Überall in den Redaktionen geht wochen- oder monatelanges Homeoffice langsam zu Ende. Manche sitzen bereits wieder an ihrem Schreibtisch. Der Wandkalender, der noch auf Mitte März stand, ist angepasst. Andere sollen noch einige Zeit zu Hause arbeiten oder die letzte Etappe der Kurzarbeit abwarten. Aber auch hier ist die Rückkehr absehbar. Für manchen Medienprofis ist es das unangenehme Ende einer Atempause: Zurück in der Redaktion und bei einem Chef, den sie sehr gern nur gelegentlich am Telefon hatten.
Mit Ihrem Vorgesetzten verbringen Sie tagsüber mehr Zeit als mit dem eigenen Partner. Es besteht, zumindest während des Arbeitsverhältnisses, eine Abhängigkeit: Sie sind darauf angewiesen, dass er gern und kooperativ mit Ihnen zusammenarbeitet. Er kann Ihnen wegen des hohen gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes in Deutschland zwar nicht einfach den Vertrag kündigen. Aber Ihnen das Leben sehr schwer machen. Mancher überlegt daher: Soll ich selbst gehen, wenn der Chef nicht auszuhalten ist? Dazu einige Gedanken.
Ohne Vertrauen wird jeder Arbeitstag zur Qual
In der Coaching-Praxis sind Schwierigkeiten mit dem direkten oder obersten Vorgesetzten (z. B. Chefredakteur, Geschäftsführer) häufig. Nachrichten- und Produktionsstress sowie schwierige Situationen wie der Auflagen- und Anzeigeneinbruch lassen sich gut bewältigen, wenn man sich versteht und gemeinsam an einer Lösung arbeitet. Fehlt das Vertrauen, der Wille und das Interesse daran, wird jeder Arbeitstag zur Qual. Mancher sieht jedem Gespräch oder Meeting mit seinem Chef mit Sorge, Angst oder Wut entgegen.
Vier Gründe werden von Medienprofis besonders oft genannt. Einige davon ergeben sich aus der besonderen Situation in einer Redaktion.
Ihr Vorgesetzter vertritt politische Positionen, die Ihnen persönlich zuwider sind. Es ist Ihnen peinlich, damit öffentlich in Verbindung gebracht zu werden, weil Sie im selben Medium erscheinen. Sie fürchten, dass Ihr eigener Ruf beschädigt wird.
Sie fühlen sich von Ihrem Vorgesetzten unerträglich unter Druck gesetzt. Beispiel: Er lehnt fast alle Themenangebote von Ihnen ab oder läßt Sie jeden Text immer wieder umschreiben, um Sie zu zermürben und Sie aus der Redaktion zu drängen.
Der Ton Ihres Vorgesetzten verletzt und belastet Sie. Sei es, dass er offen aggressiv und beleidigend ist - oder subtil spöttisch und stichelnd. Sie stehen vor der Wahl: Sich ständig mit Ihrem Chef streiten oder auszuhalten, dass Ihre Würde leidet.
Sie fühlen sich wie am Ende einer zerrütteten privaten Beziehung: Alles an Ihrem Vorgesetzten nervt Sie - wie er auftritt, wie er redet, was er lustig findet. Sie rufen sich zwar innerlich zur Ordnung, können Ihre Antipathie aber nicht mehr verbergen.
Soll man deswegen selbst kündigen oder einem Aufhebungsvertrag zustimmen, eventuell mit bezahlter Freistellung und Abfindung? Meine Empfehlung wäre: Keinesfalls unüberlegt und ohne Beratung, wenn Sie nicht bereits einen neuen Vertrag haben. Insbesondere, wenn Sie sich schon wegen Erschöpfung haben krankgeschrieben lassen, ist Ihr Urteilsvermögen nicht das objektivste. Ich sehe immer wieder, dass eine kopflose Flucht in die Kündigung zu langer Arbeitslosigkeit oder gar zu einem dauerhaften Karriereknick geführt hat.
Manches läßt sich aussitzen oder verzögern
In manchen Fällen kann es sich lohnen, die Sache einfach auszusitzen, wenn nämlich Sie oder Ihr Chef sich absehbar (in 6-12 Monaten) sowieso verändern werden. Beispiel: Er steht kurz vor einer Beförderung oder der Pensionierung - oder Sie planen einen Umzug, der sowieso einen neuen Job erfordern wird. Diese Strategie setzt voraus, dass Ihre Nerven relativ gut sind und Sie z. B. kritische Bemerkungen an sich abprallen lassen können. Ein aktives, harmonisches Privatleben hilft sehr, das auszugleichen und sich zu erholen.
Ähnliches gilt für die grundsätzlich beste Taktik: Hinter den Kulissen überlegt und geplant den Ausstieg oder Wechsel vorzubereiten. Ihre aktuelle Visitenkarte kann Ihnen noch viele Türen öffnen - wichtige Kontakte, abgekürzte Bewerbungsverfahren, direkte Zugänge. Sitzen Sie erst einmal arbeitslos zu Hause, ist das bedeutend schwieriger. Ohne akuten Zeit- und Finanzdruck verhandelt es sich auch bedeutend besser, als wenn Sie jedes Angebot annehmen müssen. Bedingung aber auch hierfür: Eine gewisse Nervenstärke.
Sehen Sie sich zu all dem außerstande, ist das keine Schande. Dann empfiehlt es sich zumindest, vorzugeben, dass Sie "sehr gerne" noch viele Jahre bleiben - wenn man Ihnen nicht vielleicht ein Abfindungsangebot macht. Haben Sie aber keine Illusionen, was die Höhe angeht. Ein typischer Wert wäre: Ein Zwölftel Ihres Jahresgehaltes multipliziert mit der Zahl Ihrer Vertragsjahre multipliziert mit dem Faktor 0,5. Wenn Sie den Faktor 0,75 oder gar 1 heraushandeln können, sind Sie gut. Ein Rechtsanspruch besteht nicht, und je nach persönlichem Steuersatz geht die Hälfte schnell wieder ans Finanzamt. Reich wird damit also selten jemand. Sechs-, gar siebenstellige Abfindungen sind die völlige Ausnahme.
Im Coaching werden derartige Situationen gemeinsam diskutiert und abgewogen. Dabei ist auch die persönliche Gefühlslage zu klären und zu ordnen: Was denkt man wirklich über seinen Vorgesetzten, wie will man dieses Kapitel auch innerlich beenden? Es ist verschenkte Lebensqualität, wenn sich jemand noch Jahre später darüber ärgert, wie ihn sein Chef behandelt hat, oder verbittert über diese Zeit ist. Männer scheinen mir da übrigens empfindsamer und nachtragender als Frauen. Für Ihren Arbeitgeber ist die Sache nach Vertragsende abgehakt. Für Sie sollte sie es deshalb auch sein.
Zum Autor: Attila Albert (geb. 1972) begleitet Medienprofis aus Journalismus, PR und Unternehmenskommunikation als Coach. Schwerpunkt: Berufliche und persönliche Neuorientierung. Im April 2020 erschien sein Buch: "Ich mach da nicht mehr mit" (Gräfe und Unzer). Mehr als 20 Jahre hat er selbst als Journalist gearbeitet, u.a. bei der "Freien Presse" in Chemnitz, "Bild" und "Blick". Für einen Schweizer Industriekonzern baute er die globale Marketingkommunikation mit auf. Er hat Betriebswirtschaft und Webentwicklung studiert.
Kommentar hinzufügen ×
Hinweis zu Ihrem Kommentar
Die Beiträge nicht eingeloggter Nutzer werden von der Redaktion geprüft und innerhalb der nächsten 24 Stunden freigeschaltet.
Wir bitten um Ihr Verständnis.