Helmut Markwort befindet: Der Respekt vor Fantasie und journalistischer Kreativität ist in Gütersloh unterentwickelt

27.02.2023
 

Focus-Gründungschefredakteur Helmut Markwort hat in seiner journalistischen Laufbahn zweimal für Gruner + Jahr gearbeitet. Auch deshalb gehen ihm die aktuellen Entwicklungen am Baumwall nah, wie er in seinem Focus-"Tagebuch" schreibt.

Helmut Markwort war in den sechziger Jahren Reporter und Korrespondent des Stern. Damals erlebte er den Chefredakteur Henri Nannen. Nichts in der Welt sei Nannen über sein Blatt gegangen: "Mit der Wucht seiner Persönlichkeit und seiner erzählerischen Kraft steuerte er den Vergnügungsdampfer Stern mit politischen Beibooten zu größter Bedeutung. Zuerst fragte er nach der guten Geschichte. Die Kosten sah er sich hinterher an", erinnert sich Markwort in seinem aktuellen "Tagebuch" im Focus.

Der Gründungschefredakteur des Burda-Magazins hat auch ein anderes G+J-Erlebnis aufgeschrieben, das zu seinen erfreulichsten Erinnerungen gehöre. Als junger Chefredakteur sei er in Streit geraten mit einem Geschäftsführer, der ihn gängeln wollte: "Die Auseinandersetzung eskalierte derart, dass wir schließlich beide im Hamburger Büro des Verlegers John Jahr landeten. Er hörte sich unsere Standpunkte an und bat uns schließlich ans Fenster. Er zeigte hinunter auf das Menschengewimmel in den Straßen und sagte zu meinem Kontrahenten: 'Da unten laufen ganz viele Manager herum, aber nur ganz wenige kreative Chefredakteure.'"

Das Wichtigste aus den Medien - einmal am Tag: Jetzt den kressexpress bestellen

Von diesem Geist und dieser Haltung habe John Jahr den Bertelsmännern leider nichts mitverkaufen können, als er seine Anteile der Firma in Gütersloh übertrug. Der Respekt vor Fantasie und journalistischer Kreativität sei dort unterentwickelt. Dafür gebe es in den Businessplänen keine Formel, stellt Markwort fest.

Es tue ihm weh, wenn er sehe, wie die Controllerzentrale in Gütersloh den einst bedeutenden Verlag Gruner + Jahr vernichte. Wie sie Hunderte von Mitarbeitern feuere, Zeitschriften einstelle oder verkaufe. Gruner + Jahr werde gelöscht. Wer das Desaster überstehe, dürfe als Mitarbeiter von RTL weiterexistieren, so Marktworts Sicht. Dieser "Kahlschlag" berühre ihn als Bürger Deutschlands, als Wettbewerber, als Leser und als Kollege von vielen Opfern".

Hintergrund: Vor knapp zwei Wochen hatte der Medienkonzern RTL Deutschland, der die Magazinsparte des Hamburger Verlagshauses Gruner + Jahr zum Jahr 2022 übernommen hatte, nach einer Portfolioüberprüfung das Aus von mehr als 20 Zeitschriften bekanntgemacht. Zudem sollen mehrere Magazine verkauft werden, insgesamt würden rund 700 der 1900 Stellen wegfallen. RTL will sich auf Kernmarken wie Stern oder Geo konzentrieren und dort ins Digitale investieren. RTL erhofft sich Synergien beider Häuser. Gruner + Jahr und RTL zählen zum Portfolio von Bertelsmann in Gütersloh.

Exklusive Storys und aktuelle Personalien aus der Medien- und Kommunikationsbranche gibt es von Montag bis Freitag in unserem kressexpress. Kostenlos unseren Newsletter abonnieren.

Ihre Kommentare
Kopf
Inhalt konnte nicht geladen werden.