisten können - gegen ihren Willen - Teil dieser Kommunikationsstrategie werden. Wie etwa im Falle des Gesundheitsministeriums, das offensichtlich bereits geplante einschneidende Maßnahmen als Fake News dementierte, um sie wenig später zu verkünden.
Wie so oft sind Live-Medien in einem Dilemma: Wer über Beschlüsse und Aussagen der Regierungen berichtet, macht sich womöglich zum Teil einer intransparenten Agenda. Nicht zu berichten und den Hintergrund zunächst Tage zu prüfen ist, zumal in einer so besonderen Lage, kaum denkbar. Ein wirksames Gegenmittel gibt es nicht. Linderung verschafft nur, immer wieder auf diese Zwickmühle hinzuweisen.
Wie stark leidet Recherche in Zeiten körperlicher Distanz?
Die Organisation einer Redaktion lässt sich - zumindest vorübergehend - vollständig virtualisieren, Recherchen sicher nicht. Journalistinnen und Journalisten können sich mit ihrem Presseausweis auch während des Kontaktverbots vielfach etwas freier bewegen. Wir diskutieren aber nun über jeden Reporter und jede Fotografin, die wir aussenden, um über Deutschland in den Zeiten von Corona zu berichten, gilt es doch, das Herumreisen so gut es geht zu beschränken.
Wir fragen uns nun jedes Mal, ob eine Recherche vor Ort oder ein persönliches Interview wirklich wichtig genug ist, um andere Menschen einem gesundheitlichen Risiko auszusetzen - trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die unsere Kolleginnen und Kollegen dabei beachten. Der Anspruch ist hoch in Zeiten, in denen vor allem die Hilfe für die eigene Familie, das Besorgen von Essen, der Gang zur Arbeit oder zur Ärztin als essenziell gelten.
Während zumindest manche Telefontermine gerade einfacher werden, weil sich auch schwer zugängliche Informanten mit einem luftigen Terminkalender zu Hause langweilen, leidet also jener Teil unserer Arbeit, der mit der physischen Interaktion zwischen Menschen zu tun hat. Wirklich vertrauliche Hintergrundgespräche sind jetzt komplizierter, Gesprächspartner können wir nicht mehr in Podcast- oder Videostudios einladen, sondern schicken ihnen Audio-Aufnahmegeräte zu oder bitten um ein selbst aufgenommenes Video-Gespräch.
Dürfen wir wichtige Informationen nur Abonnenten zugänglich machen?
Die Unterstützung durch unsere Leserinnen und Leser ist eine tragende, in unsicheren Zeiten entscheidende wirtschaftliche Säule. Sie finanziert bereits heute zu einem Gutteil unsere Arbeit und wird in den kommenden Monaten noch wichtiger werden. Viele Anzeigen werden derzeit storniert und auch manche Nebengeschäfte unseres Verlags wie etwa Veranstaltungen und Reisen leiden unter der Krise.
Deshalb werden wir nicht einfach alle Inhalte offen zur Verfügung stellen - auch wenn dies selbst der bekannte Virologe Christian Drosten kürzlich forderte. Der überwiegende Teil der Beiträge, die wir zur Corona-Krise veröffentlichen, ist selbstverständlich frei. Nichts, was der konkreten Orientierung im neuen, unübersichtlichen Corona-Alltag dient, soll nur Abonnenten vorbehalten bleiben. Aber der Titelbeitrag der ZEIT etwa über die globale Suche nach einem Impfstoff ist nur für Abonnenten zugänglich, ebenso Bernd Ulrichs großer Essay zur Veränderung unserer Gesellschaft in den Zeiten von Corona.
Der verschlossene Artikel, der in der aktuellen Lage bisher die meisten Leser zu einem neuen Abonnement angeregt hat, hat allerdings auch uns verblüfft: Unser Genuss-Redakteur Jakob Pontius erklärt darin, was abseits der sinnlosen Hamsterkäufe "unbedingt in eine moderne Speisekammer gehört". Und was man damit kochen kann.
Geht kreativer Journalismus ohne Redaktionsräume?
Die Technik läuft, ebenso unsere Berichterstattung, und auch eine letzte professionelle Sorge hat sich bisher nicht bestätigt: Anspruchsvoller Journalismus braucht nicht zwingend einen physischen Ort, an dem er entstehen kann. Branchen-Legende Henri Nannen sagte einmal: "Journalismus ist Quatschen auf dem Flur." Auch Michael Naumann erklärte einst als Herausgeber der ZEIT: "Diese Zeitung wird zusammengequatscht." In Online-Newsrooms entstehen die Ideen für Projekte und Themen ebenfalls oft in gemeinsamen Konferenzen, aber eben auch beim Plausch an der Kaffeemaschine oder (im Fall von ZEIT ONLINE) bei einer Partie Tischtennis oder Kicker. Gleich zu Beginn der Homeoffice-Zeit haben wir deshalb versucht, uns neue Orte für ziellosen Diskurs zu schaffen.
So gibt es einen neuen Kanal #homeoffice in Slack, in dem ausschließlich hochwertiger Unsinn diskutiert werden darf. In einem Google-Hangout "Küche" kann man gemeinsam rauchen oder Kaffeepause machen, und das traditionelle "Bier um vier" am Freitag wird nun auf Zoom zelebriert. Damit wir vor unseren Bildschirmen im Laufe der nächsten Wochen nicht seltsam oder gar krank werden, gibt es auf Wunsch eine geleitete Morgenmeditation per Videoschalte. Mittags machen manche gemeinsam Nackenyoga.
Dass man sich wenigstens sieht, wenn man sich schon nicht treffen kann, hilft uns. Henri Nannen hätte mit uns vielleicht seine Freude daran, wie kreativ und zugleich strukturiert ein Team sein kann, das sich bloß von Ferne in die Wohnzimmer blickt - eine gute Erfahrung in diesem Ausnahmezustand, die kleine Start-ups und weltumspannende Konzerne lange vor uns gemacht haben.
Dass wir die neue Heimarbeit Wochen oder gar Monate durchhalten, während wir gleichzeitig unsere Kinder betreuen und uns um Angehörige und Nachbarn kümmern, können wir uns allerdings schwer vorstellen - wie derzeit sicher die meisten neuen Heimarbeiter in Deutschland.
Ein Gastbeitrag von Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit Online. Der Text ist auch im Transparenz-Blog "Glashaus" von Zeit Online erschienen. Was es damit auf sich hat, erfahren Sie hier.
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Zur Person: Jochen Wegner ist Chefredakteur von Zeit Online und Mitglied der Chefredaktion der Zeit. Der studierte Physiker und Philosoph erforschte die Chaostheorie des Gehirns, bevor er in den Journalismus wechselte. Er ist Mitgründer der politischen Dialog-Plattform "My Country talks", die bereits mehr als 120.000 Menschen in 35 Ländern genutzt haben, und hielt darüber einen TED-Talk. Jochen Wegner ist Mit-Gastgeber von "Alles gesagt?", einem der meistgehörten deutschen Podcasts. Er wurde von der Jury des Medium Magazin zum "Chefredakteur des Jahres" gewählt, als "Digital Leader in Gold" bei den Lead Awards ausgezeichnet sowie mit dem "Scoop Award" für digitalen Journalismus. Mit seinem Team erhielt er für "Deutschland spricht" einen "Grimme Online Award" und für "Europe talks" den "Jean Monnet Preis für europäische Verständigung".
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